Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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und die allgemeine Hochschulreife erwerben durfte, damit seinen nach Herrn Mäuthis’ Einschätzung vielversprechenden, aber noch ungerichteten Begabungen eine freie Entwicklung ermöglicht würde; wie er später erfuhr, hatte er deshalb so lange warten müssen, weil sein Lehrer eine Weile gebraucht hatte, bis er Herrn Wissmann von diesem Experiment mit ungewisser Zielrichtung und nicht sofort erkennbarer praktischer Verwertbarkeit hatte überzeugen können.

      Beim Abschied schließlich war ihm noch eingefallen zu fragen, warum Herr Wissman „so etwas eigentlich tue“? Er könne doch auch ebenso gut seinen Reichtum ganz für sich und seine eigene Familie behalten, und niemand fände etwas dabei? Wenn er die Erklärung auch nicht vollständig begriff, so beeindruckte sie ihn doch und prägte sich ihm dauerhaft ein: Drei Generationen, seit sein Großvater vielleicht ähnlich arm, wie es Johannes und seine Leute jetzt seien, in die Stadt gekommen war, hätten an dem Auf- und Ausbau der Firma gearbeitet und das Vermögen vergrößert, bis es zu dem jetzigen Wohlstand angewachsen sei und vielen Menschen ein Auskommen biete. Sein eigener Sohn allerdings zeige nun Tendenzen, selbst nichts mehr für Erhalt und womöglich Erweiterung des Betriebes tun, sondern vielmehr aus dem Erreichten ein luxuriöses, bequemes Leben führen zu wollen. Ihm, dem Vater, war es daraufhin wichtig gewesen, wenigstens einen Teil des Vermögens so zu sichern, dass es für des Filius Verschwendungssucht unzugänglich wäre. Und mit so einer Stiftung zur Förderung begabter Kinder aus den armen Schichten hatte er gehofft, die Vergangenheit seiner eigenen bescheidenen Herkunft, die Potentiale der Gegenwart und die Zukunft zum Wohle der Einzelnen und der Allgemeinheit am besten zusammenbinden zu können.

      Nun saß er zuhause auf der steinernen Schwelle vor der Tür, den Kopf in die eine Hand gestützt; mit der anderen griff er geistesabwesend nach den Kieselsteinen, die in der Ecke daneben aufgeschüttet lagen, warf einen nach dem anderen vor sich hin, sah und sah nicht zu, wie sie sich an Grasbüscheln oder anderen Steinen fingen und liegen blieben, hörte und hörte nicht auf das klickende Geräusch, das sie dabei machten, und wartete, dass er endlich sein Mitteilungsbedürfnis befriedigen und so diesen eigenartigen Schwebezustand abschütteln könnte. Seine Mutter war von ihren Besorgungen noch nicht zurück gewesen, als er heimgekommen war. Daraufhin hatte er sich gleich aufgemacht, um Nomi zu treffen und dann eben ihr als erstes vom Ausgang der Unternehmung zu berichten. Er war hinunter gegangen zu der Stelle am Kanal, wo sie gestern zusammengesessen hatten, aber sie war nicht da. Natürlich, sagte er sich, es war ja schließlich auch gestern das erste Mal und reiner Zufall gewesen, dass er sie dort angetroffen hatte. Er ging wieder zurück, dabei schaute er sich suchend um, sah aber niemanden, mit dem er jetzt hätte reden wollen. Rudolph, Elsa, Karl und die anderen gingen wohl jeder für sich ihren verschiedenen Verpflichtungen oder Vergnügungen nach, waren jedenfalls nicht hier in der Nähe zu sehen; und er war froh darüber, denn er hätte weder Lust gehabt, mit ihnen über seine neuen Pläne zu sprechen noch über irgendwelche Belanglosigkeiten, während dieses Thema doch so sehr seine Gedanken besetzte. Ausschließlich seiner Mutter und Nomi hätte er jetzt davon erzählen mögen, und die waren beide nicht greifbar. So saß er also vor der Tür und überließ sich dem Gefühl, zwischen widerstreitenden inneren Reaktionen in der Schwebe gehalten zu sein: Stolz auf die Auszeichnung, Freude über das in ihn gesetzte Vertrauen, Einschüchterung angesichts der Aufgabe, dem gerecht werden zu müssen, Ehrgeiz, dieses trotz allem zu meistern, kurz, Hochstimmung und Kleinmut, Ehrgefühl und Ehrfurcht hielten sich die Waage, und nur vom Zwiegespräch erhoffte er sich, dass die Pendel in eine bestimmte Richtung ausschlagen und den Bann, die innere Lähmung lösen werde.

      Auf die Gefahr hin, dem schrecklichen Herrn Beatritsch zu begegnen, beschloss er nach einer Weile zu schauen, ob Nomi vielleicht bei sich zuhause wäre. Er ging durch die Toreinfahrt bei Gulachs und durch den Hof nach hinten zu dem Schuppen, in den er gestern Abend Nomis Wäschekorb getragen hatte. Sie musste wohl da sein, denn die Tür stand offen, und vielleicht war sie sogar allein, denn Stimmen hörte man nicht. Er trat zum Eingang hin, den fröhlichen Gruß schon auf den Lippen, da stockten ihm Stimme, Herz und Atem in enttäuschtem Schrecken: die Hütte war leer, nichts mehr war darin zu erkennen davon, dass sie eben noch bewohnt gewesen war - kahler, kalter, festgestampfter grauer Boden, lediglich ein paar Holzsplitter und Fetzen lagen vor dem kleinen gusseisernen Ofen herum, der den einzigen festen, unverrückbaren Einrichtungsgegenstand der notdürftigen Behausung darstellte. Er war wie angewurzelt stehen geblieben und hatte in den winzigen Raum gestarrt, als könne er sich getäuscht haben und könnten die Matratzenlager, die wackligen Stühle, der windschiefe Tisch und der halbkaputte Truhenkorb, die er gestern noch hier gesehen hatte, doch plötzlich aus dem Dämmer wieder auftauchen.

      Was mochte das bedeuten? - Natürlich wusste er das eigentlich ganz genau, erst gestern hatte Nomi ihm ja von den vielen Umzügen erzählt, die sie mit ihrem Vater schon hinter sich hatte. Er konnte, jedenfalls wollte, es aber einfach nicht glauben, dass sie so mir nichts, dir nichts verschwunden war, ohne sich auch nur zu verabschieden. Schließlich wandte er sich zum Gehen und traf in der Hofeinfahrt auf Karl, der ihn verwundert fragte, was er denn hier mache?

      „Ich hab Nomi gesucht“, gab Johannes zur Antwort. „Weißt du, wo sie ist? Der Schuppen ist ja verlassen!“

      „Bah, Nomi!“, erwiderte Karl mit verächtlich verzogener Miene. „Die und ihr sauberer Vater sind abgehauen. Heute Morgen hat meine Mutter sie gerade noch um die Ecke biegen sehen mit ihrem klapprigen Leiterwagen, vollgepackt mit ihren paar Lumpen und Möbeln, und die hätten sie uns eigentlich dalassen müssen, denn sie haben uns schon jede Menge Miete geschuldet!“

      „Aber warum? Weißt du, warum sie so plötzlich weggegangen sind?“

      „Na klar weiß ich das;“ Karl lachte gehässig auf. „Wenn sie das groß angekündigt hätten, hätte mein Vater sie sicher nicht ziehen lassen, ohne ihre Schulden zu bezahlen. Außerdem bin ich sicher, dass der Alte irgendwas verbrochen hat.“

      „Dann weißt du natürlich auch nicht, wo sie jetzt ist...“

      „Nee, und will ich auch gar nicht wissen. Wozu soll ich mich für das Gesindel interessieren? Mal abgesehen von der Miete, die wir sowieso nicht mehr gekriegt hätten, können wir nur froh sein, dass die weg sind. Aber du scheinst ja einen Narren gefressen zu haben an dem Lausepack!“

      „Nomi ist kein Lausepack, lass dir das gesagt sein!“, herrschte Johannes ihn zornig an. „Der Vater vielleicht, aber sie...“ Er brach ab und ließ Karl grußlos stehen, merkte er doch, dass er die Enttäuschung in seiner Stimme nicht mehr länger kontrollieren konnte.

      Er lief hinunter zum Kanal, zu seinem Baum und dann weiter zu dem Platz zwischen den Büschen am Ufer, wo sie gestern gesungen hatte, setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und blickte starr auf die dunkelgrünen, hie und da von kleinen Sonnenblitzen aufgehellten trägen Wellen hinunter. Eine wilde, verzweifelte Trauer erfüllte ihn bis zum Bersten, ein unauflösbarer Widerspruch zwischen der Einsicht in die Unabänderlichkeit der Situation und der heftigen inneren Auflehnung dagegen.

      Warum? warum nur war das jetzt so geschehen? Sie hatten sich doch gerade erst zaghaft angefreundet! Wie eine liebe, geliebte Schwester hätte sie sein sollen, und er ihr großer, beschützender Bruder - ach was, das drückte ja nicht mal zur Hälfte aus, was diese Freundschaft hätte sein können. Gerade, was dies nicht ausdrückte, der andere, viel umfassendere Teil - das Mysterium ihrer Person, das ihm dasselbe bedeutete wie das Geheimnis der Welt, des Lebens, zu dem sie ihm als das Portal, die rätselhafte Zugangslosung erschien; und dazu ihr seltenes, dafür so verzauberndes Lächeln, die fremdartige, zartgliedrige Hübschheit, die tiefe Sternennacht ihrer dunklen Augen, das eigentümlich Wilde, Einzelgängerische und zugleich Sanfte ihrer Persönlichkeit - sollte das gleich schon wieder verloren sein? Wie er sich danach sehnte, dass sie wieder neben ihm säße, dass sie zusammen den Abend hereinsinken sähen, vom unerträglich süßen Gesang der Amsel, der weichen Abendluft und der goldenen Abendsonne umfangen; dass er ihr von seinem heutigen Erfolg, von seinen Zweifeln erzählen könnte, dass sie ihm erneut Mut zuspräche. Was er heute erreicht, oder wofür ihm heute der Weg geebnet worden war, erschien ihm nun, ohne es mit ihr teilen zu können, an Bedeutung verloren zu haben, als hätte es seinen Glanz eingebüßt und die Freude darüber einen schmerzlichen Mitklang bekommen. Das war doch einfach nicht hinzunehmen! Eine rebellische Hoffnung stieg in ihm auf, er werde sie wiederfinden, und wenn er Viertel um Viertel