Nach ein paar Tagen waren Herrn Mäuthis‘ Bemühungen, durch Nachfragen an anderen Schulen und bei der Polizei etwas über Nomis Verbleib herauszufinden, gescheitert. Bei der Polizei hatte man ihm glatt ins Gesicht gelacht: Ob er denn eine ungefähre Vorstellung davon habe, wie viel Tausende misshandelter Kinder, wie viele Schulschwänzer und wie viele Mietnomaden es in diesen Zeiten gebe, die, nachdem sie ihre Vermieter um ihre Mieten geprellt hätten, unauffindbar in irgendeinem anderen Winkel der zahllosen unübersichtlichen Elendsviertel verschwänden - ob er denn im Ernst von der Polizei erwarte, dass sie nach jedem einzelnen dieser Leute suche? – Daraufhin beschloss Johannes, nicht mehr länger damit zu warten, seine selbstauferlegte Sisyphusaufgabe in Angriff zu nehmen und sich auf eigene Faust auf die Suche zu begeben.
Inzwischen hatten die versprochenen Nachhilfestunden bei Herrn Mäuthis schon begonnen. Er hatte dafür plädiert, schon vor den großen Ferien damit anzufangen, um nur ja keine Zeit zu verlieren und so viel wie möglich von dem versäumten Stoff der ersten beiden Gymnasialjahre aufzuholen. Zum Glück hatte er, seinem eigenen Wissensdurst sei Dank, alles wahrgenommen, was einem Volksschullehrer an Aus- und Weiterbildung angeboten wurde, so dass er, in seinem Berufsstand durchaus keine Selbstverständlichkeit, unter anderem auch Latein gelernt hatte und zumindest die Anfangsgründe problemlos unterrichten konnte.
So ging Johannes denn an zwei oder drei Nachmittagen in der Woche, wenn er seine übrigen Pflichten erledigt hatte, um auf den Fersen seiner künftigen Schulkameraden neues Gebiet zu betreten und die ersten Schritte in Wissensfeldern zu tun, von denen er bislang allenfalls nur ganz entfernt gehört und sich kaum eine klare Vorstellung gemacht hatte.
Immer aber, wenn ihm zwischen all seinen alten und neuen Aktivitäten ein zusammenhängendes Stück Zeit blieb, machte er sich auf und durchstreifte nach einem vorher zurechtgelegten System verschiedene Gegenden der Stadt; lief bis in die letzten, düstersten, feucht-kühl-übelriechendsten Winkel der letzten Hinterhöfe, fragte die Leute, die er antraf, ob sie etwas von einem solchen neu aufgetauchten Vater-Tochter-Paar wüssten, wie es Nomi und Herr Beatritsch darstellten. Ab und zu kam es vor, dass er von fern eine Mädchenfigur erspähte und sich mit heftigem Hoffnungserschrecken fast sicher war, sie endlich gefunden zu haben. Immer aber stellte sich im Näherkommen bald heraus, dass sie mit Nomi, außer dass sie klein, schmächtig, dunkelhaarig und schäbig gekleidet waren, nicht auch nur die geringste Ähnlichkeit hatten.
Solche Fehlschläge ließen von Mal zu Mal mehr seine Energie für die aussichtslose Unternehmung erlahmen, bis er irgendwann bemerkte, dass er schon tagelang nicht mehr losgezogen war und sich stattdessen regelmäßig durch andere Beschäftigungen davon abhalten ließ. Da zuckte er resigniert die Achseln und fand sich mit der Schlussfolgerung ab, dass es ja sowieso zu nichts führen würde, und die gezielten Expeditionen ganz einstellte. Den auf Schritt und Tritt suchenden, prüfenden Blick allerdings, bei jedem Gang durch die Straßen der Stadt, behielt er noch lange, lange bei. Denn die Traurigkeit über den Verlust verging keineswegs zusammen mit der Motivation zur Suche, wenn sie auch mit der Zeit in tiefere Schichten seines Bewusstseins sank, wie Meeressand, der mit jedem Windstoß, jedem Regen mehr in den Lücken und Ritzen zwischen Fels und grobem Gestein verrieselt, bis er kaum noch zu sehen ist, aber doch Grund und Fundament für jeden Schritt bildet, der darüber hin geht.
Das Erlebnis jedoch der Berührung mit einem anderen Menschen, dieser andere Mensch ein Mädchen, und gerade dieses Mädchen mit genau dieser Mischung von Eigenschaften, in der Hilfsbedürftigkeit und Überlegenheit sich zu eben der einzigartigen Persönlichkeit verbanden, die wiederum etwas genauso Einzigartiges in ihm zutiefst angesprochen und zum Klingen gebracht hatte, diese Ahnung einer möglichen Menschenliebe, tief und rund, schrieb sich unmerklich, aber unauslöschlich ein in das unverwechselbare Muster seines Lebens, und blieb mit der ganz bestimmten Tönung von Licht, Klang und Aroma, die jenen Nachmittagsstunden am Wasserlauf eigen gewesen war, in ihm bewahrt. Als sie Jahre später im Religionsunterricht das Hohelied König Salomons lasen („Schön bist du, meine Freundin, ja, du bist schön. Hinter dem Schleier deine Augen...“), war es das beinahe ins Vergessen herabgesunkene Bild von Nomi am Flussufer, das ihm die Beschreibungen der schönen Shulamith vor sein inneres Auge riefen.
11. Wettkämpfe
In diesen wenigen Wochen vor den Ferien war Johannes’ bevorstehender Schulwechsel längst kein Geheimnis mehr, und schon gab es erste Anzeichen, dass Herrn Mäuthis’ Warnungen durchaus gute Gründe gehabt hatten. Es war offenkundig, dass die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung die Sache nicht als ein eher erfreuliches Detail hinnehmen und dann zur Tagesordnung übergehen konnten. Die Erwachsenen kommentierten sie verständnislos und mit Ablehnung. Die Frauen schauten kritisch nach seiner Mutter und meinten: „Eigentlich passt das gar nicht zu ihr. Das Ännchen Reiser ist doch bisher nie eingebildet gewesen!“ - „Nee, nee, glaub’ ma nur, da steckt dieser neue Lehrer dahinter, der mit dem komischen Namen. Mein Gustav ist auch bei dem, und was der so erzählt - der hat lauter so neumodischen Kram im Koppe.“ Diejenigen Männer aus dem Viertel, die schon hier gewohnt hatten, als sein Vater noch lebte, mussten an diesen und seine strebsame Unruhe denken. „Das ist ganz der alte Johann Reiser, mit seinen Plänen und Ideen. Wenn der das noch erleben könnte!“ - „Na, das glaub’ ich aber nicht, dass der sich so was hätte träumen lassen - sein Kleiner mit den Bürgerssöhnchen auf‘m Gymnasium!“ - „Eins muss denen aber klar sein: Kaufen kann der sich davon erst mal nix, von seinem Abitur oder was. Der tät besser sehen, dass er bald arbeiten geht und Geld heim trägt. Meiner dürft mir mit so gesponnenen Sachen nich kommen, dem tät ich was erzählen!“
Die Kinder aus seiner Klasse und aus der Nachbarschaft hatten nicht weniger Mühe mit der neuen Situation und mit ihrer Einstellung zu dem Jungen, der bisher zwar vielleicht immer schon ein klein wenig als Träumer oder Spinner gegolten hatte, aber doch nie ein wirklicher Außenseiter gewesen war; er war zu allem zu gebrauchen, kein Spielverderber, hatte ein gewisses Gewicht in der Clique, gar ein gewisses Gegengewicht zu Rudolph, der sonst noch unangefochtener dominiert hätte, kurz, er war einfach einer von ihnen gewesen. Nun sollte, gar wollte, er andere Wege gehen als die breit- und ausgetretenen, von denen abzuweichen keinem von ihnen in den Sinn gekommen wäre. Blicke wurden getauscht, eine betretene, verunsicherte Stimmung kehrte ein, wenn er zu einer Gruppe hinzutrat. Wie immer aber zeigten sie alle ihre je eigene typische Reaktionsweise.
Agnes war diejenige, mit der sich noch am wenigsten veränderte. Sie war so sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, hatte so viel mit ihrem übergroßen Anteil am Zusammenhalten und Überlebenskampf ihrer vielköpfigen Familie zu tun, und so weit war die Neuerung in Johannes’ Leben von allem entfernt, was ihr eigenes Dasein bestimmte, dass es ihr gar nicht besonders schwer fiel, ihm das einfach zu gönnen und alles Glück damit zu wünschen. Auch Frieda konnte nicht viel damit anfangen, lagen doch ihre Interessen und ihr Ehrgeiz zu sehr auf ganz anderem Gebiet. Da sie aber doch ahnte, dass es irgendein, wenn auch unverstandener, Vorteil war, der dem Kameraden hier zugutekam, empfand sie doch so etwas wie Missgunst und Empörung darüber, nicht selbst in seinen Genuss zu kommen. Sie behandelte ihn daher jetzt mit einer gespielten schnippischen Hochnäsigkeit, ähnlich wie Karl, der eine brummig-maulende Jungenvariante davon abgab. Elsa ihrerseits begriff zwar nicht, wie man sich freiwillig dazu bereitfinden konnte, so viele Jahre länger zur Schule zu gehen und konnte sich nicht viel darunter vorstellen, wozu dies Opfer gut sein sollte, fand es andererseits aber wiederum spannend, interessant, eben „besonders“,