Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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sich doch wohl viel eher auf morgen hätte vorbereiten sollen! Was er da wohl alles gefragt würde? Hätte er nicht vielleicht besser noch mal in seine Schulbücher geschaut? Schade, dass er sich bei Herrn Mäuthis nicht noch erkundigt hatte, was man dort von ihm erwartete!

      In langsamem, nachdenklichem Schlenderschritt ging er jetzt zwischen Häusern und Höfen hindurch, hinunter zum Kanal, um an seinem Lieblingsplatz noch etwas auszuruhen und den Booten und Kähnen nachzuschauen. Gerade wollte er sich auf den Stein unter der Weide setzen, da glaubte er, von irgendwo in der Nähe ein Geräusch zu vernehmen, das er im ersten Moment nicht einordnen konnte. Bald aber kam es ihm vor, als sei es kein bloßes Geräusch, sondern eine menschliche Stimme, ein leises, immer wieder ganz verstummendes Summen. Er hielt inne und versuchte zu lauschen, und da schienen die Töne, die bis zu ihm drangen, eine Melodie zu ergeben, schlicht und doch fremd, so schön, wie er es noch nie gehört hatte. Neugierig trat er unter der Weide hervor und ging am Rand des Wassers entlang. Schon wenige Schritte weiter, von einem Gebüsch bislang verdeckt, sah er Nomi am Ufer sitzen, mit den Zehen des einen Fußes im Wasser baumelnd, den einen Arm auf einen Wäschekorb an ihrer Seite gelehnt, in der anderen Hand die rote Rosenblüte, derentwegen sie heute in der Schule gehänselt worden war (‚oh, man trägt neuerdings rot... man ist wohl verliebt?‘; ‚Quatsch‘, hatte sie zu Elsa gesagt, die sich die Wirkung aus der Nähe ansah, ‚jetzt haben bloß die roten auch angefangen zu blühen, und von den weißen gibt es nicht mehr so viele.‘), das Gesicht zum Wasser gewendet und selbstvergessen vor sich hin summend. Er blieb stehen, unschlüssig, ob er einfach so weiter zuhören oder sich bemerkbar machen sollte. Aber da war sie sich der fremden Gegenwart schon bewusst geworden und wandte sich rasch um.

      „Ah, du bist’s. Tag, Johannes.“

      „Ach, bitte, sing doch weiter, Nomi! Ich wollte dich nicht stören!“

      „Wie, hab ich denn gesungen?“

      „Klar, weißt du das gar nicht? Nur ganz leise, ich hab’s gar nicht richtig hören können. Aber es war so schön! - Kannst ... willst du es mir nicht noch mal vorsingen?“, bat er verlegen. Nomi wurde rot und wehrte genauso verlegen ab. Als er aber seine Bitte ganz ernsthaft wiederholte, schaute sie ihn noch mal kurz zweifelnd an und meinte dann einfach: „Also schön“, sah wieder hinaus auf das Wasser, überlegte einen Moment und begann erneut zu singen; diesmal aber richtig, deutlich, wenn auch so verhalten, dass schon in geringer Entfernung ihre Stimme von den Geräuschen des Windes in den Zweigen und Halmen, des Wassers zwischen den Ufersteinen und der vorbeiziehenden Schiffe übertönt worden wäre, und mit Worten, von denen jedoch Johannes, der sich inzwischen neben sie gesetzt hatte, trotz allen Bemühens nichts verstehen konnte. Bald war er sicher, dass das nicht am Gesang lag, der etwa die Worte verfremdet hätte, sondern dass sie wirklich in einer anderen Sprache sang. Verwundert blickte er zu ihr hinüber und staunte nun erst recht: Was war denn mit Nomi geschehen? Wo war das scheue, jederzeit nichts als Ablehnung erwartende Mädchen geblieben? Hier war jemand, den er noch nie gesehen hatte. Das Gesicht halb abgewandt, den Blick nach den Schiffen, dem Wasser gerichtet, aber in Wirklichkeit schien er, nach innen gekehrt, etwas Drittes, vollkommen anderes zu schauen; der Gesichtsausdruck konzentriert, ernsthaft und zugleich aus ihrem Innersten heraus leuchtend, entflammt von einer verhaltenen Leidenschaft, so zurückgenommen wie die Stimme, die sie nie über eine mittlere, nur ihm zugedachte Lautstärke erhob und dennoch dem wechselnden Ausdrucksverlangen ihres Gesanges beweglich anzupassen wusste.

      Etwas ganz Außergewöhnliches schien hier vorzugehen, etwas, das Johannes noch nie erlebt hatte und dem er, als etwas nur undeutlich Empfundenem, keinen Begriff zuzuordnen, das mit keinerlei Erfahrungen aus seinem gewöhnlichen Leben zu vergleichen er imstande gewesen wäre. Es war, als habe Nomi vor seinen Augen einen Schritt in eine andere Welt getan, eine Welt, in der sie – im Unterschied zu dieser hiesigen, alltäglichen - wirklich zuhause war, mit der sie und in der sie mit sich selbst im Reinen war und wo sie eine Souveränität und Unangreifbarkeit besaß, die ihr nichts und niemand streitig machen konnte; und als sei sie im selben Moment eins geworden mit ihrem Gesang, restlos mit ihm verschmolzen - sie war der Gesang, und der Gesang war sie, da gab es keinen Unterschied mehr zwischen beiden.

      Und was war aber das auch für ein Gesang!

      Wovon das Lied handelte, konnte er natürlich nicht mitbekommen. Es musste aber doch eine Ballade traurigsten Inhalts sein, der wehmütigen, leid- und sehnsuchtsvollen Melodie nach zu urteilen. Aber auch hier geschah ein seltsamer, neuartiger Zauber: so schmerzlich die Stimmung, in die ihn die fremd-schönen Intervalle, der magische Fluss der Melodik hineinzogen, so sehr wirkte dieselbe Musik auch wieder als ihr eigenes Gegenmittel, war Verwundung und Balsam, Hoffnungslosigkeit und Hoffnung, Sehnsucht und Erfüllung zugleich, auch dies untrennbar und beides in einem.

      Während sich Strophe um Strophe des langen Lieds der Kehle des schmächtigen und anscheinend doch so starken Mädchens entwand, in Ausdruck und Gesangsweise keine einzige der anderen gleich sondern jede offenbar ihrem je unterschiedlichen Inhalt angepasst vorgetragen, hörte er aufmerksam zu, vollständig gefangen genommen und alles andere vergessend. Er hatte ja nicht gewusst, dass es so etwas gab! Was er bisher an Musik gekannt hatte, waren ein paar Gassenhauer, ein paar Schlager, die gerade in Mode waren, Militärgeschmetter von den Festtagsparaden, Jahrmarktsgedudel und solche Tanzmusik, wie sie auf dem Maskenball erklungen war. Das eine oder andere hatte ihm gut gefallen, dann hatte er es vor sich hin gepfiffen, wenn er froher Stimmung war, manches konnte auch mal eine schlechte Laune aufheitern. Aber nun hatte er den Eindruck, er habe bisher nicht im Entferntesten gewusst, was Musik eigentlich sein konnte. Eine tiefe Ergriffenheit bemächtigte sich seiner und die Ahnung eines Reichtums, den die Welt, den das Leben, verheißungsvoll, noch bereithalten mochte.

      Als das Lied zu Ende war, blieben die beiden lange stumm nebeneinander sitzen, ohne sich auch nur anzusehen. Nach einer Weile brach Johannes den Bann, indem er ein heiseres „Danke!“ brummte. Wie beeindruckt, wie ergriffen er wirklich war, hätte er nicht auszudrücken vermocht.

      „Gern gescheh’n!“ erwiderte Nomi ebenso leise. Dann fügte sie hinzu und sah dabei endlich zu ihm herüber: „Hab das lange nicht mehr richtig und ganz, von Anfang bis Ende, gesungen.“

      „Aber sag mal, was für eine Sprache war das denn?“

      „Die Sprache meiner Mutter“, war die Antwort.

      „Wieso? War deine Mutter gar keine Deutsche? - Wer bist du, Nomi? Woher kommst du wirklich?“

      „Nein, das stimmt schon alles: Ich komme von hier, bin Deutsche, wie mein Vater. Nur meine Mutter war eine Roma, eine Zigeunerin, wie man sie so nennt.“

      Johannes war sprachlos. Also war doch etwas dran gewesen an den Gerüchten und die fremdartige Aura keine Einbildung.

      „Na so was!“ brachte er nur hervor. „Warum hast du das denn aber damals in der Schule nicht zugegeben? Ist doch nichts dabei - im Gegenteil: das ist doch riesig spannend!“

      Nomi lächelte, fast ein wenig spöttisch. „Nein, danke, ich hatte keine Lust auf das Geschrei und die Beschimpfungen. Außerdem: niemand hat mich nach meiner Mutter gefragt, nur danach, was ich bin. Und ich bin nun mal, was mein Vater ist“, und man konnte einen Ton von Bitternis nicht überhören.

      „Also, dann bist du doch nicht im Pferdewagen umhergezogen, oder? Schade eigentlich. Aber erzähl doch mal!“ bettelte er.

      Jetzt lachte Nomi wirklich. „Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich dort noch geboren bin.“

      Wieder verstummte sie. Dann fügte sie hinzu: „Du musst mir versprechen, dass du niemandem, hörst du, niemandem etwas davon weitererzählst!“

      „Aber warum ist das denn so ein Geheimnis? Ich wär doch stolz darauf, wenn meine Eltern irgend so was Besonderes, Ausgefallenes wären. Ich meine, nicht dass ich die umtauschen wollte, aber wenn sie, so wie sie sind oder waren, was anderes als eben ... einfach so ganz normal wie alle wären, dann wär ich da irgendwie stolz drauf!“

      „Aber ich bin ja doch stolz!“ sagte Nomi heftig. „Das ist es ja gerade!“

      Und als er sie verwirrt und fragend ansah: „Du verstehst das nicht. Meine Mutter und alles, was zu ihr gehört, ist das