Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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ordentlich Angst.“

      „Klar hast du Angst. Aber es ist bestimmt genau das Richtige für dich. Und ich glaub fest daran, dass du’s schaffst. Bloß schade, dass du dann nicht mehr in der Klasse bist!“

      Johannes wurde rot vor beschämtem Stolz.

      „Du wolltest aber doch eigentlich wissen, was wir da vor der Mauer gemacht haben“, lenkte er schnell ab und erklärte ihr, welche Herausforderung die Mauer und das Geheimnis dessen, was sie abschirmte, für die gesamte Straßenjugend bedeutete. Er berichtete auch von den Diskussionen und Spekulationen über das Dahinter, das sich jeder dazu ausmalte.

      „Und du?“, fragte er sie zum Schluss, „Was stellst du dir vor, was dahinter ist?“

      „Och je, keine Ahnung!“, sagte sie grübelnd. „Jedenfalls, was da wirklich in Echt dahinter ist, hab ich überhaupt keine Idee. Kann ja alles sein, was Agnes und Rudolph und die anderen sich da überlegt haben. Aber wenn ich mir was wünschen dürfte, dann ... dann wäre das irgendwas zwischen dem, was Elsa und Fritz und, klar, auch Karl gesagt haben. Also, das wär’ schön, wenn man da seine Ruhe hätte und keine Sorgen, nicht ums Essen, nicht ums Frieren; wo keiner keinem was Schlimmes tut ...“ Es war anrührend zu sehen, wie sie beim Ausmalen, allein schon in der Vorstellung solchen Friedens richtig tief und erleichtert aufatmete. „Man würde endlich wissen, wo man hingehört und bleiben darf...“ Langsam kam ihr Blick wieder zurück aus dem Traumbild, und sie sah ihn an: „Aber du hast ja noch gar nicht erzählt, was du dir denkst!“

      „Ja, das ist, weil ich’s eben auch selbst nicht weiß. Klar, so Sachen wie immer genug zu essen, das hätte schon was, und noch dazu, ohne dass Mutter sich so plagen müsste - ach, überhaupt: hast du vielleicht jetzt gerade Hunger?“ Er kramte in seiner Kitteltasche und holte einen Apfel hervor, an ein paar Stellen angestoßen und fleckig, aber bestimmt noch genießbar. „Den hab ich vorhin unterwegs gefunden - willst du?“

      „Nein, danke, ist doch deiner!“, sagte Nomi, während ihre Augen hungrig angezogen wurden von der Frucht.

      „Aber ich brauch ihn nicht, nimm doch!“

      Schließlich einigten sie sich darauf, ihn sich zu teilen und bissen abwechselnd davon ab.

      „Am liebsten hätt’ ich dort vielleicht einen Hafen“, fuhr Johannes fort, „einen richtigen meine ich, von wo aus man zum Meer und um die ganze Welt fahren könnte. Oder ein Platz, wo Luftschiffe starten. Bloß müsste man, um mitfahren zu können, natürlich erst mal wissen, wie man da hinkommt.“

      „Schon komisch: du willst anscheinend am liebsten immer weg und unterwegs sein, und ich, ich bin schon so viel rumgekommen, wenn auch nicht gerade in der großen weiten Welt, dass ich einfach nur müde davon bin. Ich wär am liebsten wie die Rose hier, oder der Strauch, von dem sie kommt: die hat ihren Platz, da steht sie, den kennt sie, sie hat, was sie braucht, ihre Erde, Wasser, Sonne, da kriegt sie Blätter, verwelkt, wirft sie ab, kriegt wieder neue, da blüht sie, verblüht, kriegt vielleicht - was kriegen die noch mal für Früchte? - und braucht nach sonst nichts fragen.“

      „Und ich ... ich finde, es gibt so viel, oder es muss so viel geben auf der Welt, was ich nicht weiß, nicht verstehe, nie gesehen habe, und wenn ich denke, ich müsste immer hier angewachsen bleiben wie deine Rose, da könnt ich fast verrückt werden. Am liebsten würde ich mit den Schwalben da -“, wieder einmal sauste so eine Schar dicht über der Wasserfläche vor ihnen vorbei, schoss in elastischem Schwung nach oben, tauchte hinauf, hinein in den goldblauen westlichen Himmel und verlor sich als eine Handvoll schwarzer hüpfender Punkte darin - „mitfliegen, auf und davon - wenn’s so leicht wäre!“

      Nomis Augen spiegelten beim mitfühlenden Zuhören etwas von Johannes’ Enthusiasmus wider, und sie sagte lächelnd: „Am besten müsste man wohl beides haben, nicht?“

      „Vielleicht“. Er zuckte die Schultern und wollte den abgegessenen Apfelgriepsch mit großem Schwung ins Wasser werfen. Da hielt ihn Nomi zurück und bat: „Nicht, bitte, das wird immer so eklig, wenn das so lange im Wasser treibt, so glibberig und faulig. Lass ihn uns lieber hier vergraben.“ Sie war richtig blass geworden und sah zu seiner Verwunderung erschrockener aus als der Anlass rechtfertigte. Sie drehte sich halb um und strich die locker krümelnde Erde an einer grasfreien Stelle auseinander, bis eine Kuhle entstand, da legten sie das Gehäuse hinein und strichen die Erde wieder drüber. Dann nahm Johannes die schon sehr welke rote Blume, die Nomi abgelegt hatte, und steckte sie aufrecht dazu, wie ein Kreuz hinter einem Grab - er wusste selbst nicht, warum er das tat.

      Sie lachten einander an und kehrten sich wieder dem Wasser zu, saßen still nebeneinander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.

      Unterdessen hatte der späte Nachmittag fast unbemerkt schon große Schritte auf den Abend hin getan. Das Licht zog sich zusehends aus den tiefergelegenen Regionen zurück, die Gemäuer in der Nähe wurden grau und verschwammen ineinander; der eine oder andere Kahn, der jetzt noch unterwegs war, schob sich als dunkle, undeutliche Masse über die spiegelglatte, als einzig verbliebenes leuchtendes Band die fortschreitende Dämmerung durchziehende Wasserfläche; dahinter vereinigten die Büsche und Baumwipfel und die darüber hinausragenden Dächer und Türme des gegenüberliegenden Ufers sich immer mehr zu einer zusammenhängenden Scherenschnittsilhouette vor dem klaren Grün des Himmels, in das hinein sich aber mehr und mehr das stetig sich vertiefende Nachtblau aus der östlichen Sphäre vorschob, hie und da von spitzigen Lichtpunkten erster Sterne durchsetzt. Aus den schwärzer werdenden Schatten zwischen Gestrüpp und Gezweig hörte man Vögel schwätzen, plustern, schimpfen und kurz und schrill aufzwitschern, während sie sich an ihren Ruheplätzen für die Nacht einrichteten. Da erhob sich mit einem Mal, nicht weit entfernt, über dieses Grundgewebe aus Geräuschen das einsame Solo eines Amselgesangs: schluchzend, lockend, klagend, jubilierend, schlichte Melodien und virtuose Koloraturen aneinanderreihend, zwischen immer neuen Improvisationen regelmäßig zu dem einen Lieblingsrefrain zurückkehrend, die Töne in den tiefen, weichen Farben, der honiggoldenen, erdigen Süße dieser Abenddämmerung. Den Kindern stockte das Herz, und etwas wie ein heiliger Schauer überlief sie. Sie saßen und lauschten mit angehaltenem Atem, und dann, beide zugleich, wandten sie sich dem anderen zu und sahen sich an, sahen einander in die Augen mit einem völlig neuen, veränderten Blick, der an dem des anderen unausweichlich, magnetisch hängen blieb. Es war, als hielten die beiden Augenpaare sich gegenseitig fest, kämen auf keine Weise, auch wenn sie es wollten, von der wechselseitigen Umklammerung los, als sähen sie durch die weit und weich geöffneten, erstaunten Augen des anderen in sein Inneres hinein und fänden dort erst eigentlich sich selbst, wo sie den anderen erkannten. Eine Ewigkeit schien dieser Moment für sie zu umspannen, ein Moment ohne Anfang und Ende in diesem Blick in das fremde, nahe Gesicht, aus allem Zeitgefüge und Alltagszusammenhang für immer herausgehoben, gebannt und in der Schwebe gehalten durch das Lied der Amsel, die ihren Abendgesang für alle Zeiten in die Unendlichkeit des sterndurchwirkten dunkelnden Himmels hinein fortspann.

      Erst, als die Amsel unvermittelt zu singen aufhörte, sich mit einem schrillen, hohen Auflachen von ihrem exponierten Platz irgendwo auf einer Dachkante oder einer Schornsteinecke abstieß und davon flatterte in die allmählich sich schließende Nacht hinein, um nun auch selbst ihren Schlafplatz aufzusuchen, konnten sie den Zauber abschütteln, und sahen verwirrt, scheu und mit gesenkten Augen weg.

      „Wie spät es schon ist!“ - „Ich glaub, ich muss nach Hause!“, fingen sie gleichzeitig an.

      Nomi erhob sich und griff nach dem Wäschekorb.

      „Ich muss das hier noch aufhängen“, meinte sie.

      „Und ich hab noch keine Hausaufgaben gemacht“, sagte Johannes. „Aber komm, lass mich das für dich tragen“, und er nahm ihr den Korb aus den Händen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte er: „Willst du nicht noch mit zu uns kommen? Du könntest mit uns essen, und dann machen wir die Aufgaben zusammen?“

      „Das wäre wirklich schön. Aber heute ist es schon zu spät; ein andermal gern, vielleicht morgen.“

      Als sie sich ihrer Behausung näherten, blieb er kurz stehen und fragte, ob ihr Vater jetzt daheim wäre. Trotz seines großherzigen Ritterschwurs von vorhin