Rudolph beispielsweise sah durch diese Mischung aus Andersartigkeit, Unabhängigkeit und scheinbarer Schwäche in ihr einen interessanten Ersatz für sein Lieblingsopfer Fritz, dessen Reaktionen auf seine kleinen Sticheleien und verbalen Quälereien inzwischen so bekannt und vorhersagbar waren, dass sie ihren Reiz zu verlieren begannen. Hier war nun ein Objekt, an dem man seine Fähigkeiten erweitern und verfeinern konnte. Den wunden Punkt galt es zu finden, mit dem man diese stille Dulderin - oder war es wirkliche Unempfindlichkeit? - treffen und zu irgendeiner Gefühlsäußerung provozieren konnte. Bisher war ihm das überhaupt noch nicht gelungen. Die Themen Reinlichkeit oder Zigeunertum - das letztere ließ er sich trotz Nomis anderslautender Auskunft nicht ausreden - schienen spurlos an ihr abzuprallen, und statt sich getroffen zu zeigen und zurückzuschimpfen oder zu heulen, maß sie ihn lediglich mit ihren dunklen Augen; in denen ging zwar irgendetwas vor, das aber hatte mit dem von ihm gewünschten Effekt ganz offensichtlich gar nichts zu tun, was ihn aber erst recht gegen sie aufbrachte und zu erneuten Angriffen anstachelte.
Der Lehrer seinerseits suchte, sie hin und wieder unauffällig in Schutz zu nehmen und zu fördern. So hatte er gelegentlich, wenn sich bei dem Mädchen erstaunliche Kenntnislücken offenbarten, die Klasse aufgefordert, es mögen sich doch Mitschüler finden, die ab und zu einmal mit ihr zusammen lernen, ihr bei den Hausaufgaben helfen würden. Als er nur murrende Protestlaute zu hören bekam und auch Nomis Gesicht anzusehen war, dass ihr das eher peinlich gewesen wäre, ließ er es dabei bewenden.
Mit der Zeit bekam das Phänomen Nomi seinen festen Platz, und im gleichen Zuge erlahmte auch das Interesse daran - ein Kind, von dem man nicht viel wusste, das einem in Maßen leid tat, mit dem sich im Übrigen nicht viel anfangen ließ und an dem sich lediglich in einer zum Ritual werdenden Obsession der Gruppenchef die Zähne ausbiss.
An einem Frühlingsmorgen, der sogar diese steinernen Großstadtschluchten mit einer lauen Brise blütenduftend durchstrich, waren Agnes und Elsa gemeinsam auf dem Weg zur Schule. Als sie an einem Trümmergrundstück vorüberkamen - hier war vor längerer Zeit ein altes Wohnhaus abgerissen worden, und die Ruine lag nun in all der zutiefst deprimierenden Trostlosigkeit, die den Dingen eignet, wenn sie, ihres Zusammenspiels mit Lebendigem verlustig gegangen, als Überreste eines ausgeweideten Kadavers in halbvollzogener Auflösung sich mit der Umgebung vermischen, inmitten eines allmählich verwildernden und die schlammverspritzten Tapetenreste, die modernden Hausratsbruchstücke und schimmelnden Stofffetzen mit Spinnennetzen und Vogelkot, Brennnesseln und Dornenranken überziehenden Stadtgartens -, da tauchte hinter einer teilweise stehen gebliebenen Mauerecke Nomi auf, die gerade auf den Gehweg hinaustreten wollte und dabei fast mit den beiden zusammengestoßen wäre. Sie hatte irgendetwas in den Händen und nestelte damit in ihren langen offenen Haaren herum. Als sie ihre Klassenkameradinnen bemerkte, hielt sie, sichtlich verlegen, damit inne und hätte den Gegenstand am liebsten schnell hinter ihrem Rücken verborgen, wenn es dafür nicht schon zu spät gewesen wäre.
„He, Nomi! Was hast du denn da? Zeig doch mal!“, bat Elsa.
Da hielt sie den beiden eine Blume hin: eine einzelne Rose an kurzem Stiel, eine frische, eben aufblühende Knospe, die zahllosen eins ins andere gebetteten weißen Blütenblätter sich gegenseitig stützend und gegen die Außenwelt schützend ineinander und umeinander geschmiegt, nur erst ein paar der äußersten sich dieser neugierig und lebensdurstig mit zaghaft halbgeöffneten Lidern zuwendend, und in einem aus den späten Nachtstunden übriggebliebenen perlrunden Tautropfen das hellblaue Himmelslicht mit ihrer eigenen zart goldgelben Äderung zu einem sphärisch vergrößerten Bild verbindend.
„Wo hast du die denn her?“, fragte Agnes.
„Hier, in dem Garten hinten, zwischen allem möglichen Gestrüpp, da wachsen ganz große Büsche davon. Hab ich neulich gefunden, als ich geschaut hab, ob’s hier noch Brennholz gibt.“
„Ja, aber, bist du jetzt extra da reingegangen, um die zu holen?“, fragte Agnes verständnislos, in deren Leben, wie für die meisten hier, Blumen als überflüssiger Luxus keinen Platz hatten. „Du hast dich ja sogar zerkratzt, und Brennnesseln gibt’s da sicher auch!?“
„Ich find sie soo schön!“, sagte Nomi einfach in ihrer leisen Art. Agnes schaute ihr ins Gesicht und spürte plötzlich Tränen in den Augen und eine Enge in der Kehle - sie hätte nicht zu erklären vermocht, warum, wusste nicht, dass sie in dem Moment - und nur für diesen kurzen Moment - die Verwandtschaft zwischen ihren eigenen Lebensumständen und denen des fremden Mädchens empfand, und gleichzeitig damit aber auch den entscheidenden Unterschied: dass es ihr nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre, der Schäbigkeit und Freudlosigkeit ihres Alltags auf so einfache oder auf sonst irgendeine Weise ein Stück heilender Schönheit entgegenzustellen.
„Da, nimm doch, ich schenk sie dir.“ Nomi reichte ihr die Blume kurzerhand hin. Agnes schüttelte den Kopf: „Nein, behalt sie nur. Aber danke, du bist wirklich nett.“ Und Elsa meinte: „Du wolltest sie dir doch ins Haar stecken, oder? Mach das doch, das sieht bestimmt hübsch aus!“
Nomi wurde rot und lenkte ab: sie wollten sich lieber beeilen, sonst kämen sie noch alle drei zu spät zur Schule.
Von nun an sah man sie fast jeden Tag mit einer weißen Rose. Manchmal hatte sie sie tatsächlich im Haar, was ihr natürlich sofort wieder Neckereien eintrug, manchmal hielt sie sie nur in der Hand oder legte sie vor sich auf das Pult.
Johannes hatte von Anfang an zu denen gehört, auf die das geheimnisvolle Mädchen eine starke Anziehungskraft ausübte. Gesprochen hatte er mit ihr so gut wie gar nicht, höchstens einmal hier und da ein knapper Gruß, wenn er ihr irgendwo begegnete; ansonsten ein Kreisen in respektvollem Abstand um einen magnetischen Mittelpunkt, und auch das eher im Geiste als in der körperlichen Wirklichkeit. Die Andeutung von Exotik und Unbestimmbarkeit, die sie umgab, war so ganz dazu angelegt, sein Interesse zu wecken. Jetzt, durch ihre neue „Rosenmanie“, wurde das nur noch verstärkt. Nicht nur hatte Elsa vollkommen recht gehabt und sah die fragile weiße Blüte in dem nachtdunklen Haar wirklich sehr hübsch aus; sie stellte auch einen Punkt mehr dar, in dem sich Nomi von all den anderen Mädchen unterschied, die er bisher gekannt hatte. Alle, oder doch die meisten, waren - in seinen Jungenaugen höchst übertrieben - darauf erpicht, sich herauszuputzen mit solchen Mitteln, derer sie eben habhaft werden konnten. Billigen Glitzerkram luchsten sie vielleicht ihren Vätern oder Brüdern ab, die damit handelten, oder, falls sie selbst solche Dinge auf der Straße feilboten, behielten sie für sich zurück, was etwa ein bisschen kaputt war; Haarspangen mit Glassteinen, vielleicht ein Ohrring, ein Armreif, oder wenigstens eine schöne bunte, möglichst große Schleife wurden stolz den Freundinnen vorgeführt und von ihnen gebührend bewundert, besser noch geneidet. Keiner von ihnen wäre es eingefallen, sich einfach nur eine Blume abzupflücken und mit dieser den Haarschopf zusammenzuhalten, und das auch noch eher, weil sie mindestens genauso viel Gefallen daran gefunden hätten, sie abzunehmen und anzuschauen wie sich selbst damit zu schmücken. Und Nomi erntete auch genügend Naserümpfen und hämisch-mitleidiges Getuschel aus der dreizehnjährigen Damenwelt. Johannes jedoch betrachtete dies ausgefallene Gebaren fasziniert und fand, es füge den vielen Mysterien um das Mädchen ein weiteres hinzu.
Und dann beobachtete er eines Tages eine Szene, die das Rätsel Nomi noch rätselhafter machte.
Er ging eine Straße nicht weit von Zuhause entlang, als aus der Gegenrichtung auf dem anderen Trottoir Rudolph gelaufen kam, so schnell ihn seine Beine trugen und dabei immer wieder sich umwendend, als sei der Teufel hinter ihm her. In einiger Entfernung auf seiner eigener Straßenseite war Nomi stehen geblieben und