Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
Скачать книгу
sonst wo wäre!“, dachte er.

      Nachdem die Glocke zum letzten Mal für diesen Vormittag geläutet hatte und Herr Mäuthis zunächst noch kurz mit der Neuen gesprochen hatte, war endlich Johannes an der Reihe.

      „So, jetzt können wir besser über die Sache reden. Ich fürchte, heute Morgen war nicht Zeit genug und Ruhe, wahrscheinlich war ich auch etwas unvorbereitet und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte.“ - „Aber ich hab ja damit gerechnet, dass Sie sehr böse sein würden“, sagte er kleinlaut.

      „Na, böse vielleicht nicht gerade. Ein bisschen ungehalten war ich schon zuerst, und vor allem enttäuscht - ich hätte einfach gedacht... na, lassen wir das; ich sehe ja, wie ernst du es nimmst und wie leid es dir tut; und das bestätigt mir eigentlich, auch wenn das Buch nun einmal hin ist, dass ich mich doch nicht so sehr in dir getäuscht hatte. Und glaub mir, jedem von uns sind ja doch schon solche Dinge passiert, die wir hinterher am liebsten ungeschehen gemacht hätten, und niemand hat in jedem Moment seine Handlungen mit allen ihren Folgen sicher im Griff. Und wenn dann dabei nicht mehr passiert, als dass ein alter Wälzer sich im Wolkenbruch auflöst, kann man eigentlich froh sein.“ So versuchte Herr Mäuthis, ihn zu trösten und aufzumuntern.

      „Aber es ist - war - doch kein ‚alter Wälzer’! Es war bestimmt das tollste Buch auf der ganzen Welt. - Und ich war auch noch überhaupt nicht fertig... Nicht wahr, am Ende sind sie doch heil wieder zurückgekommen, oder?“

      Sein Lehrer schmunzelte, auch im Bewusstsein, dass seine „Therapie“ zu wirken begann. „Na, die Frage kannst du dir aber sicher selbst beantworten, wenn du etwas nachdenkst. - Aber, hör zu, Johannes: Dass du mehr arbeitest, um die Sache gut zu machen, das möchte ich nicht. Mir ist es wichtiger, du verwendest deine Zeit und Kraft auf das Lernen, solange das noch geht, und wenn du den ganzen Tag Zeitungen austrägst oder so, wird daraus nichts. Ich wünsche mir stattdessen, dass du versuchst, das Buch so gut du kannst zu reparieren, und es mir dann so zurückbringst, wie du es eben hinbekommen hast.“

      Johannes schaute ungläubig und wollte protestieren - „Kein Aber, mein Junge, so machen wir das. Ich würde sagen, das ist ein klassisches Lehrbeispiel zum Thema ‚Das Beste aus etwas Unabänderlichem machen’. So, und nun spring nachhause zur Mittagssuppe, oder was immer du da hoffentlich jetzt kriegst. - Ach, und noch was wollte ich sagen: Ich fand es ganz großartig von Dir, dass du gleich gekommen bist und zugegeben hast, was passiert ist!“

      Auf dem Weg nachhause hatte er das Gefühl, als lockere sich in seinem Inneren ein für unauflöslich gehaltener Knoten, der ihm seit gestern Abend die Luft abgeschnürt und ihn zugleich unerbittlich niedergehalten hatte. Allmählich schien er sich wieder aufrichten und durchatmen zu können, mit einem Gefühl glückseliger, aber immer noch auch schwermütiger Erleichterung. Und in dem Auftrieb, den ihm dieses Gefühl gab, beschloss er fest, sich alle erdenkliche Mühe zu geben mit den Reparaturversuchen. Und wer weiß, vielleicht könnte er ja doch heimlich auf einen neuwertigen Ersatz sparen und seinen Lehrer eines Tages damit überraschen. „Wenn Vater noch leben würde“, dachte er dankbar, „dann wäre er bestimmt so wie Herr Mäuthis.“

      Ungefähr eine Woche später nahm er das Buch mit in die Schule, und in der Pause brachte er es nach vorne zum Lehrerpult. Wie neu, so wie in seinem Traum, war es natürlich bei weitem nicht: Die farbigen Tränenspuren an allen Seiten waren geblieben, die „Maulsperre“ war nur geringer geworden, die Spuren der Schlammspritzer am Leineneinband hatten sie nicht völlig zum Verschwinden bringen können. Im Inneren gab es immer noch Stellen, wo die Folgen der ersten ungeschickten Versuche nicht mehr zu beseitigen gewesen waren. Bei den Farbdrucken waren manche ganz und gar verschmiert, andere hatten lediglich „aquarellartige“ Verziehungen oder geisterhafte Doppelungen erlitten. Alles in allem aber hatten Mutter und er eindeutig gute Arbeit geleistet.

      Und Johannes hatte Mäuthis‘ Auftrag durchaus richtig verstanden und es sich nicht nehmen lassen, den größten Teil der Arbeiten selbst zu verrichten. Mutter hatte ihm gezeigt, wie man mit dem Bügeleisen umgehen müsse, und gleich am ersten Tag hatte er umsichtig und unter ihrer überwachenden Anleitung die Seiten zwischen Baumwolltüchern glatt- und die restliche Feuchtigkeit herausgebügelt. Wo immer möglich hatten sie ausgerissene Stücke Papier wieder in die richtigen Stellen eingepasst und festgeklebt. Das Ergebnis war, dass man in dem Buch wenigstens zu Teilen wieder ungehindert lesen konnte, dass man viele der Illustrationen immer noch mit Freude betrachten, bei anderen wenigstens in der Vorstellung den ursprünglichen Zustand wiederherstellen konnte.

      Als er es seinem Lehrer reichte, wurde er wieder rot vor Scham und Schuldbewusstsein. „Hier ist es nun, besser werden wir es wohl leider nicht mehr hinkriegen.“

      Herr Mäuthis nahm es entgegen, betrachtete es eingehend von allen Seiten, blätterte darin und meinte: „Oh je, ich glaube, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie es zu Anfang aussah. Da habt ihr ja eine Höchstleistung an Geduld, und auch an Geschick übrigens, vollbracht!“ Er legte es in ein Fach seines Pults, nickte dem Jungen freundlich zu und schickte ihn zu den anderen in den Pausenhof.

      Am nächsten Tag jedoch überreichte er Johannes das Buch und machte es ihm zum Geschenk. „Als Andenken, und damit du, so weit möglich, noch lesen kannst, wie sie die Reise um die Welt am Ausgangspunkt vollenden.“

      9. Nomi

      An dem Verhältnis der Schul- und Nachbarskinder zu dem neu zugezogenen Mädchen änderte sich auch in den nächsten Zeiten nichts Wesentliches. Nach und nach wurden ein paar Einzelheiten über sie bekannt. So hatte Herr Mäuthis gleich an ihrem zweiten Schultag die kleine Selbstvorstellungsprozedur nachgeholt, wie er sie am Anfang mit der ganzen Klasse praktiziert hatte. Dabei war aber deutlich zu spüren gewesen, dass sie wenig dazu aufgelegt war, über sich und ihre Familienverhältnisse zu berichten. Dass sie allein mit ihrem Vater lebte, hatten wenigstens die Kinder ihrer Straße sowieso schon mitbekommen. Nun erfuhr man, dass sie wirklich Halbwaise war und auch keine anderswo lebenden Geschwister hatte. Der Frage nach dem Beruf ihres Vaters wich sie aus, und Mäuthis zog es denn auch vor, nicht weiter zu insistieren. Elsa allerdings wollte sich nicht so schnell zufrieden geben und bat darum, auch noch etwas fragen zu dürfen. Es ließ ihr keine Ruhe, dass man munkelte, die beiden seien "Zigeuner". Das Mädchen schüttelte aber den Kopf - „nein, sind wir nicht“, widersprach sie. „Aber wieso hast du dann diesen komischen Namen?“ beharrte Elsa. Das wusste sie eigentlich selbst nicht. Ob es nicht eher ein osteuropäischer, ein slawischer, oder auch ein italienischer Name sein könne, schaltete sich der Lehrer ein. Vielleicht sei ja ein Ur-Ur-Ur-Ahne dereinst von irgendeinem anderen Land zugewandert; aber schon an der eingedeutschten Namensschreibung könne man ablesen, dass das schon sehr lange her sein müsse und dass also die Familie inzwischen längst als deutsch gelten dürfe.

      Den Nachbarn in der Straße fiel auf, dass der Vater wenig und unregelmäßig zuhause war - und man war sich einig, dass man das nicht gerade bedauerte. Man vermutete auch stark, dass die Tochter selbst noch weniger Anlass hatte, sich das anders zu wünschen. Auf der einen Seite fast ausschließlich sich selbst überlassen und nur sporadisch mit wenig Barem versehen, um sich irgendwie durch den Alltag zu wursteln, den kleinen Haushalt mehr schlecht als recht in Ordnung zu halten und mit dem Nötigsten zu versorgen, schienen ihr, wenn man den Berichten von Karls Mutter glauben durfte, schreckliche Szenen vorbehalten, wenn der Mann zuhause war. Besoffenes Gebrüll, Tobereien, umherfliegende Gegenstände, Prügel - man mochte sich gar nicht wirklich genauer ausmalen, was da während dieser lärmenden Auftritte vor sich ging. Dabei, so Frau Gulach, hörte man fast immer nur den Vater, das Kind gab kaum jemals einen Laut von sich, und wenn aber doch einmal, dann stünden einem die Haare zu Berge - „Eines Tages steht die auch mal nicht wieder auf!“, meinte sie.

      Dass der Mann auf irgendeine ehrliche Weise Geld verdiente, konnte sich keiner vorstellen; man wusste nicht, hatte aber natürlich genügend Phantasie, um sich auszumalen, was er in den Zeiten seiner Abwesenheiten trieb. Frau Gulach machte ihrem Mann schon dauernd Vorwürfe, dass er nicht besser hingesehen hatte, als er die beiden einziehen ließ, und er solle sie doch wieder hinauswerfen. Das war aber nicht gut möglich, weil sie die Miete für den armseligen Verschlag gleich zu Beginn für einige Zeit im Voraus bezahlt hatten.

      Zu