Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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ganz wiederhergestellt und wie neu. Er durchblättert die Seiten, und sie erscheinen ihm nun noch viel schöner, viel leuchtender, viel beglückender als sie es je gewesen waren...

      Als er aus diesem versöhnlichen Traum erwachte, war er umso verzweifelter im Bewusstsein von der Unmöglichkeit eines solchen Wunders. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr er die unerbittliche Notwendigkeit, die Konsequenzen des eigenen Handelns auszuhalten und durchzustehen. Bitter wurde ihm das, sehr bitter, und schweren Herzens kroch er unter der warmen Decke hervor - wenn er doch über Nacht todkrank geworden wäre! Dann hätte die Sache mit dem Buch doch sicher gleich eine geringere Bedeutung? -, machte sich im Morgengrauen fertig und hoffte, dass Mutter nicht wach würde - er war heute viel früher auf als sonst, und sie hatte sicher noch bis tief in die Nacht hinein gearbeitet.

      In der Stube war es zu dunkel, um sich ein Bild vom Resultat der nächtlichen Bemühungen zu machen; aber er war sowieso sicher, dass, was immer Mutters Geschicklichkeit bewirken konnte - und der traute er schon einiges zu - das Buch ruiniert bleiben und nichts ihm die Notwendigkeit einer Beichte bei Herrn Mäuthis abnehmen würde.

      Er war heute der Erste bei der Abholstelle der Zeitung, erledigte das Verteilen in fiebriger Hast und erreichte das Schulhaus lange vor Beginn der ersten Stunde. Es gelang ihm auch, obwohl dies gegen die Regeln verstieß, sich bereits Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Er wusste, dass Mäuthis immer schon früh da zu sein pflegte, und bat den Pedell, ihm auszurichten, dass er ihn sprechen müsse.

      Er wartete in dem schwach beleuchteten Winkel des Korridors, der zum Verwaltungstrakt führte, den vor Nervosität halbblinden Blick nach unten gerichtet, wo er in dem schwarz-weiß-grauen Gewimmel des Granitfußbodens ertrank und nur an den geradlinigen schwarzen Zierbändern, die die Ränder säumten, immer wieder ein wenig Halt fand. Dann starrte er, wie es ihm schien, eine herzklopfende Ewigkeit lang auf die schwere, dunkle Holzschwingtür und wusste nicht, ob er sich wünschte, irgendetwas möge geschehen, das das Bevorstehende unnötig, unmöglich machen oder wenigstens aufschieben würde, oder doch lieber, dass er es so rasch wie möglich hinter sich bringen möge. Dann wurde die Tür immer noch viel zu bald aufgestoßen mit hörbarem Luftzug, schwang noch ein paarmal mit nachlassenden Schlägen hin und her, während Herr Mäuthis ihm mit fragender Miene entgegenkam.

      Mehrere Anläufe brauchte er für seine Beichte, wusste plötzlich nicht, wo anfangen, brachte nur gestammelte Satzfetzen hervor, bis Mäuthis ihn unterbrach: „Tut mir leid, Junge, aber ich hab gar nichts verstanden. Nun beruhige dich doch erst einmal, und dann fang noch mal von vorne an.“ Da nahm er sich zusammen: „Das Buch... Ihr Buch - ich hab’s...“ - „Na, was denn - verloren?!“ - „Nein. Es ist... kaputt!“ Und dann schaffte er es doch endlich, die Geschichte einigermaßen zusammenhängend zu erzählen. Herrn Mäuthis Gesicht wurde tatsächlich ernst, und ein Ausdruck von Enttäuschung lag darin. „Ja, nun zeig es mir doch einfach mal. Vielleicht ist es ja auch nur halb so schlimm.“ Johannes schüttelte den Kopf. „Ich hab es nicht hier, es ist zuhause. Wir haben, Mutter und ich, in der Nacht versucht, zu retten, was zu retten ist. Ich weiß nicht, wie es jetzt genau aussieht, aber es wird ganz sicher nicht mehr heile!“ Tränen liefen ihm jetzt über die Wangen, und in den Augen stand eine so tief empfundene traurige Reue, dass sich schon wieder Mitleid in den Groll des Lehrers mischte.

      „Die schönen Bilder! Die Farben sind verlaufen, überall sind Flecken, und das geht nicht mehr weg, auch wenn es mal ganz trocken ist... Es tut mir so leid! Aber, ich will es ersetzen, ich werd sparen, ich werde mehr arbeiten, bis ich es Ihnen wieder kaufen kann!“

      „Nun pass mal auf, Johannes“ - die Stimme klang zwar etwas reservierter als sonst, aber doch nicht ganz so streng und kalt, wie der Junge es befürchtet hatte. „Ich muss jetzt leider noch mal zum Rektor, bevor der Unterricht beginnt. Wir sprechen später noch mal drüber, ja? Wir sehen uns dann in der Klasse. - Und: lass den Kopf nicht hängen! Wir finden schon eine Lösung.“

      Als Herr Mäuthis wenig später ins Klassenzimmer kam, brachte er eine neue Schülerin mit - das fremde Mädchen von gestern. Er stellte sie vor - „Das ist Nomi Beatritsch. Sie ist gerade erst ins Viertel zugezogen und wird ab heute mit uns lernen“ - und wies ihr einen freien Platz in der Mädchenhälfte zu. Alle Köpfe drehten sich und Getuschel breitete sich aus. „Ruhig, Kinder!“, mahnte der Lehrer, „Freundschaft schließen könnt ihr in der Pause noch!“

      Den ganzen Vormittag über hatte Johannes den Eindruck, Herr Mäuthis beachtete ihn demonstrativ weniger als sonst, und er litt schrecklich unter dem Bewusstsein seiner Verfehlung und dem obsessiven Gedanken, ein für alle Mal in Ungnade gefallen zu sein. Die Stunden krochen quälend dahin, er wünschte sich weit weg und außer Sichtweite, sehnte das Läuten der Glocke zum Schulschluss herbei, und hatte doch auch wieder Bauchgrimmen, wenn er an die Fortsetzung der Aussprache dachte.

      Mäuthis' Aufforderung, bis zur Pause zu warten, um mit der neuen Schülerin Freundschaft zu schließen, war wohl mehr eine verkappte Ermahnung, ein indirekt geäußerter Wunsch gewesen. Von Freundschaft-Schließen konnte während der Hofpause denn wirklich keine Rede sein. Das Mädchen hatte erst gar keine Anstalten gemacht, sich zu den anderen zu gesellen; sie hatte wohl nach deren Blicken und Getuschel und nachdem ihre Banknachbarin demonstrativ ein Stück weggerückt war, als sie sich zu ihr setzte, nicht viel Entgegenkommen erwartet und sich gleich in eine Ecke des Hofs zurückgezogen, wo sie jetzt mit einer Schulter an der Mauer lehnte und abwechselnd mal zu Boden und mal verstohlen und scheu zu den lärmenden, rennenden, streitenden oder schwätzenden Gruppen hinüber sah.

      Bald waren ihr jedoch einige ihrer Klassenkameraden gefolgt, und die verteilten sich jetzt in einer interessanten geometrischen Konstellation um sie her: Der Abstand und die Haltung jedes Einzelnen zu ihr waren offensichtlich ein mathematisches Resultat aus den Faktoren Neugier, Sympathie, Ablehnung, Aggression beziehungsweise ihrem jeweiligen Grad der Ausprägung.

      Da gab es eine äußere Runde der eher mäßig Interessierten, die aber auf dem Laufenden sein wollten und sich hauptsächlich untereinander beredeten, nur hin und wieder einen Blick in Richtung des Mädchens werfend. Hier fand sich Frieda in eifrigem Klatsch mit ein paar Freundinnen.

      Etwas näher standen solche, die wohl noch nicht recht wussten, welche Stellung sie einnehmen sollten; die hatten einen Punkt auf der Mitte zwischen Anziehung und sicherer Entfernung eingenommen, musterten das Mädchen unschlüssig und skeptisch und blieben ansonsten inaktiv - zu denen gehörten Fritz und Agnes.

      Ganz außen kreisten ein paar Spaßvögel, die mit Fingern auf das fremde Kind wiesen und sich gegenseitig in die Seite stupsten, offensichtlich dabei irgendetwas Ehrenrühriges äußerten und dann in schallendes, gemeines Gelächter ausbrachen, dann aber bald sich wieder ihren Spielen zuwandten.

      Nur wenige einzelne hatten sich bis innerhalb des ersten Zirkels angenähert, darunter Karl, Rudolph und Elsa; unter denen gab es diejenigen, die mit grobem Spott und bösartigen Schmähreden, laut und deutlich in Hörweite des Mädchens geäußert, ihrer Verachtung Luft machten; so rief Rudolph: „Die stinkt, sie ist dreckig, das hat Erika gesagt - die Arme! Der Mäuthis sollte die besser allein an ein Pult setzen, das kann man doch niemandem zumuten!“ Und Karl, dessen unmittelbare Nachbarn sie und ihr Vater ja seit zwei Tagen waren, stimmte ein: „Genau! Und außerdem: der Vater ist ein Galgenvogel, das sieht man ja schon von weitem, da wird die Tochter auch nicht besser sein!“ Andere dagegen fühlten sich von der eher gefühlten als tatsächlich wahrnehmbaren Fremdheit und der unaufdringlichen Scheu der Neuen eher angezogen in einer Art wohlwollender Neugier. Zu denen gehörte Elsa, die die beiden gleich empört zurechtwies: „Ihr seid ja so gemein! Lasst sie doch in Ruhe, die hat euch doch gar nichts getan! Und schaut euch doch bloß mal an: ihr seid doch selber dreckig!“ Und zu dem Mädchen selbst: „Hör bloß nicht auf die. Die sind immer so, nicht nur zu dir. Die können wohl einfach nicht anders.“

      Nur Johannes hatte sich keiner dieser Gruppen und Kreise angeschlossen. Er stand, wenn auch ganz in der Nähe, genauso abseits wie die Neue und war viel zu sehr in seine eigenen Sorgen eingesponnen, um sich an irgendetwas zu beteiligen. Auch er lehnte an der Mauer, die Hände in den Hosentaschen, scharrte mit einem Fuß flache Streifen in den festgestampften Sandboden und kaute an seinem Kummer. Nur als die Stimmen um das Mädchen laut wurden, sah er kurz hinüber und vergaß