Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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Mutter überlegte kurz: „Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich dachte, die ziehen in großen Sippschaften mit Wohnwagen durch die Gegend. Manche glauben ja auch, sie stehlen wie die Raben. Insofern wäre es nicht so nett, wenn die Gulachs uns Strauchdiebe in die Nachbarschaft gesetzt hätten. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, am Ende werden sie wohl auch nicht schlechter sein als andere Leute.“

      Jetzt lag er da und konnte nicht einschlafen. Auf das Dach über ihm und ans Fenster klopften letzte verwehte Regentropfen, nebenan hörte er die Mutter noch räumen und richten. Er dachte noch einmal an das fremde Mädchen, wie es da gestanden und zu ihnen herübergesehen hatte. Sehr dunkelbraune oder schwarze lange Haare hatte sie gehabt, ansonsten war eigentlich an ihr nichts weiter Ungewöhnliches gewesen. Natürlich konnte man aus der Entfernung auch nicht viel mehr erkennen; jedenfalls trug sie keinen kunterbunten weiten langen Rock und keine übergroßen Ohrringe, sondern steckte in genauso einem abgetragenen, unbeholfen geflickten wadenlangen Kleid - Farbe unbestimmt - mit Schürze darüber wie alle Mädchen hier; vielleicht war die Hautfarbe eine Schattierung dunkler als die der meisten Leute, die er kannte, aber Rudolph und er selbst waren auch etwas brauner als zum Beispiel der blasse Fritz oder als Frieda mit ihren fast rötlichen Haaren... Ob sie, die Neue, wohl Lust gehabt hätte, sich zu ihnen zu gesellen, wenn sie nicht so ablehnend zurückgestarrt hätten? - Ein wenig erinnerte ihn die Szene an die exotischen Begegnungen mit den Südseebewohnern aus Herrn Mäuthis’ Buch... - Da saß er blitzschnell kerzengerade und hellwach im Bett: Du lieber Himmel, das Buch! Das hatte er doch vollkommen vergessen, das lag ja noch draußen unter dem Busch am Kanal! Und in all dem Regen! Sein Herz begann wild zu klopfen, ihm wurde ganz schlecht und schwach, und schon kamen ihm auch die Tränen, während er von seiner Pritsche sprang, fast schon im Gehen sich in die noch feuchten Kleider zwängte und durch die Küche zum Ausgang lief. Die Mutter rief ihm nach, wohin er denn noch wolle. „Hab was vergessen“, gab er schon in der Tür über die Schulter zurück und war schon von der Dunkelheit verschluckt. Er ging nur ein paar Meter, da wurde ihm klar, dass er ein Licht brauchen würde und rannte noch mal zurück. Mit einer Laterne machte er sich erneut auf den Weg. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte das aufsteigende Weinen hinunter - noch wollte er die Hoffnung, dass das Gebüsch das Buch ausreichend geschützt haben könnte, nicht ganz aufgeben. Aber wenn er an den heftigen, schweren Guss und den dichten Dauerregen dachte, in den dieser übergegangen war und der doch bestimmt eine Stunde mindestens angehalten hatte...

      Die unruhige Flamme seiner Laterne warf ihm eine ständig die Form wechselnde mattgelbe Lichtinsel vor die Füße; mal rutschte sie an einer fleckigen Hauswand nach oben, mal sprang sie durch Torbögen in Hofeinfahrten, strich über Mauerecken und Zaunlatten, schoss an Baumstämmen empor bis in die Kronen und zeichnete zuckende, quicklebendig scheinende Schattenrisse aus den vordergründigen Zweiggeflechten auf die dahinter und darüber liegenden Blätter, streifte über Gräser und struppiges Kraut am Boden, holte das Weidenbäumchen aus der Dunkelheit, fand den Stein, den Strauch daneben, und da - zitterte sie über der Kante eines rechteckigen Gegenstandes.

      Er setzte die Laterne ab und zog zwischen nassem Laub, aufgeweichtem, matschigem Boden und tropfenden Zweigen das Buch hervor. Dreimal so schwer war es geworden, und dicker schien es auch in dem unsicheren Licht. Unter dem Druck seines Zugriffs gab es ein leises Schmatzen von sich und Tropfen pressten zwischen den Seiten hervor. Er nahm es auf, so vorsichtig es ging, griff die Laterne und ging zurück. Nun ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wut, ungerechte Wut auf die Kameraden, dass sie ihn nicht hatten in Ruhe lassen können, Zorn auf sich selbst, und Reue, unerträgliche Reue und der heiße Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können - warum hatte er das Buch nicht zuerst nach Hause gebracht? Wie konnte er es einfach so im Gras liegen lassen? Wie sollte er das bloß Herrn Mäuthis erklären? Was würde der sagen? Er sah schon vor sich, wie dessen wohlwollende, freundliche Miene erstarrte und Enttäuschung und kalte Ablehnung sich darauf malten. Wie gut er es mit ihm gemeint hatte und wie er ihm vertraut hatte - das wäre nun für immer vorbei - das Vertrauen hatte er nicht verdient, das Wohlwollen verscherzt...

      Schluchzend, das Buch mit einem Arm an sich gedrückt, trat er in die Stube.

      „Hannes, was hast du denn? Was ist denn passiert?“ Stumm hielt er der Mutter das Buch hin, die ihn verständnislos anblickte.

      „Aber Kind, du musst mir schon erklären, was los ist!“

      Als er fertig war mit dem kurzen Bericht und gleich wieder in Tränen ausbrach, sagte sie: „Aber, es ist doch nur ein Buch! Ich dachte wunder, was Schreckliches geschehen sei!“

      „Aber verstehst du denn nicht? Er hat es mir doch geliehen, ich hätte es ihm doch heil wieder zurückgeben müssen. Und: ‚nur ein Buch’! - es ist doch so ein schönes und wertvolles, und er hat es so gern gehabt!“

      Viel Schlaf bekamen beide nicht in dieser Nacht, denn als ihr die Ernsthaftigkeit von Johannes’ Verzweiflung und auch die Tragweite des Missgeschicks klar wurde, bot ihm die Mutter an zu versuchen, was man irgend vielleicht doch noch reparieren könne.

      Die genauere Bestandsaufnahme der Schäden war allerdings niederschmetternd: vollgesogen wie ein Schwamm sperrte das Buch die Deckel auseinander, so dass es am Vorderschnitt das Zwei- bis Dreifache der ursprünglichen Stärke aufwies; die Blätter hatten sich gewellt, und das Wasser, das zwischen ihnen austrat, war verdächtig bunt gefärbt und ließ für den Zustand der prächtigen Farbdrucke das Schlimmste befürchten; die Buchdeckel selbst waren verquollen und hatten sich konkav aufgewölbt, streckten die aufgebrochenen, filzig ausgefaserten Ecken von sich. Vielfach klebten Seiten aneinander und bildeten dicke Blöcke, und beim ersten zaghaften Versuch, eine am Rand zu fassen und umzublättern, riss die Ecke einfach weich und geräuschlos aus. Da verließ Johannes schon der Mut, und er wollte gleich aufgeben. Die Mutter aber hatte Ideen, wie man vorgehen könne, und so arbeiteten sie eine ganze Weile konzentriert und angespannt zusammen.

      Schlammspritzer und Grasfetzen entfernten sie vorsichtig mit feuchten Lappen. Sie ließen das Buch sich so öffnen, wie es die zusammenhaftenden Blätter erlaubten, und versuchten von da aus, die übrigen Seiten mit einem Messer voneinander zu trennen; das ging nicht immer ohne weitere Schäden ab; an manchen Stellen war das Papier so weich geworden, dass es sich einfach in kleinen Fetzen löste; es blieben Stücke an der einen Seite hängen, und die andere behielt ein Loch; oft auch hinterließ der Druck der einen Seite eine schattenhafte Spur auf der anderen, so dass ein unentzifferbares Zeichenwirrwarr entstand. Besonders Johannes passierten diese Dinge immer wieder, zu sehr zitterten ihm die Hände in seiner Aufregung und Ungeduld, den Schaden ungeschehen zu machen. Irgendwann meinte die Mutter, es hätte so doch keinen Sinn, zuerst müsse das Papier etwas trockener werden. Sie steckten einen Holzstab vorsichtig zwischen Rücken und Block hindurch und hängten das Buch so, die Seiten nach unten, in die Nähe des wieder entfachten Herdfeuers.

      Nun schickte die Mutter den Jungen ins Bett und versprach, selbst aufzubleiben und ihr Bestes zu tun. Nach einigem Widerspruch gab er nach und legte sich hin. Doch verbrachte er die Stunden bis zum Morgen zwischen wachem Gram und aufgeregten, ereignisreichen Träumen. Da sah er hilflos zu, wie Fritz, behindert durch ein dickes, schweres Buch, das er mit einem Arm festhielt, an einer Mauer hinaufkletterte, den Halt verlor und in die Tiefe stürzte; dabei entglitt ihm das Buch und löste sich in Hunderte einzelner Blätter auf, die alle nach und nach hinabtaumelten und in den Kanal fielen; er rannte hin und konnte nur noch zusehen, wie sie langsam tiefer und tiefer unter das Wasser sanken, wobei Schrift und Bilder sich allmählich auflösten, Blumen, Vögel, Bäume ihre Konturen verloren und schließlich nur noch als formlose Farbschlieren im Wasser schwebten. - Er stand mit furchtsam aufgerissenen Augen vor Herrn Mäuthis, der mit böse entstelltem, immer höher, größer und bedrohlicher über ihm ragendem Blick zurückstarrte, während sich sein Gesicht in dasjenige seines Vaters verwandelte, dann mit verurteilender Ablehnung den Kopf schüttelte und ihn schließlich, sich auflösend wie vorher die Bilder aus dem Buch, allein zurückließ. - Er stand unten am Ufer, aber anstelle des Kanals lag da das Meer vor ihm, um ihn her ein Wald aus unvertrauter Vegetation; in einiger Entfernung ein rasenbewachsener, baumbeschatteter Platz; zwei Kinder machen sich dort mit etwas zu schaffen, ein Junge und ein Mädchen; er geht zögernd auf sie zu, da erkennt er Fritz in dem Jungen, das Mädchen aber ist ihm fremd, nur lange dunkle Haare kann er ausmachen; die beiden legen