Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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wir die verrücktesten Kletterpartien, bringen uns halb um mit Zirkusakrobatik, um über die Mauer zu gucken, und hier ist die ganze Zeit einfach eine Tür!“

      Durch Fritzens Absturz war hier im unteren Bereich ein ganzes Stück der Pflanzenmatte von der Mauer losgelöst und heruntergerissen worden und hatte wie ein beiseite gezogener Vorhang eine Fläche nackter Wand freigegeben. Und gerade dort befand sich eine kleine unscheinbare eiserne Tür, deren rostige Farbe sich von dem alten Ziegelrot der Backsteine auch noch kaum abhob.

      „Dann war sein Unfall ja eigentlich eine richtig gute Sache!“ rief einer; und „ja, die paar blauen Flecken und Kratzer ist es wirklich wert gewesen“, ein anderer. Und schon standen alle aufgeregt und höchst gespannt und sahen zu, wie einer nach dem anderen sich an der Klinke zu schaffen machte - nur, da bewegte sich gar nichts.

      „Eingerostet - so ein Mist!“

      „Dann müssen wir’s mit Werkzeug probieren.“

      Da liefen ein paar, um zuhause nach dem Nötigen zu suchen, und man machte sich mit Scheren, Messern, Schraubenziehern, sogar ein Stemmeisen war aufgetaucht, ans Werk. Man versuchte, das Schlüsselloch, das mit Sand, Erde, Steinchen, Stängeln verstopft war, frei zu bekommen, man suchte eine Stelle, wo der Spalt zwischen Türblatt und Rahmen groß genug war, um das Stemmeisen anzusetzen und die Tür aufzuhebeln - alles vergebens! Es war, als wäre die Eisentür in die Ziegelmauer eingeschmolzen, hätte sich mit ihr zu einer untrennbaren Fläche ohne irgendeinen Ansatzpunkt verbunden - kurz, als wäre sie als Tür eigentlich inexistent, eine Attrappe, eine Täuschung, eine Herausforderung und Verhöhnung zugleich.

      Eine ganze Weile mühten sich die Kinder ab und rückten ihr mit allen erdenklichen Utensilien, allen möglichen Ideen zu Leibe, aber schließlich mussten sie einsehen, dass auch hier nichts auszurichten war, und gaben auf.

      Die meisten blieben aber noch an Ort und Stelle, standen beisammen und, da ihre Neugier nach wie vor unbefriedigt blieb, ließen sie eben ihren Spekulationen darüber freien Lauf, was sich denn nur hinter der Mauer verbergen könnte. Dabei zeigten sich zwei ganz konträre Fraktionen: die einen hielten sich mit ihren Vermutungen eher an Dinge, die mit nüchternem Realismus einigermaßen vereinbar waren; die anderen sagten sich, wenn man schon nicht wissen könne, wie diese Realität beschaffen wäre, dürfe man ruhig seine Phantasie sich austoben lassen. Und so stellte sich Frieda ein wunderschönes Schloss vor, vielleicht ein Ferienschloss, wo Kaiser und Kaiserin und Prinzen und Prinzessinnen ihre freie Zeit verbrächten. „Warum nicht gleich der Kaiser von China?“, machte Rudolph sich lustig. „Ja, und warum eigentlich nicht?“, gab Frieda zurück. „Kann doch sein, wenn der mal mit seiner Familie zu Besuch ist, darf er dort wohnen und hat eine ganze Heerschar von Dienern und Dienerinnen für sich, und kriegt den ganzen Tag die leckersten Sachen gekocht. Und alles Geschirr und Besteck - und die Waschschüsseln - und ... und die Nachttöpfe sind aus Gold, und die Spiegel aus Silber, und auch die Kutschen sind aus Gold und Silber, und die Vorhänge und Sofas aus Samt und Seide, und überall glitzern Edelsteine, und alles ist herrlich und reich und ...“ - Was im Moment aber vor allem glitzerte, das waren Friedas Augen, denn sie hatte sich richtig in Verzückung geredet.

      „Ich stell mir lieber vor, dass dort das Schlaraffenland ist“, meldete sich Karl zu Wort, „wisst ihr noch, aus der Geschichte, die wir mal im Lesebuch hatten? Ach, denkt euch doch: schon allein die dicke Mauer aus Grießbrei, durch die man sich erst durchfuttern dürfte. Und dann: Flüsse und Seen aus Milch und Honig und Saft, die gebratenen Vögel, die einem in den Mund fliegen, die Würste, Brötchen, Kuchen, die man sich von den Bäumen pflücken und aus den Zäunen brechen könnte. Jederzeit genug zu essen und zu trinken, ohne einen Finger zu rühren!“

      „Bah, das sind doch alles Kindermärchen!“ meinte Rudolph.

      „Womöglich ist ja einfach bloß ein Gefängnis dahinter“, sagte Agnes. „Von dieser Seite her jedenfalls sieht die Mauer eher nach so was aus.“

      „Aber dann hätte man das doch längst mitgekriegt“, gaben die anderen zu bedenken.

      „Also, ich könnt’ mir vorstellen“, kam endlich Rudolphs Beitrag, „dass da irgendwas ganz Geheimes untergebracht ist, von der Regierung oder vom Militär. Vielleicht Verstecke, wo sich die in Sicherheit bringen können, wenn mal Krieg ist. Oder auch, dass dort was gebaut wird, von dem noch niemand wissen darf, Waffen oder so was... - aber“, unterbrach er sich, „sagt mal, wer ist eigentlich die da?“ und er deutete in Richtung der Häuser, wo in einiger Entfernung ein Mädchen stand und zu ihnen herüber sah. „Die steht da schon 'ne ganze Weile und beobachtet uns.“

      Da konnte Karl Auskunft geben: „Die ist heute Morgen mit ihrem Vater bei uns eingezogen, in den Schuppen vom alten Schleifer-Franz, der doch neulich gestorben ist.“

      „Sieht aus wie 'ne Zigeunersche“, kommentierte Rudolph mit abschätziger Miene.

      „Sagt mein Vater auch“, stimmte Karl zu, „und der Mann erst! Ich weiß nicht, ob ich das so gut finde, die so dicht auf der Pelle zu haben. Aber Papa hat eben die ersten genommen, die kamen, damit er bald wieder Miete kassiert.“

      Unter den neugierigen und kritischen Blicken der Nachbarskinder hatte das Mädchen längst wieder kehrtgemacht und war die Straße entlang zwischen den Häusern verschwunden.

      „Vielleicht“, griff Agnes das alte Thema wieder auf, „vielleicht gibt’s da auch einfach ein großes Lager für irgendwas, Essen oder so, für schlechte Zeiten, und damit nichts geklaut wird, haben sie so eine hohe Mauer drumrum gebaut.“ - „Na, wie schlecht sollen die Zeiten denn dann noch werden, bevor sie das rausrücken?“

      „Aber es könnte doch auch irgendwas viel Schöneres sein, zum Beispiel ein Heim für kranke Kinder oder so was“, war Elsas Vorschlag, „wo sie ihre Ruhe haben sollen, um schnell wieder ganz gesund zu werden. Und dann gäbe es da einen richtig schönen großen Garten mit tollen Blumen und Spielsachen, Schaukeln und so, und irgendwie müsste immer die Sonne scheinen, auch wenn’s auf unsrer Seite regnet oder schneit...“

      Jetzt schaltete Fritz sich auch noch ein: „Habt ihr denn eigentlich noch gar nie daran gedacht, dass da das echte Paradies sein könnte? Irgendeinen Grund muss es doch haben, dass unsere Straße so heißt. Dann wäre sicher wirklich immer Sonnenschein, und überall würden Engel rumfliegen, und keiner hätte Sorgen; und vielleicht wären ja die gestorbenen Leute dort und hätten’s gut, Johannes’ Vater zum Beispiel und meine kleine Schwester, die müssen doch irgendwo geblieben sein.“

      „Aber Fritz, das war doch anders, du verwechselst da was: In den Himmel kommen die Toten, und das Paradies ist doch das mit Adam und Eva, mit der Schlange und dem Apfelbaum.“ - „Ja, ja, und die Mauern müssen so hoch sein, damit die Schlange nicht rauskann.“ - „Haha, oder damit der Apfelbaum nicht höher werden kann als die Mauer und garantiert nie einer von den Äpfeln auf unsere Seite fällt!“ - „Na, ich dachte ja bloß“, meinte Fritz kleinlaut, „ich hab’ geglaubt, das wäre alles dasselbe.“

      So standen sie und spekulierten und diskutierten, und keiner merkte, wie sich der Himmel rasch zugezogen und verdüstert hatte; plötzlich und ohne Vorwarnung klatschten ihnen die ersten dicken kalten Tropfen ins Gesicht, und eh sie sich’s versahen, prasselte schon ein Wolkenbruch herunter, dass es eine Art hatte. Blitzschnell stoben sie alle auseinander und jeder lief, so rasch er konnte, heim.

      8. Reue

      An diesem Abend lag Johannes ungewöhnlich früh im Bett. So pudelnass war er, trotz des kurzen Weges, zur Tür hereingestürmt, dass die Mutter ihn anwies, gleich die Sachen auszuziehen und sich eine Decke umzuhängen. Sie hatte sowieso gerade am Küchentisch gestanden und die Auftragswäsche gebügelt. Als sie damit fertig war, versuchte sie also, seine Hose und sein Hemd, so gut es ging, trocken zu bügeln, damit sie am nächsten Tag wieder benutzbar wären, und er hatte währenddessen wie ein Indio in seinem Poncho auf einem Schemel am Herd gehockt, wo die Mutter immer wieder das Eisen erhitzte, hatte ihr zugesehen und von den Abenteuern des Nachmittags erzählt, was bei seiner Mutter allerdings ein besorgtes Kopfschütteln hervorrief.

      „Hast