Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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der zu dieser ersten Gruppe gehörte, aber anscheinend auch die Leitung des Unterfangens übernommen hatte, die Mädchen mögen sich auf die Tischränder setzen oder sich so dagegen lehnen, dass sie stabil blieben. Und ein paar von ihnen sollten den jeweils nächsten Kletterern Hilfestellung leisten, halten und schieben und aufpassen, dass keiner fiele. Danach kamen die nächsten an die Reihe, zuerst auf die Tische zu steigen und dann irgendwie zu versuchen, ihren Kameraden auf die Schultern zu klettern. Das erwies sich allerdings schon jetzt als gar nicht so einfach. Doch mithilfe der Mädchen und der Jungen der ersten Reihe, die ihnen Baumleiter machten, klappte es nach einigem Probieren, so dass nun tatsächlich unten auf den Tischen sechs und auf deren Schultern fünf Buben standen und sich krampfhaft an den Zweigen der Kletterpflanzen oder an der Mauer selbst hielten.

      „Jetzt die nächsten!“ rief Rudolph. Sehr zögerlich machten sich diesmal vier Jungs daran, die Tische zu erklimmen, die zum Glück dank der Mädchen fest genug standen. Dann sahen sie skeptisch und verzagt nach oben, und einer von ihnen rief plötzlich: „Die Mauer ist höher geworden! Ich schwör’s euch, die ist gewachsen seit vorhin!“

      „Ach was“, verwies ihn Rudolph, „du spinnst doch! Wie soll die denn gewachsen sein? Nun stellt euch nicht so an und macht schon voran!“

      „Das wird nie was!“ meinte Johannes ungläubig.

      „Doch, es muss klappen. Bei den Zirkusleuten ging es doch auch“, widersprach Rudolph.

      „Na, die werden ja wohl auch ein Weilchen geübt haben!“

      „Jetzt haben wir angefangen, jetzt ziehen wir’s auch durch!“ befahl Rudolph, und der erste Knabe wurde geschoben, gehoben, gezogen, und der nächste, und noch einer, und obwohl die Konstruktion öfter bedenklich wackelte, bekam man es irgendwie hin, und wer einmal oben war, konnte sich durch vorsichtiges Zurücklehnen gegen die Mauer hin einigermaßen Stabilität verschaffen. Alles hielt vor Aufregung den Atem an.

      „Wir müssen eine Reihe weglassen, noch eine schaffen wir nicht. Dann muss der Fritz eben früher mit dem Klettern anfangen.“

      Der stand, käseweiß und noch kleiner und schmächtiger in sich zusammengeschrumpft als sonst, ein wenig abseits. „Komm, mach schon, Fritz, wir können so nicht ewig stehen!“

      Offensichtlich hatte man Fritz für diese Aufgabe bestimmt, da er zwar klein und leicht, aber doch schon älter war als die anderen Kinder in diesem Format, und man ihm deswegen wohl zutraute, überlegter und koordinierter zu handeln als ein Jüngerer. Das zeugte nun nicht gerade von großer Menschenkenntnis auf Seiten der „Expeditionsleitung“, aber da hatte wohl mehr die Wunschvorstellung Pate gestanden als jede realistische Einschätzung.

      Als Johannes hörte, dass Fritz diese waghalsige Klettertour unternehmen sollte, hätte er am liebsten protestiert, aber in seiner Position im Fundament der Pyramide, das sicher nicht mehr ewig würde aushalten können, wollte er eine solche Unruhe und Verzögerung lieber nicht riskieren.

      Mit abwechselnden Bitten, Drohungen und Ermutigungen brachte die ganze Gruppe Fritz schließlich dazu, an den Tisch heranzutreten, sich aufhelfen zu lassen, und dann ergriff er zitternd ausgestreckte Hände, zog sich in die Baumleitern empor, trat mal vorsichtig und unsicher, mal ungeschickt und grob im Glauben, das Gleichgewicht zu verlieren, auf Schultern, griff in Haarschöpfe oder umklammerte Hälse seiner Kameraden, die, von zusammengepressten Lippen oder verzerrten Mündern abgesehen, gute Miene zum bösen Spiel machten, alles im Sinne der gemeinsamen Sache. Die Untengebliebenen schrien ihm zu, welche Bewegung er als nächstes ausführen sollte: „linkes Bein nach oben, jetzt rechten Fuß nach rechts“, und so fort.

      Mit zitternden Armen zog er sich an einem der obersten Jungen hoch, und der riet ihm währenddessen: „Gleich über uns hier ist ein dicker Ast. An dem hältst du dich erst mit einer Hand, dann auch noch mit der anderen fest und ziehst dich hoch auf unsere Schultern. Dann gehst du mit dem linken Fuß auf die äußere Schulter von Otto und dann mit dem rechten auf die andere, und von dort aus kannst du dann in den Zweigen weiterklettern. Wir passen auch gut auf!“ Kalter Schweiß überzog Fritz’ Gesicht und das Zittern war jetzt in seinem ganzen Körper, nicht mehr nur in den Armen. Einzig die Furcht vor der Verachtung der Kameraden und der große Wunsch, Johannes für ein Mal zu beeindrucken, gaben ihm gerade genug Kraft, gegen die Angst weiterzumachen. Doch er spürte das Klopfen seines Herzens bis in den Mund und hatte das Gefühl, es immer wieder hinunterschlucken zu müssen.

      Er folgte den Anweisungen der anderen, so gut er konnte, und das hieß langsam, zögerlich, manchmal steckenbleibend, weil er rechtes und linkes Bein verwechselte oder nicht wusste, wohin mit dem Fuß, den er gerade eben unter Aufbietung aller Überwindungskraft angehoben hatte. Die anderen aber halfen wirklich sorgsam und hielten, stützten, dirigierten ihn. Dann stand er auf den Schultern des äußersten Jungen in dieser Reihe, die Hände fest um einen der dickeren Äste geklammert, und setzte den linken Fuß auf einen weiteren stabil scheinenden Ast, zog sich ein Stück weiter nach oben und verließ mit dem rechten Fuß nun auch noch den letzten Kontakt mit der menschlichen Pyramide. Er schaute vorsichtig nach oben - Gott, welch eine Illusion! - durch die Lücken zwischen dem Pflanzengestrüpp konnte er sehen, dass das freie Stück Mauer oberhalb in Wirklichkeit viel zu breit war. Das würde nicht einmal der stärkste, mutigste, geschickteste Kletterer bewältigen können. Es hätte ja gar keinen Sinn, dass er weitermachte, bloß, das würden die anderen ihm nie und nimmer glauben.

      Die sahen ihn den Kopf in den Nacken legen und nach oben spähen, dann den Kopf schütteln und nach ein paar Sekunden sehr zögerlich nach einem höheren Ast greifen und mit einem Fuß einen guten Halt suchen. Und nun ging alles sehr schnell: ein Griff, ein Zug nach oben, ein Nachgeben, Sich-Ablösen des Pflanzentriebs von der Mauer, ein kurzer Aufschrei, ein Absacken um ein, zwei Meter unter Mitnahme eines Bündels grünen Gezweigs; dann ein Absturz in Etappen, immer wieder abgebremst von dem Gestrüpp, das aber genauso unaufhaltsam immer wieder mit lautem Knacken, Rascheln und Schleifen unter der plötzlichen Belastung nachgab; es sah aus, als hangelte er sich wie ein Äffchen Stück für Stück, aber blitzschnell nach unten, nur dass es der Freiwilligkeit entbehrte und er keinerlei Kontrolle mehr über den Vorgang hatte. Am Ende fiel er den paar Kameraden, die hinzugesprungen waren, in die ausgestreckten Arme und alle zusammen stürzten sie zu Boden.

      Er hatte großes Glück gehabt, weil er nie vollständig den Kontakt mit dem Grünzeug verloren hatte, das ihn zwar recht sehr zerstochen und zerkratzt, dabei aber einen freien Fall aus der doch beträchtlichen Höhe glimpflich verhindert hatte.

      Jetzt drängten sich alle um ihn, der noch benommen und vom Schreck erstarrt am Boden kauerte, die meisten froh, dass nichts Schlimmeres geschehen war, nur wenige enttäuscht und böse, dass er sich so ungeschickt angestellt und das ganze Unternehmen zum Scheitern gebracht habe.

      „Es wäre sowieso nicht gegangen“, sagte er schwach, als er sich ein wenig erholt hatte. „Wirklich, man wäre nie bis oben hingekommen, ich hab’s genau gesehen!“

      Es war seltsam, aber bei allem Versagen, aller vermeintlichen Blamage, trotz der ausgestandenen Angst und trotz der Blessuren, die schmerzten, fühlte sich Fritz in diesem Moment so gut und so selbstbewusst wie schon lange nicht, umringt von den besorgten und erleichterten Freunden - immerhin hatten ja sie ihn in diese Gefahr geschickt und hatte er sich am Ende nicht verweigert, und das Scheitern hatte zu guter Letzt nichts mit seiner furchtsamen Ungeschicklichkeit zu tun gehabt. „Nein, das Stück Mauer über den Pflanzen ist viel zu hoch, das hätten nicht mal eure Zirkusakrobaten hingekriegt!“

      Nun hatten sich natürlich alle gleich gedacht, dass das Ganze eine Schnapsidee gewesen war. Das konnte ja auch überhaupt nicht gutgehen!

      Aus dem beleidigten Widerspruch vor allem von Seiten Karls und Rudolphs entstand ein hitziges Wortgefecht, während dessen Fritz sich mühsam und leise ächzend erhob, seine Kleider abklopfend und seine Wunden inspizierend sich um sich selbst drehte. Plötzlich rief er: „Oh, seht doch mal! Was ist das denn?!“ Als niemand ihn beachtete, zupfte er das zunächst stehende Kind am Ärmel, bis es sich umwandte, und zeigte auf eine Stelle am Fuß der Mauer nur ein paar Meter schräg hinter ihnen. Das andere Kind hatte ein kräftigeres Organ: „He, Leute, jetzt guckt euch das bloß mal an!“, da unterbrachen sie ihren Disput und schauten