Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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in die Hände. Als Junge hab ich das geliebt und immer wieder angeschaut und darin gelesen. Ich musste gleich an dich denken und hab’s einfach mal mitgebracht. Es ist schon ziemlich alt, der es geschrieben hat, hat vor fast hundertfünfzig Jahren gelebt. Aber ich glaube, er war genauso ein neugieriger Kerl wie du; und er war ungefähr in deinem Alter, da hat ihn sein Vater auf eine erste größere Forschungsreise mitgenommen, und nur wenige Jahre später, da war er immer noch fast ein Kind, durfte er ihn auf ein noch größeres Abenteuer begleiten, eine Entdeckungsreise rund um die Welt, und er hatte sogar eine eigene Aufgabe dabei. Er sollte nämlich die unbekannten Pflanzen und Tiere abzeichnen, die man finden würde. Am Ende hat er sogar den ganzen Reisebericht selbst geschrieben, und das ist nun das Buch, das du hier in Händen hältst. Wenn du möchtest, nimm es ruhig mit, und du kannst dir auch Zeit lassen mit dem Lesen und Zurückgeben, ich kenne es ja gut, hat also keine Eile.“

      So Lehrer Mäuthis. Und Johannes wusste vor lauter Stolz und Freude über das Ernstgenommenwerden, über den Vertrauensbeweis kaum, seinen Dank auszudrücken. Und so zog er sich seither Tag für Tag zu seinem Platz am Weidenbäumchen zurück, saß, das große, schwere Buch auf den Knien, den Kopf in die Hände gestützt, und las und schaute mit heißen Wangen, und es kam ihm fast so vor, als sei er selbst mit dabei auf dem altmodischen Segelschiff, bei den Fahrten in unerforschte Gebiete, bei Stürmen und Windstillen, in antarktischer Kälte und tropischer Wärme, bei den Zusammentreffen mit den seltsamen Menschen, deren Verhalten, so fremd und unvorhersagbar es einerseits schien, er sich aber andererseits so gut vorstellen und nachvollziehen konnte.

      Nicht, dass er das Buch Satz für Satz, Seite für Seite von vorne bis hinten durchlesen würde. Dafür stellte es ihn schon sprachlich vor zu große Schwierigkeiten. Das Deutsch, das dieser Junge vor einhundertfünfzig Jahren schrieb, war denn doch teilweise so veraltet, dass es ihm an manchen Stellen trotz mehrmaliger Versuche nicht gelang, das Gemeinte zu entschlüsseln. Dann gab es auch seitenlange Aufzählungen von wirtschaftlichen und soziologischen Daten und Statistiken oder sehr abstrakten Überlegungen, von denen er das meiste überblätterte. Häufig ließ er sich auch einfach von den wunderbaren und detailgenauen Illustrationen fesseln und studierte Bilder von tropischen Pflanzen, von unbekannten Vierfüßern wie Gnus oder Antilopen, von Vögeln und Fischen in leuchtend bunten Farben. Am besten gefielen ihm die Zeichnungen, die um das dargestellte Tier herum auch noch etwas von der Umgebung andeuteten: da saßen kleine Vögel auf Zweigen, große auf Felsen, im Hintergrund Küste, blaues Meer; ein Pinguin auf einer Eisscholle mitten in schwarzgrauer, aufgewühlter See, ein Dreimaster unter voller Besegelung im Hintergrund, oder fliegende Fische über weißem Schaumgekräusel und vieles sehr Exotische mehr.

      So las er sprunghaft, blätterte voraus und zurück, suchte sich die vielversprechendsten Passagen heraus, an denen er sich dann aber auch so richtig festlas. Dabei fand er sich dann immer besser hinein in den Sprachstil und erschloss sich mehr und mehr von den anfangs dunkel gebliebenen Formulierungen.

      Ohne dass er das selbst merkte, begriff er dabei, wie sich Dinge wandelten, verstand etwas davon, was Geschichtlichkeit bedeutete - dass nicht bloß Form, Konstruktions- und Funktionsweise von Schiffen und anderen technischen Gegenständen sich entwickelten, es der Arten, zu essen und zu trinken, zu wohnen, sich zu kleiden, Musik zu machen, viele geben konnte sowohl über die Zeiten als auch über die verschiedenen Weltgegenden hinweg, ja auch im eigenen Kulturraum die Sprache selbst nichts Festes und immer schon so Gegebenes darstellte, sondern Veränderungen unterworfen gewesen war und wohl - wer weiß? - weiterhin sein würde.

      Neue Horizonte eröffneten sich ihm und boten seinen Sehnsuchts- und Fernwehphantasien neue Nahrung, stießen, statt ihm die Erde kleiner, weil bekannter vorkommen zu lassen, im Gegenteil die Türen weiter auf, dehnten ihm die Räume, die selbst einmal zu durchmessen es ihn so zog, noch weiter aus; und das nicht nur im geographischen Sinne: auch die Welt der wissenschaftlichen Neugier mit der Bereitschaft, diese auch in Mut erforderndes und abenteuerbereites Handeln umzusetzen, wurde ihm unmerklich näher gebracht; die Welt auch des kritischen Blicks auf das Gefundene und der raumgreifenden, zeitüberschreitenden Reflexion der Erkenntnisse, des eigenen Tuns...

      * * *

      „Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen... ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet... Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren... Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begonn zu leben... Es währete nicht lange, so sahe man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indessen daß andere... ihre Canots ins Wasser stießen und sie mit Landes-Producten beladeten... Die Menge von Canots, welche zwischen uns und der Küste ab- und zu giengen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar. Ich fing sogleich an durch die Cajütten-Fenster, um Naturalien zu handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwey bis drey Arten unbekannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beysammen... Die Leute, welche uns umgaben, hatten so viel Sanftes in ihren Zügen, als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren-“

      „He, hier ist er ja. Leute, kommt her, ich hab’ ihn!“ Das war unverkennbar Rudolphs nur zu vertrautes Organ, das ihn da mitten in der schönsten Lektüre unterbrach. „Wie ich’s mir gedacht hatte: Da sitzt der Streber mit einem Buch, und“ - er verstellte seine Stimme kindisch-spottend - „das hat der liebe Herr Lehrer seinem lieben Musterschüler geschenkt!“ - „Gar nicht geschenkt - geliehen hat er’s mir!“ protestierte Johannes, „Und außerdem geht dich das überhaupt nichts an!“ - „Stimmt, kann mir ganz egal sein. Aber jetzt musst du aufhören und mitkommen. Wir haben dich schon überall gesucht.“ Inzwischen hatten sich noch ein paar andere Kinder eingestellt, und alle standen nun um ihn, der immer noch auf seinem Stein saß, herum. „Ja, Hannes, komm, wir wollen noch mal versuchen, auf die Mauer zu klettern, und dafür brauchen wir jeden Mann!“

      Oh, das war etwas anderes: Wenn man der Mauer mal wieder zu Leibe rückte, dann durfte er wirklich nicht fehlen! Er klappte das Buch zu und schob es unter den Busch - später könnte er ja noch mal wiederkommen und weiterlesen -, sprang auf und schloss sich den Kameraden an. Das Vorhaben hier war ja von genau derselben Entdeckerneugier und demselben Pioniergeist getragen, mit denen die Lektüre dieses Buches ihn impfte.

      7. Die Mauer

      Im Gehen erklärte man ihm, man wolle eine ganz neue Methode ausprobieren. Die hätten Karl und Rudolph sich einer Truppe von Zirkusleuten abgeschaut, die sie beim Trainieren beobachtet hätten. Man wolle eine Art Menschenpyramide aufbauen, unten die Größten und Stärksten, nach oben die Kleineren und Leichteren, und einer müsse dann das fehlende Stück mithilfe der Efeu- und Weinranken erklettern, die an bestimmten Stellen dieses Jahr sehr dicht, stark und weit nach oben wüchsen.

      In einiger Entfernung von der Mauer blieben sie zunächst einmal stehen und blickten dem Objekt ihrer Herausforderung entgegen; und tatsächlich schien es von hier durchaus zu bewältigen: Wenn man sich ein paar Kinder übereinander dachte, dann musste der oberste an eine Stelle heranreichen, wo der Pflanzenbewuchs kräftig genug schien, um wie ein Baum erklettert zu werden, und von dessen höchsten Zweigen schien der Abstand bis zum oberen Rand gar nicht mehr groß.

      Als sie dann am eigentlichen Ort des Geschehens ankamen, hatten sich dort so viele Nachbarskinder eingefunden, wie man selten auf einem Fleck zusammen sah. Man hatte wirklich alle herbeigetrommelt, derer man irgendwie hatte habhaft werden können. Ein paar hatten auch schon drei, vier Küchentische aus verschiedenen Häusern herbeigeschleppt und so dicht wie möglich am Fuß der Mauer in eine Reihe aneinandergestellt, um schon mal einen gewissen Vorsprung an Höhe zu gewinnen. Nun teilte man die Anwesenden und eifrig auf den Beginn der Aktion Wartenden in verschiedene Gruppen ein, je