Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
Скачать книгу
erwachsene Leute Verkleiden spielen.“

      Die einzigen, die sich gar nicht am Gespräch beteiligten, waren Frieda und Johannes. Die eine hatte zu sehr noch zu knabbern an dem verstörenden Erlebnis, mit dem das Fest für sie zu Ende gegangen war; der andere war ganz in seine Gedanken versunken, in denen der Blick in das Schloss, in dem Reichtum und Einfluss wohnten, der ehrgeizige Wunsch, dereinst „mitreden zu können“, die vielfältigen bunten und exotischen Eindrücke aus den vergangenen Stunden, der Nachhall der Musik, zu dem sich all diese Bilder in beschwingten Kreisen drehten, und dazwischen immer wieder das Aufscheinen eines unmöglichen Blaus, eines unheimlich-aufmunternden, weißen Lächelns und die Vision, von der phantastischen, geheimnisvollen Gestalt bei der Hand genommen und sanft entführt zu werden - „He, Johannes!“ riss Rudolphs Stimme ihn aus diesem Reigen. „Schläfst du schon im Gehen? Oder bist du auch geküsst worden wie Frieda hier, die sich, scheint’s, ja gar nicht mehr von dem Schrecken erholen kann? Dabei wird sie das ja wohl noch öfter erleben, bevor sie alt und runzelig ist.“

      6. „Reise um die Welt“

      Die See lag ruhig und glänzte unter dem wolkenfreien Himmel nach allen Seiten hin endlos in tausend Reflexen des ungehemmten Sonnenlichts. Fast hätte man glauben können, das Schiff läge bewegungslos, doch hob und senkte es sich im ruhigen Atemrhythmus eines traumlos Schlafenden mit einer ansonsten nicht wahrnehmbaren Dünung; hin und wieder knarrte Balken, Planke, Mast, klatschte leicht ein schlaffes Segelende. Ein leises Zischen und Wellenplätschern am Bug war fast das einzige Indiz, dass das Schiff von einem sanften, aber stetigen Wind vorangetrieben wurde und den grenzenlosen, scheinbar aus bloßer golddurchwirkter, luftdurchwehter Bläue bestehenden Raum schwerelos und doch planvoll und richtungsgewiss durchschnitt.

      * * *

      Er stand an der Reling des Vorderdecks, federte das leichte Auf-und-Nieder in den Knien ab und ließ seinen Blick sich in der Weite verlieren.

      Wenige Wochen erst auf See, etwas Übung in Enge, Seemannskost und balancierendem Gang, der Beginn einer wagemutigen Unternehmung, von deren Verlauf und Ausgang nur eines gewiss war: dass sie so glatt, so leicht beschwingt wie dieser Auftakt nicht bleiben würde.

      Und doch: die Hoffnung, dass jene flügelleichten, sonnendurchwärmten ersten Tage als gutes Omen für die ganze Reise zu nehmen erlaubt wäre...

      * * *

      Nach wochenlanger Aussicht auf einen ununterbrochen zirkelgeraden Horizont ein im Spätnachmittagslicht wachsender, zunehmend Konturen zeigender dunklerer Streifen, den man morgen als festes Land betreten würde - Afrika!

      Davor jedoch eine Nacht der Wunder: Nach Sonnenuntergang zünden nicht nur am Himmel ungezählte Lichter, auch das Meer erglänzt in tausendfachem Leuchten, jeder Wellenkamm bildet einen feurighellen Kranz, jedes Wellental breitet einen strahlenden Teppich aus zahllosen Lichtpunkten unter dem Rumpf des Schiffes aus, das so im wahrsten Sinne ein Lichtermeer durchschwebt, und man zwischen oben und unten, Himmel und Erde, Luft, Wasser und Feuer die Orientierung zu verlieren meint.

      Das Wunder des leuchtenden Wassers - es ist mithilfe von in Eimern an Bord gehobenen Proben bald enträtselt: Abertausende kleinster Weichtierchen, die in bewegtem Wasser ihre Fähigkeit des selbständigen Leuchtens aktivieren - enträtselt, aber auch dann noch ein großes, beglücktes Staunen.

      * * *

      Nach mehrtägigem Landgang mit Erkundungswanderungen durch fremdartig wilde Natur- und von europäischen Siedlern nach bekanntem Muster nutzbar gemachte Kulturlandschaft wieder auf See und, tatsächlich, die sorglose Zeit scheint zu Ende: tagelange Stürme, Schwanken und Taumeln, Brecher, die auf Deck schlagen, Ausstattung zerbrechen und Kojen durchnässen, alles noch mit Humor getragen, und dann: Nacht des Grauens und Stunden der Todesangst: eindringendes Wasser, verzweifeltes Ankämpfen der gesamten Besatzung mit Pumpen und Eimern, in Finsternis und Ungewissheit über die Ursache des Unglücks, bis endlich doch nur ein vom Sturm oder den Wellen aufgedrücktes Fenster als undichte Stelle ausgemacht, schnell fest verschlossen, die Kabinen freigepumpt werden können und Erleichterung über die knappe Rettung sich ausbreitet - wie viele ähnlich gefährliche Situationen würde man noch zu bestehen haben bis zum Ende der Reise?

      * * *

      Täglich zunehmende Kälte, in der kaum noch zu trocknenden klammen Kleidung nur schwer erträglich. Das Einerlei unzulänglicher Kost, immer gleicher Abläufe und immer wieder enttäuschter Hoffnungsblitze, endlich Land zu finden. Monatelanges ausweglos erscheinendes Kreuzen zwischen dichter und größer werdenden Treibeisformationen, durch eine seelenleere, in mancher Nacht vom befremdlich-schönen Südpolarlicht überstrahlte Hölle...

      * * *

      Ausweichen vor dem südlichen Winter in wärmere Regionen, Segeln zwischen zahllosen Inseln hindurch, denen es zum Teil erst Namen zu geben gilt, bereist man doch manche der Gebiete als erste Europäer überhaupt. Und hier auch endlich wieder Begegnungen mit Menschen: wohl manchmal feindselig, waffenstarrend gegenüber den Eindringlingen mit ihrer unvertrauten Physiognomie und ihren Riesenbooten, oft aber zögerlich-vorsichtig-freundlich oder gar gleich von Anfang an neugierig, kontaktfreudig, gastfreundlich. Dann leiten Geschenke und Gegengeschenke einen regen Tauschhandel ein, und es gibt Einladungen in die Dörfer zu ausgiebigen Mahlzeiten oder Aufführungen ritueller Tänze und Spiele, man singt Lieder vor in der Runde und lauscht fasziniert denjenigen der weißen Gäste.

      * * *

      Nachdenklichkeiten: diese Besuche in der fremden Welt - würden sie nicht vielleicht böse Folgen haben für die Inselbewohner - vielleicht bislang unbekannte und daher fatale Krankheiten, vielleicht durch die Kostproben der fortgeschrittenen Zivilisation geweckte Begehrlichkeiten, Konflikte ganz neuer Art, Umwälzungen in ihren altbewährten Lebensformen, die sie vielleicht dereinst würden wünschen lassen, die weißen Menschen wären zuhause geblieben und hätten sie nie entdeckt?

      * * *

      Hinter dieser Landzunge hofften sie, eine geschützte Bucht als Ankerplatz für einige Tage zu finden. Als sie schon zu der Wendung ansetzten, um an ihrer äußersten Spitze vorbei in die Bucht einzuschwenken, war es jedoch, als hielte sogar das Schiff vor Staunen inne: Was sie vorfanden, war zwar tatsächlich ein ideal gelegener Hafen; der aber war bereits genutzt auf eine Weise, die sie hier, inmitten der Südsee, nie für möglich gehalten hätten. Eine unübersehbare Reihe aus Hunderten von offensichtlich kriegerisch gemeinten Doppelkanus, weitaus größer als die wendigen Boote für den Alltagsgebrauch, die sie von den meisten bisher besuchten Inseln schon kannten, lagen Seite an Seite, jedes mit hoch hinaufgezogenem, schnabelförmig gebogenem Bug und Heck, mächtigen Verdecken und Aufbauten, alles höchst aufwändig mit Schnitzereien und Bemalungen, mit Wimpeln und Federbüschen dekoriert. Jedes Schiff bot Platz für weit mehr als hundert Mann, und so wimmelte der Strand von einer bunten Menge herausgeputzter und mit Speeren, Keulen, Streitäxten bewaffneter Krieger. Das ganze weite Rund der Bucht bot ein vielfarbiges, prächtiges Bild, und dennoch herrschte eine Stimmung von angespanntem, feierlichem Ernst...

      * * *

      Aufgeregtes Schiffsglockengebimmel und ärgerlich erhobene Stimmen ließen ihn aufschrecken, verwirrt und im ersten Moment nicht ganz im Bilde, wo er sich gerade befand. Zwei Lastkähne waren sich zu nah gekommen, hatten nun Mühe, sich aneinander vorbeizumanövrieren, und die Schiffsleute ließen die Gelegenheit nicht aus, sich gegenseitig mit Gusto zu beschimpfen.

      Johannes runzelte die Stirn und wandte sich wieder dem Buche zu, das er auf den Knien liegen hatte - wie schade, gerade war es so besonders spannend gewesen!

      Hier saß er, an seinem Lieblingsplatz am Kanal, auf einem flachen Stein zwischen Gebüsch und Gestrüpp unter einem der wenigen Bäume, die hier wuchsen, recht gut abgeschirmt und für sich, und hier hatte er schon tagelang in jeder freien Minute gesessen, seit ihn Herr Mäuthis neulich bei Schulschluss gebeten hatte, er möge doch mal nicht gleich weglaufen, er wolle ihn noch kurz sprechen. Er hatte, etwas erschrocken, überlegt, ob er irgendetwas angestellt hatte. Die anderen, die anscheinend Ähnliches vermuteten, grinsten ihm im Hinauslaufen zu.

      „Schau mal, Johannes, ich hab hier was für