Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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daher auch nicht, dass die meisten kaum Ehrgeiz darauf verwendet hatten, besonders originell zu sein. Für ihn war das alles auf völlig verrückte Weise neu. Damen wie Herren hatten mindestens eine Augenmaske angelegt, dazu vielleicht noch einen ungebräuchlichen Hut wie Dreispitz oder Barett die einen, aufwändigen blumen- oder federgeschmückten Kopfputz die anderen aufgesetzt. Es gab jede Menge Dominos, die einfach über ihre eleganten Abendgarderoben weite, wadenlange schwarze Umhänge und die Kapuzen über den Kopf gezogen hatten. Andere hatten aber auch etwas mehr Aufwand getrieben und sich in richtige traditionelle Karnevalskostüme gehüllt oder sich als Figuren aus anderen Zeiten und Sphären verkleidet. Da tanzten dann Harlekins in buntscheckigen Gewändern und glöckchenbehängten Narrenkappen mit Damen in ausladenden Reifröcken und Puderperücken, oder Pierrots in weißen Hosen, Kitteln mit farbigen Bommeln und weißgeschminkten Gesichtern mit Gärtnerinnen in buntgestreiften Kleidern und bändergeschmückten Strohhüten, kleine Körbe mit Blumen am Arm schwenkend; und Edelmänner aus der Renaissance in weißen Strumpfhosen, samtenen Wämsern und halblangen Capes, degenbewehrt, holten Getränke für orientalische Prinzessinnen, die in farbenfrohen Pluderhosen, Stirnbändern und duftigen Schleiern anmutig dahertänzelten.

      Johannes konnte seine Augen nicht von den Leuten lassen - waren das überhaupt wirklich Leute und nicht vielmehr befremdliche Fabelwesen? - und erntete verstörend unheimliche Blicke aus starren Masken, die man sich wie Lorgnette an Stielen vor die Gesichter hielt, als er an einem Tisch vor lauter Faszination beinahe ein halbvolles Sektglas umgestoßen hätte. Verlegen wischte er die verschütteten Spritzer auf und ging rasch seiner Wege.

      Er schob und schlängelte sich durch das Gedränge in einer der Galerien, die die Säle umliefen, als er eine hauchzarte Berührung an der Hand spürte und, nach dieser Seite aufblickend, eigentlich nur ein blaues Leuchten aufschimmern sah, bevor es schon wieder von der Menge im angrenzenden Saal verdeckt war. Etwas fesselte ihn und gefiel ihm so ausnehmend an diesem kurzen Eindruck - es schien ihm, als könne es diese Farbe in Wirklichkeit gar nicht gegeben haben -, dass er ihm durch den weiten Türbogen folgte und ihn zwischen all den unzähligen Figuren wiederzufinden suchte. Immer jedoch, wenn er gerade dachte, er habe ihn entdeckt, schoben sich andere Gäste dazwischen, und wieder hatte er ihn verloren. Irgendwann wurde er an einen der Tische gerufen, damit er dort Ordnung schaffe und abräumen helfe, da musste er seine Suche aufgeben.

      An dem Tisch saßen etliche Herren beisammen, die offenkundig, trotz der scheinbaren maskierten Anonymität, miteinander bekannt waren und sich angeregt unterhielten. Es waren wohl alles teils Kauf-, teils Bankleute, die sich gerade über den Gang der jeweiligen Geschäfte austauschten, und ihren zufriedenen Stimmen war anzumerken, dass in dieser Hinsicht wohl alles zum Besten bestellt sein musste. Einer baute gerade ein neues Haus und berichtete von Streitereien mit dem Architekten, der seine Vorstellung von Standesgemäßheit als zu protzig und vulgär bremsen zu wollen sich herausnahm. Ein anderer war im Begriffe, sich ein Auto anzuschaffen und war hochzufrieden über diesen Schritt, den er mit der neuen Zeit ging. Über Vereinsversammlungen, wo sie den Vorsitz hatten, Wohltätigkeitskomitees, in denen sie Entscheidungen trafen, wurde gesprochen, und Johannes machte seine Arbeit absichtlich langsam und spitzte interessiert die Ohren - das betraf ja im weitesten Sinne ihn selbst, und im Leben nicht hätte er doch je wieder Gelegenheit, so dicht an solche Leute heranzukommen, die Wohl und Wehe von seinesgleichen so sehr bestimmen konnten.

      Zwei Herrschaften saßen wohl im Stadtrat und wussten von Projekten zur Milderung der Wohnungsnot zu berichten, die gleichzeitig ihnen selbst und womöglich noch anderen unternehmungs-lustigen Herren aus der Runde beträchtlichen Gewinn eintragen könnten.

      „He, du da, Junge!“ unterbrach einer die Unterhaltung, „Wenn du schon da bist, geh doch bitte mal noch ein Bier für mich holen!“ - „Ach ja, mir kannst du auch gleich eins mitbringen, und eine Salzbrezel dazu!“

      Als er zurückkam mit den Getränken, hatte das Thema am Tisch gewechselt - man sprach über den Nachwuchs. „Mir macht bloß mein Ältester Kummer“, beklagte sich einer der Herren. „Statt ins Geschäft einzusteigen, das er doch sowieso später einmal übernehmen wird, will er studieren!“ - „Seien Sie doch froh, dass der Junge Ehrgeiz hat! Meiner würde sich am liebsten gleich auf den Lorbeeren ausruhen, die ich im Schweiße meines Angesichts erworben habe.“ - „Na, Ehrgeiz - ich weiß ja nicht! Spinnereien würd’ ich das eher nennen. Philosophie und Griechisch will er studieren - Hungerleiderkünste eben. Und die Firma ist ihm dabei herzlich gleich!“ - „Lassen Sie ihn doch Jura studieren. Das hab’ ich für meinen auch beschlossen. Einen guten Juristen kann jede Firma brauchen, und wenn sich später der Chef selber da auskennt, umso besser.“ - „Also, ich bin bisher auch ganz gut ausgekommen, ohne ein Studierter zu sein.“ - „Mir wär auch lieber, der meine würde die Rechte studieren. Er hat sich in den Kopf gesetzt, Medizin soll es sein! Ich will doch keinen Quacksalber großgezogen haben, der den Leuten in den Rachen guckt und Salbe gegen das Rheuma verschreibt!“ - „Na, so muss das ja nicht enden. Mit dem rechten Geschick kann er doch auch als Arzt Bedeutendes erreichen.“ - „Gott, bin ich froh, dass ich diese Sorgen hinter mir habe! Mein Richard ist ja schon ein paar Jahre älter als Ihre Buben; jetzt ist er endlich untergekommen, und sehr gut sogar: Er hatte ja ein exzellentes Examen hingelegt, aber dann hing er eine ganze Weile in der Luft. Jetzt haben wir ihn aber glücklich im diplomatischen Dienst untergebracht; nächsten Monat geht er ab ins Reich der Mitte, als Sekretär des Botschafters in China.“ - „Na, der ist ja wohl ein gemachter Mann, von dem werden wir dann sicher noch hören!“ - „Ja, mit so einer Laufbahn, kann gut sein, dass er mal zu denen gehört, die mitreden. Dumm ist er ja weiß Gott nicht.“

      Nun fand Johannes beim besten Willen keinen Vorwand mehr, sich länger hier aufzuhalten und ging langsam und nachdenklich weiter. Was er da alles zu hören bekommen hatte! - als hätte das Seitenfenster eines Schlosses einen Spalt breit offen gestanden und er auf Zehenspitzen einen Blick in Zimmerfluchten prächtiger Salons stibitzt, so hatte er ein paar Momentaufnahmen erhascht, kurze Einblicke in eine fremde Welt, von der er so vollständig abgetrennt war, als lebten diese Menschen jenseits des Ozeans oder auf dem Mond und nicht in derselben Stadt; dennoch spürte er, dass diese Welten miteinander verwoben und voneinander abhängig waren, jedoch auf eine Art, die ihn sich unangenehm hilflos in einer schwachen und ausgelieferten Position fühlen ließ. Wie sie da so selbstverständlich und alltäglich von Riesenprojekten plauderten beim Bier oder Champagner, von Entscheidungen, mit denen sie das Leben hunderter, wenn nicht gar tausender Menschen mitbestimmten! Und während sich die Erwachsenen seiner Welt immer nur den Kopf zerbrachen, woher sie in nächster Zeit die Mittel nehmen sollten, die Bäuche ihrer Familien halbwegs zu füllen und die elementarsten Bedürfnisse an Kleidung und Obdach zu befriedigen, machten die hier sich Gedanken, ob die Erker ihrer neuen Villen von antiken Figuren oder schlichten Säulen gestützt werden sollten und ob sie das Wohnzimmer lieber im Jugend- oder im Empirestil einrichten wollten. Und ihre Söhne: was hatten die nicht für Möglichkeiten! Nicht nur, dass sie ganz von selbst in die einflussreichen Positionen ihrer Väter rücken würden, sie würden auch studieren können, Dinge lernen, Bereiche sich erschließen, die nicht einmal ihren Vätern zu Gebote gestanden hatten; würde nicht der eine schon bald - das musste man sich mal vorstellen! - nach China aufbrechen? Die ganze Welt schien denen offen zu stehen!

      Ob wohl nicht doch, allen Widrigkeiten zum Trotz, auch einer wie er wenigstens eine ganz kleine Chance haben könnte, Ähnliches zu erreichen? Wenn er nur fleißig genug lernte - hatte nicht sein Vater immer gesagt, man könne alles schaffen, wenn man es nur stark genug wolle? Zwischen dem Ehrgeiz, dereinst auch zu denen zu gehören, „die mitredeten“ - was immer er sich auch genau darunter vorstellen sollte, aber es klang so wünschenswert - und dem, sein Leben einem packenden Thema widmen zu dürfen, pendelte der innere Aufruhr, den das mitgehörte Gespräch der Honoratioren in Bewegung gesetzt hatte, und unter solchen Gedanken war er die Galerie entlang bis in den Wintergarten an der Rückseite des Gebäudes gelangt, den er bis jetzt noch nicht betreten hatte.

      Wie schön es hier war! All die Pracht und beinahe schwülstige Fülle, die in den übrigen Festräumen herrschte, auch die akustische, war hier zurückgenommen, gedämpft und beruhigt: In einer Ecke spielte nur ein Streichtrio ganz leise, zärtliche Hintergrundmusik. Hier war nun keine besondere exotische Kulisse mehr, lediglich eine sommerlich-luftige Atmosphäre gestaltet. Schlanke, sparsam verschnörkelte weiße Säulen