Clausen geht bereits vor dem Gebäude auf und ab. Er zieht an seinem Zigarillo, während sein offener Trenchcoat im Hamburger Wind fast wie ein Superman-Cape hinter ihm her weht. Dem Betrachter wird somit ein guter Blick auf seine beeindruckende Plauze ermöglicht, welche sich unter einem dunkelblauen Wollpulli mehr als nur abzeichnet. Ich schüttle den Kopf über den romantischen Gedanken unserer Beziehung, den Carmen mir unterjubeln wollte. Als er mich sieht, bleibt er stehen und zeigt mahnend auf seine Uhr. „Sie sind spät dran!" „Entschuldigung. Ich unterschätze die Entfernungen innerhalb Hamburgs immer, wenn ich nicht zu Fuß gehen kann." Er nickt. „Ja, hier draußen fühlen wir West-Städter uns verloren. Das ist fast wie ein Aufenthalt südlich der Elbe. Kommen Sie." In seiner Hand hält er eine Liste, die aussieht, als hätte Carmen sie geschrieben. Es stehen Namen darauf: Vornamen, Spitznamen, meistens keine Nachnamen aber dafür die Stockwerke mit dem Vermerk „Tür ganz links" oder „Zweite Tür von rechts". „Ihre Freundin erinnert sich nicht an alle Namen, weiß aber tatsächlich von allen Frauen, wo im Haus wir sie finden", sagt Clausen. „Kein Wunder", sage ich, „sie hat ja selbst Jahre lang hier im Haus gewohnt." „Hm", macht Clausen. Ich frage mich, was er denkt. Dann stehen wir bereits bei Elfriede vor der Tür. „Diese Frau kenne ich", flüstere ich ihm zu und erinnere mich im selben Moment, dass mein Flüstern eigentlich Quatsch ist. „Sie hört sehr schlecht!" „Pauuula!", Elfriede fällt mir direkt um den Hals, beziehungsweise eigentlich eher um die Hüfte. Sie ist eine kleine, untersetzte Dame um die 80, mit langem grauem Haar, das sie immer zu einem hübschen Dutt zusammen steckt. In ihrer Wohnung duftet es nach Kuchen. Elfriede ist die Omi, die Carmen und ich uns immer gewünscht haben. Gelegentlich schauen wir bei ihr rein, um nach dem Rechten zu sehen. Nur die Gespräche mit ihr fallen einem zunehmend schwerer, denn eine Hörhilfe verweigert sie vehement. „Ist das dein Mann? Bist du jetzt verheiratet?", sie mustert Clausen kritischen Blickes, der sagt nur hilflos: „Ihr Kollege!" „Ja, ja! Alter Schwede!", sagt Elfriede. „Dass Sie wesentlich älter sind als meine Paula hier, das sehe ich. Ich bin vielleicht schwerhörig, aber nicht blind!". Dann wendet sie ihren Blick wieder mir zu: „Kommt rein, ihr Turteltäubchen! Der Apfelkuchen ist noch warm." Während wir in ihrer gemütlichen Küche Platz nehmen, beginnt Elfriede zum Glück von sich aus, über den Mordfall zu reden. „Es ist so eine furchtbare Geschichte, Paula. Die arme Maria! Sie war so ein guter Mensch. Als ich es letztes Jahr so im Kreuz hatte, weißt du noch? Da hat sie mir so viel im Haushalt geholfen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie jemand so etwas tun kann". Sie stellt Clausen und mir zwei riesige Stücke gedeckten Apfelkuchen vor die Nase und setzt sich zu uns. „Haut rein, ihr Lieben!" Sie lächelt und spricht weiter: „Auch wenn ich sagen muss, ... wie heißen Sie eigentlich?", sie sieht Clausen prüfend an. Der kaut schnell zu Ende und streckt ihr die Hand entgegen. „Clausen!" - „Lauren? Was ist das denn für ein Name? Sind Sie etwa auch noch Franzose? Wir hatten hier auch mal einen Lauren im Haus, der war von ... genau, von Airbus gekommen! Aus Touluz!", sie spricht dabei Laurent und Toulouse betont deutsch aus. Clausen verzweifelt langsam, ich seh's in seinem Blick. „Nun ja, auch wenn Sie Franzose sind. Ich freue mich natürlich trotzdem! Die Paula, die hatte es ja auch immer nicht leicht mit den Männern. Genau wie die Maria. Nachdem ihr Mann weg war, da hat sie einfach nie wieder jemanden kennengelernt. Was wollte ich eigentlich sagen? Ach, war wohl nicht so wichtig. Aber die Maria, die hat das Beste daraus gemacht, wissen Sie. Hier wohnen so viele nette Leute im Haus und wir hatten ja einander," ihr Blick wird trüb, „Wir haben ja einander, das hat sie immer zu mir gesagt. Nachdem mein Willem gestorben ist, wissen Sie, Willem, das war mein Mann. Wir waren 55 Jahre verheiratet. Ich vermisse ihn an den meisten Tagen gar nicht so sehr, einfach nur, dass jemand da ist, das vermisse ich. Er war ein schwerfälliger Mann, ein richtiger Tunichtgut. Aber als dann auch noch Butschi gestorben ist, das war schlimm." „Butschi?", flüstert Clausen in meine Richtung. „Ihr Wellensittich", antworte ich. „Der Sittich, genau.", Elfriede hatte uns gehört. Komisch, als würde sie sich aussuchen können, was sie hört und was nicht. „Er konnte sprechen! Ein kluger Vogel war das. Und alt ist er geworden.", sie seufzt. „Elfriede, wir haben noch ein paar Fragen an dich", beginne ich vorsichtig. „Ja? Schieß los." „Wann hast du Maria das letzte Mal gesehen?" „Na, am Sonntag! Da haben wir Rommé gespielt. Dieses Mal waren wir bei Ayse und Hatice – die wohnen im fünften Stock. Du kennst doch Ayse?" Ich schüttle den Kopf. „Na, jedenfalls", fährt sie fort „Türkinnen, hört man ja am Namen, dass die nicht von hier sind. Aber ganz nett. Es gibt immer so klebriges Gebäck, wenn wir bei ihnen Karten spielen.", sie zieht die Augenbrauen hoch und wendet sich an Clausen. „Für mich persönlich ist das ja nichts, ich bleib lieber bei meinem Apfelkuchen." „Der ist auch wirklich gut", sagt Clausen. „Eben", sagt Elfriede, „da ist man besser auf der Hut! Man weiß ja nie genau, da hängen Teppiche an den Wänden – wer macht denn so etwas? Und der Vater spricht kein Wort Deutsch, das mach das Plaudern etwas schwierig. Aber am Sonntag waren nur die Mädchen da. Da haben wir es uns ganz gemütlich gemacht. Eine aus unserer Rommé-Gruppe probiert jetzt Low-Carb, das ist Englisch für wenig Kohlenhydrate. Aber ich bin zu alt für eine Diät. Jedenfalls, Maria wollte mitmachen, glaub ich. Aber du kennst, ich mein, du kanntest ja Maria, Paula. Und ihre Vorliebe für Kartoffelchips. Und Dinge, die man mit Käse überbacken konnte. Sie hat einmal gesagt, solange man auf dieser Welt noch Dinge mit Käse überbacken kann, wird sie den Glauben an das Gute nicht verlieren." „Na, das ist mal ein Wort", Clausen nickt. „Ja, genau! Es war Mord!", sagt Elfriede verschwörerisch. „Grausam! Ich hoffe, sie schnappen den Dreckskerl!" „Dreckskerl?", fragt Clausen. „Na, würde eine Frau so etwas Furchtbares tun? Alle hier im Haus haben Maria gemocht. Sie hatte nie mit irgendwem Streit. Nur einmal ... mit Nilüfer, aus dem Siebten. Aber ich weiß nicht mehr, worum es damals ging und die haben sich auch wieder vertragen. So, ihr Süßen, es ist langsam Zeit für mein Mittagsschläfchen. Schön, dass ihr mal reingeschaut habt!" Sie bringt uns zur Tür und umarmt uns zum Abschied. „Sag mir, wenn du hörst, wer das getan hat, ja Paula?", dann dreht sie sich zu Clausen. „Und Lauren! Kümmern Sie sich gut um meine Kleine!", Clausen nickt und wünscht Elfriede noch einen schönen Tag. „Ja, man sieht, dass Sie sie mögen", schmunzelt diese und schließt die Tür. Wir nehmen die Treppe in den ersten Stock. „Aber ein guter Apfelkuchen war das", sagt Clausen. „Schön, dass er Ihnen geschmeckt hat, Lauren". Clausen sieht mich grantig an, ich weiß aber, dass er insgeheim amüsiert ist. Man muss Elfriede einfach ins Herz schließen. Ob mein Leben wohl anders verlaufen wäre, wenn ich so eine Oma gehabt hätte? Vermutlich wäre ich einfach nur noch dicker geworden. Während ich so in Gedanken bin, stehen wir schon vor Gisela Bauers Tür. Sie scheint nicht Zuhause zu sein. Clausen seufzt. „Sollen wir nicht vielleicht lieber mit dem Aufzug in den 11. Stock fahren und dann die Treppe runter gehen? Das scheint mir unkomplizierter." Ich lache. „Wie Sie meinen." Für den 11. Stock steht "Cindy – zweite Tür von rechts" auf unserer Liste. Der liebliche Name „Krätzer-Wohlberg" ziert hier ein kitschiges Keramikschild, das an der Tür hängt. Unter dem Namen sind drei Enten abgebildet, Papa-Ente ist mit Edding verunstaltet. Clausen drückt auf den Klingelknopf. Eine Frau Mitte 40 in Bademantel, Schlappen und mit Papilotten im Haar öffnet uns die Tür, in ihrem Mundwinkel hängt eine Kippe. „Was is?", schnauzt sie uns an. „Clausen vom Morddezernat, Moin. Das ist Frau Groß. Sind Sie Cindy? Wir hätten einige Fragen im Mordfall Maria Kachowski." „Seh ich so aus oder wat?!", sie verdreht theatralisch die Augen, richtet ihren Kopf zur Seite und brüllt: „Cindy!" Als sich in der Wohnung nichts tut, probiert sie es erneut: „Cindy, los du kleine Tonne, roll rüber! Die Polizei is' da!" ... „CINDY, wird's bald?" Man hört nun, dass sich eine Tür öffnet. Ein moppeliger Teenager steht im Flur und starrt uns mit großen Augen an. „Hallo?" „Cindy, Clausen vom Morddezernat, hallo. Dürfen meine Kollegin Frau Groß und ich reinkommen?" "Phaha", macht Cindy und sieht mich an. "Frau Groß in Mode, oder wat? Von der Fit for Fun sind Sie beide jedenfalls nicht.“ „Cindy!", ihre Mutter haut ihr von hinten gegen den Kopf. „Wat, Mutti? Du heißt Krätzer, als wär das besser. Ja, okay, kommse rein." Cindy tippelt vorweg, wir gehen an ihrer Mutter vorbei, die noch immer den Kopf schüttelt, dabei murmelt sie etwas von wegen „Das Kind, einfach hoffnungslos, ganz der Vatter ...". Wir setzen uns zusammen mit Cindy ins Wohnzimmer, das auf den ersten Blick wirkt wie eine Abstellkammer. Zwischen Wäscheständern und irgendwelchen Kisten befindet sich ein Sofa. Auf dem Tisch stehen nur offene Bierdosen, Weinflaschen und Aschenbecher. „Rauchen 'se?", fragt