12 fette Frauen. Cathrin Sumfleth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cathrin Sumfleth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742774965
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vortragen und am Ende wäre einfach jeder vom Produkt überzeugt. Selbst wenn der Kunde sich eigentlich ein Waffeleisen gewünscht hätte. Um welche Kundenpräsentation es auch geht, Ferdi ist NordMedias Geheimwaffe. Und das als Volontär mit einem Bruttolohn von 1200 Euro.

      Um 21.30 Uhr ist die 30-seitige Präsentation endlich fertig. Ich habe nicht nur eine Printkampagne, sondern auch ein Spotkonzept eingefügt. Außerdem habe ich mir noch ein paar Guerilla-Maßnahmen einfallen lassen, so on top. Kuriose Aktionen wie z.B. den „Shake Day" an dem sich alle Fit Shake-Anhänger an einem öffentlichen Platz (zum Beispiel auf dem Hamburger Rathausmarkt) treffen, wo Power-Plates bereitstehen und 51 Minuten (die Zeit, die man am Tag spart) kollektiv geshakt, also, gewackelt wird. Zuerst dachte ich an Tanzen, aber das war mir dann doch zu altmodisch. Außerdem soll es ein Gewinnspiel geben, bei dem jeder einreichen kann, was er mit einer zusätzlichen Stunde am Tag alles anfangen würde. Die Person mit der originellsten Antwort wird Fit Shake-Testimonial und somit Teil der Kampagne. Ansonsten werden Shakes, Sportkleidung und Fitnessstudio-Abos verlost.

      Ich gehe alle Punkte mit Ferdi durch, er findet die Präsentation schlüssig, hält sich aber mit seiner inhaltlichen Meinung zurück. Gegen 23 Uhr schalten wir den Rechner aus. Ferdi fühlt sich gut vorbereitet für den Kundentermin, der schon um 8.30 Uhr stattfinden soll und ich bin unglaublich verwundert darüber, dass noch immer kein schlechtes Gewissen bei mir einsetzt. Nico wird außer sich sein, aber was setzt er auch jemanden an das Fit Shake-Projekt, der mit dem USP nicht konform geht?

      Ich nehme mir noch ein Bier aus dem Agenturkühlschrank für den Heimweg mit und falle zuhause direkt ins Bett. „Essen! Keine Zeit für den Scheiß." Ich bin Single, fast 30, meine beste Freundin hat ihre Mutter verloren und ich, allem Anschein nach, meinen Verstand.

      Leute wie ich können auch anders

      Manchmal bewegt mich ein Lied so sehr, dass ich ganz unbewusst anfange, eine Performance dazu zu starten. Meistens passiert das, wenn ich mit Kopfhörern auf den Ohren in der Öffentlichkeit unterwegs bin. Ich habe ein außerordentlich gutes Gedächtnis für Songtexte, also sind meine Lippenbewegungen immer synchron. Meine Tanzbewegungen hingegen sind vermutlich eher aus dem Takt, aber besonders dramatische Textstellen betone ich dafür zusätzlich mit Mimik und Gestik. Ich bin dann wirklich drin. Manchmal so sehr, dass ich vergesse, dass Menschen, die mir entgegen kommen, ja überhaupt nicht wissen, zu welchem Lied ich performe und meinen stummen Auftritt mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit merkwürdig finden. Deshalb versuche ich auch meistens, mich so gut es geht zusammenzureißen. Aber an Tagen wie heute, an denen ich schon mit guter Laune erwache, kann ich mich einfach nicht bremsen. Passend dazu, dass es noch recht früh ist, habe ich Bobby Darins „Early in the morning" laut aufgedreht und laufe zu Fuß zu Arbeit, in der Hand einen großen Coffee To Go und auf den Ohren Folgendes:

       We-he-he-ll... You're gonna miss me Early in the morning One of these days Oh yeah!

       Well, you're gonna want me Early in the morning When I'm awa-he-hey Don'cha know?

       Yes, you'll be sorry (aaaah) For the times I cried (aaah) You'll be sorry (aaah) For the times you lied (aaah)

      Well, you gonna miss me Early in the morning (Early in the morning) Während ich mich also quasi auf offener Straße in den Song hineinsteigere, hoffe ich einfach stark, dass mir niemand entgegen kommt. Als ich die Agentur erreiche, setze ich die Kopfhörer ab. Bianca steht schon vom Eingang und raucht. „Hiii, Paula! Bist du heute aber früh!", begrüßt sie mich. „Bianca! Hattest du auch diesen Virus, wie alle anderen? Geht es dir besser?", frage ich sie. „Ja", sagt sie, „geht schon wieder. Bist du mit meinen Motiven für Fit Shake zurecht gekommen? Ohje, Fit Shake. Das hatte ich ja komplett verdrängt. Genau genommen fühle ich mich heute, als wären meine Trennung, der Tod Carmens Mutter und das Erstellen dieser schlimmen Präsentation einfach nur ein Traum gewesen. Und heute, heute wäre ich einfach mit super Laune aufgewacht, denn mein Unterbewusstsein hatte mir nur des nachts einen Streich gespielt. Aber dem ist nicht so: das alles ist wirklich passiert. „Ja, äh, ja! Danke, Bianca. Die Motive waren super. Ich saß gestern noch bis 23 Uhr mit Ferdi an der Präsentation. Die sind jetzt sicher schon beim Kunden." „Ah, da wart ihr ja noch recht früh fertig, schön. Ja, genau, die sind schon los", sagt Bianca und kichert doof. Was will sie damit andeuten? Sie fährt sich ein bisschen nervös durch ihre blonden langen Haare. „Nico ist heute schon sehr früh raus", plaudert sie weiter. „Weißt du, also, wir ... wir sind jetzt so was wie ein Paar, aber pssst." Es trifft mich wie eine Ohrfeige, aber zum Glück nur eine leichte. Passt ja auch, denke ich. Mit Bianca kann man sich sehen lassen, so lange sie nicht den Mund aufmacht. Nico redet nicht gern. Perfect Match. „Ach was!", sage ich und versuche, nicht zu kritisch zu gucken. „Ja, also, äh, dann mal Glückwunsch!" Sie grinst, kichert wieder wie eine 16jährige und wirkt tatsächlich verliebt. „Arme Bianca", denke ich. Wir gehen hinein, ich schmeiße meinen Coffee To Go-Becher weg und mache mir in der Agenturküche einen weiteren Kaffee, um mit meinem wiedererlangten Bewusstsein weiterhin am Leben teilnehmen zu können. Dann setze ich mich an meinen Rechner und surfe im Internet. Mehr bringe ich gerade nicht zustande. Yes, you'll be sorry For the times I cried

       You'll be sorry For the times you lied

      Well, you gonna miss me Early in the morning Ob Saïd mich bis jetzt überhaupt eine Sekunde vermisst hat? Und wie es Carmen wohl geht? Nach und nach füllt sie die Kreation mit meinen Kollegen, die anscheinend wie durch ein Wunder von diesem Supervirus geheilt wurden, und ich überlege, ob ich heute vielleicht einfach früher gehe. Eventuell kann ich auch ein paar Tage Urlaub einreichen. Bestimmt brauchen Carmen und Rami Hilfe im Laden. Arme Carmen, in dem Zustand arbeiten zu müssen. Aber den Kiosk auch nur einen Tag lang zu schließen, macht sich finanziell ziemlich bemerkbar – und jetzt, durch die Gentrifizierung ... Ich überlege, ob ich den beiden nicht einfach anbiete, ihnen eine Weile lang auszuhelfen. Es gibt auch deutlich Schlimmeres, als im Klönschnack Altona Kippen, Bier und Schnäpse zu verkaufen. Gerade als ich den Plan in meinem Kopf besiegelt und mir selbst darauf ein emotionales High-Five gegeben habe, kommt Nico um die Ecke geschossen. Er ist ganz offensichtlich in Rage. „Paula!", schreit er. „Was bildest du dir eigentlich ein? Verdammt noch mal!" Er steht jetzt vor meinem Schreibtisch. Ich habe kaum eine Chance, meine Konzentrationskopfhörer abzunehmen und fühle mich für eine Sekunde wie der Typ aus der Deezer-Werbung, nur dass Nico so laut schreit, dass ich trotzdem jedes Wort verstehe. Hör, was du hören willst ist da nicht drin. Er macht gnadenlos weiter: „Es war mir klar, dass nur etwas Mittelmäßiges dabei rauskommen kann, wenn ich dich allein an dieses Projekt setze, ... das war mir ganz bewusst. Und ich bin das Risiko eingegangen. Ich Idiot! Ich habe dir vertraut, Paula. Vertraut habe ich dir! Und du wagst es, mich und die ganze Agentur, aber vor allem mich, so was von bloß zu stellen! Ich fasse es nicht - mir war klar, dass du mit dem USP nicht konform gehst, das sagte ich ja bereits. Aber dass Leute wie du sich niemals für die Thematik sensibilisieren können ... das hätte mir einfach klar sein müssen." Er schnappt nach Luft. Leute wie DU. Ich spüre, wie ich nicht nur aufstehe, sondern auch meine Stimme erhebe. Ich erhebe meine Stimme, gegen meinen Chef. Was ist nur los mit mir? „Leute wie ICH?!", schießt es aus mir hervor. „Es reicht, Nico! Es reicht endgültig. Ich arbeite hier für zwei Leute, genau genommen als Texter UND Arter – und das seit fast 4 Jahren. Überstunde um Überstunde sitze ich hier, nachts und am Wochenende, ich bekomme weder ein Danke dafür, noch ein angemessenes Gehalt, an manchen Tagen nicht mal ein Taxi oder ein Abendessen, obwohl auch Leute wie ich essen müssen, wenn sie bis in die Morgenstunden durchackern. Überraschung! Mir ist nämlich klar, dass du mit „Leute wie du" übergewichtige Leute meinst! Dicke Leute. Aber so dick ich auch sein mag und so unangenehm es dir jetzt ist, dass du trotzdem mit mir geschlafen hast, ein gottverdammter Fit Shake ist auf gar keinen Fall eine Alternative. Für NIEMANDEN!" Er sieht auf einmal blass aus. Vielleicht hätte ich nicht vor allen Kollegen in die Runde werfen, bzw. schreien sollen, dass er mit mir geschlafen