Erste Ermittlungen
Gegen Ein Uhr morgens stehe ich allein im Nachtlicht. Kuddel ist heut früh nach Hause gegangen, weil er morgen Hochzeitstag hat. Hochzeitstag. Nichts an Kuddel kam mir je verheiratet vor, aber nun gut. Ich nippe an meiner Flasche Astra, schlendere dann rüber zur Jukebox und treffe eine neue Musikauswahl. Schon ein wenig besser, aber immer noch langweilig. Ich überlege, einfach auf den Tresen zu steigen und zu performen, schüttle dann allein wegen der Vorstellung den Kopf (es läuft Europe: Final Countdown, da sind auf jeden Fall große Gesten möglich) und setze mich wieder auf meinen Barhocker. Keine Nachricht von Saïd, dafür 12 Nachrichten von meiner Schwester („Paula, kannst du mir am Wochenende mit der Steuer helfen? - Ich koch dir auch was Schönes!! - Also, das wäre echt total nett von dir. Wir sind auch allein, Heiner ist mit den Jungs übers Wochenende weg. - Dann machen wir uns einen Mädelstag *gg* - Sag mal, wie's dir passt. - Alles ok, große Schwester? - Gibt auch Kuchen!! - Oder Torte, wenn du magst - Hallooo?!?! - Alles gut bei dir, Fräulein? - PAULA! Ich rede mit dir!" ... ), einen Kettenbrief von Mutti (im Stil von "Ein kleiner Engel wacht heute Nacht über dich ... wenn du diesen Kettenbrief unterbrichst, tötet er dich im Schlaf!!") und eine von Ferdi, der fragt, ob wir uns treffen können. Gesendet um 0:31h, also noch gar nicht so lange her. Ich schreibe ihm, dass er ins Nachtlicht kommen kann, falls er noch wach ist. Dann beantworte ich die panischen Nachrichten meiner Schwester, die natürlich um diese Uhrzeit schon schläft, tippe meiner Mutter einen kurzen Text, der meine Meinung zu Kettenbriefen relativ deutlich macht („Hör auf, mir so einen Scheiß zu schicken! Sonst organisier ich jemanden, der wirklich dafür sorgt, dass alle Blumen in deinem Garten eingehen und du sieben Tage lang unreine Haut bekommst!"). Als ich den Blick vom Handy abwende, betritt Ferdi den Laden. Als hätte er hinter der nächsten Ecke gestanden und nur auf mein Go gewartet. „Hi", er kommt mit einem besorgten Lächeln auf mich zu und versucht, mich über den Tresen hinweg zu umarmen. „Hey", sage ich, "willst du 'n Bier?" Er nickt, ich reiche ihm ein Astra und mache mir auch ein neues auf. Jürgen hat schließlich gesagt, Getränke sind im Lohn enthalten. Die Jukebox spielt nun „Dancing with myself" von Billy Idol. Der Song meines Lebens. „Darfst du jetzt überhaupt Bier trinken?", fragt Ferdi mit ernster Miene. Ich verschlucke mich und spucke einen Schluck Bier über den Tresen, ein anderer sprudelt mir aus der Nase. Ferdi klopft mir auf den Rücken. „Geht schon", sage ich. Dann atme ich einmal tief durch und fahre fort: „Ich bin gar nicht schwanger." „Was?!", Ferdi schaut mich verwirrt an. „Nur dick", sage ich etwas kleinlaut. „Aber Bianca hat ..." „Ja", unterbreche ich ihn „Bianca." „Sie hat es allen erzählt. Zwar hinter vorgehaltener Hand, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es jeder weiß." Er schüttelt den Kopf. „Warum denkt sie sich so etwas aus?", fragt er ungläubig. „Nein, also, so war es nicht.", verteidige ich mich und werde immer kleinlauter. In dem Moment hatte mir die Idee so gut gefallen. „Ich hab so getan als ob. Weil sie doch jetzt mit Nico liiert ist. Nachdem nun die ganze Agentur weiß, dass wir mal was hatten, war sie schrecklich wütend auf mich und hat mich beleidigt. Da wollte ich ihr einfach eins auswischen, verstehst du." „Hm", macht Ferdi. „Nicht wirklich. Aber gut. Meinst du echt, dass sie mit Nico zusammen ist? Ich glaube, das ist eher eine Liaison der Gattung Meine kleine blonde Matratze. Ich mein, eine enge Beziehung hat der doch nur zu sich selbst." „Hm", mache ich. „Meinst du, ich hab jetzt einfach all ihre Hoffnungen zerstört?" „Na, vor allem sein Image unter den Kollegen!" „Weil jetzt alle wissen, dass er mit einer dicken Frau geschlafen hat?" „Nein, so ein Quatsch", er sammelt sich kurz. „Weil er mit dir geschlafen hat, Paula. Und dich angeblich geschwängert hat, ohne sich um dich und das Kind zu sorgen. Das hat sein Image zerstört.“ Er verdreht die Augen und spricht weiter: „Doch nicht der Fakt, dass er mit dir geschlafen hat. Das macht ihn doch eher zu einem Glückspilz." „Ja, klar", sage ich etwas grantig. Ist ja nett von Ferdi, dass er mich verteidigt. Aber man muss dabei ja nicht gleich unrealistisch werden. Wir trinken schweigend unser Bier. "War es bei Fit Shake wirklich so schrecklich?", frage ich nach einer Weile. Er zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung. Die haben ein absolutes Pokerface aufgesetzt. An manchen Stellen hat die Frau aus dem Marketing gelacht, worauf ich sie dann einfach charmant angelächelt habe. Am Ende der Präse hab ich mich das erste Mal umgesehen und Nico war einfach verschwunden. Na ja, ich hab mich für die Aufmerksamkeit bedankt, alle Hände geschüttelt, in Ruhe mein Notebook abgebaut und mich von der Marketingfrau zum Mittagessen mitnehmen lassen. Die haben da eine Kantine und hey - es gab zwar Salate, aber auch Pizza und anderes richtiges Essen. Sie heißt Jaqueline, sieht aber zum Glück nicht so aus und hat ein Schnitzel bestellt. Allerdings hat sie zu unseren Ideen nichts mehr gesagt, das dürfe sie nicht, meinte sie. Sie haben sich an dem Tag noch zwei weitere Agenturen angesehen und gestern noch eine und die Entscheidung fällen sie spätestens Anfang nächster Woche. Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir uns tatsächlich blamiert haben." Ich seufze. Manchmal ist der Kleine wirklich unglaublich naiv. „Weil sie dich angraben wollte", sage ich, „natürlich musste sie dir dafür ein gutes Gefühl geben." „Meinst du?", Ferdi grinst. „Schon, ja." „Jedenfalls ... als ich dann wieder in der Agentur war und nach dir gesucht habe, da hat Bianca mir erzählt, dass Nico dich gefeuert hat. Ihn habe ich übrigens auch seit der Präsentation nicht gesehen. Ganz merkwürdig." „Hm." „Ich bin froh, dass du nicht schwanger bist, Paula. Ein Kind von Nico ... das muss wirklich nicht sein." Ich habe Ferdi voher noch nie etwas sagen hören, das die Firma oder Nico selbst auch nur in irgendeiner Form anzweifelt. Er ist der loyalste Mensch der Welt. Und jetzt gibt es schon den zweiten negativen Kommentar von sich. Ich feiere einen kleinen inneren Reichsparteitag und schenke uns zwei Schnäpse ein. Um 3 Uhr mache ich den Laden zu. In Anbetracht meines konstant vorhandenen Pegels, fühle ich mich relativ nüchtern. Ferdi allerdings wirkt mächtig angetrunken. „Sollen wir noch zu dir gehen?", lallt er, „noch einen Schnaps nehmen?" „Neee", sage ich. „Oder Kaffee!", er hält mich am Arm fest. „Ne, lass mal. Du musst früh raus. Und ich hab eine Verabredung mit einem Ermittler vom Morddezernat." „Was hast du?!" „Erzähl ich dir wann anders mal in Ruhe." „Na gut!", er umarmt mich zum Abschied relativ lange, vermutlich, weil er sich selbst kaum auf den Beinen halten kann und wankt dann Richtung S-Bahn. Ich laufe zu Fuß nach Hause und performe unterwegs ein bisschen zu "MMMBop" von den Hansons und vermisse die 90er: da war die Welt noch voller unmöglicher Farbkombinationen,