Sofa. „Trink deinen Tee, mein Schatz", sagt sie und tänzelt aus meinem Wohnzimmer in Richtung Wohnungstür. Jetzt erst bemerke ich die Katze, die im Türrahmen sitzt.
Mauz! „Komm Karlchen, komm mit Mama", sagt Ulla zu der Katze. Diese macht ein lautes Schnurrgeräusch. „Wir sehen uns, Paula." Bevor ich mich überhaupt von ihr verabschieden kann, ist sie auch schon weg. Ich trinke weiter an meinem Tee und schaue auf mein Handy.
76 neue Nachrichten aus 7 Chats. Okay. Neben meiner Mutter (wieder so ein Kettenbrief; seitdem sie Whatsapp für sich entdeckt hat, bekomme ich jeden Tag mindestens drei davon), haben auch Carmen („Ih geh jetzz schlf! - schlafen! - Dein Chef is ein FICKER!!!11“), Ferdi („Paula, alles okay bei dir? - Paula, bitte sag doch was! - Ich mach mir Sorgen. - Paula!“) und Carmens Onkel Jürgen („Schätzelein, komm doch heut ins
Nachtlicht! Rami hat mir von deiner Kündigung erzählt. Ich geb einen aus!!"). Da ich ja in Kleidung geschlafen habe, muss ich mir nur kurz die Haare kämmen und die Augen nach schminken. Fünf Minuten später bin ich auf dem Weg ins
Nachtlicht. Als ich über die Reeperbahn laufe, bin ich etwas überrascht, dass hier sogar an einem Dienstag Abend so einiges los ist. Mein Blick bleibt an einem ziemlich gut gekleidetem Transvestiten hängen, als ein streitendes Pärchen mich rechts überholt. Genau genommen läuft er vor ihr weg und sie folgt ihm, laut schluchzend. „Schüüüüsch! Hau ab!", schreit er. „Neiiheiiiin", heult sie. „Aber es ist aus mit uns!", er dreht sich um und schaut sie wütend an. Kleinlaut fragt sie, immer noch weinend: „Aber wiesoo-hoo-hoo denn?" Er darauf: „Weil du dumm bist, Digger!", dreht sich um und verschwindet schnellen Schrittes um eine Ecke. Sie bleibt mit einem hysterischen Heulkrampf stehen. Ich höre sie noch immer weinen, als ich schon den Hans-Albers-Platz erreicht habe.
Weil du dumm bist, Digger. Ich kann ihn verstehen, mangelnde Intelligenz ist zweifelsohne ein Trennungsgrund. Ein Grund, aus dem ich mich auch schon viel eher hätte trennen sollen. Fehlende Intelligenz
wäre in der letzten Beziehung mein Hauptgrund gewesen – bis zu dem Punkt, an dem ich von der bestehenden Ehe erfahren habe, natürlich. Aber hinter einer rosa Brille lassen sich nicht einmal die wirklich relevanten Dinge erkennen. Jemanden zu finden, der so ist wie ich, habe ich mittlerweile aufgegeben.
Leute wie mich gibt es anscheinend nicht. Das
Nachtlicht befindet sich in einer kleinen Seitenstraße, unweit vom Hans-Albers-Platz. Jürgen ist tief in ein Tresengespräch mit Stammgast Kuddel verwickelt, als ich die Kneipe betrete. „Moin", grüße ich in die Runde. Kuddel nickt mir zu, Jürgen schenkt uns direkt einen Schnaps ein. „Für dich, meine Lütte", er klopft mir von der anderen Seite des Tresens aus auf die Schulter, nachdem ich neben Kuddel Platz genommen habe. „Da ist was los in der Welt, wa", er schüttelt den Kopf. „Das glaubt einem ja keiner!" Er hebt seinen Schnaps und prostet Kuddel und mir zu. „Auf Maria! Und darauf, dass es immer weiter geht!" „Auf Maria!", lallt Kuddel. Es ist nicht sein erster Schnaps heute. „Auf Maria!", sage ich. Wir stoßen an und trinken. Ich hasse Jägermeister eigentlich, aber aus gegebenem Anlass schmeckt er mir heute irgendwie besser als sonst. „So ... jetzt erzähl doch mal", Jürgen stützt seine Arme auf den Tresen und lehnt sich zu mir vor, „was war los auf deiner Arbeit?" „Mein Chef ist mit meiner Kollegin zusammen, nachdem er mit mir geschlafen hat!", ich wundere mich selbst, dass das der erste Satz ist, den ich dazu sage. „Dann habe ich eine Präsentation versaut, er hat mich vor all meinen Kollegen eine ‚dicke Frau' genannt, meine Arbeit kritisiert und mich erniedrigt. Und dann, dann habe ich deutlich gemacht, dass ich sein Verhalten nicht länger akzeptieren kann ... und dabei wohl versehentlich erwähnt, dass zwischen uns was lief. Also, nicht versehentlich
erwähnt, sondern durch die Agentur geschrien. Dann hat er mich gefeuert. Und meine Kollegin, mit der er jetzt zusammen ist, ... tja, die ist mir dann hinterher gelaufen. Weil sie es natürlich nicht so töfte fand, zu hören, dass wir mal, nun ja. Und dann, dann ist mir wohl raus gerutscht, also, dass ich von ihm schwanger bin. Das stimmt natürlich gar nicht. Aber sie hat mich beleidigt und mir ist einfach der Kragen geplatzt. Ich konnte die ganze Scheiße in dem Laden nicht mehr ertragen, weißt du. Mein Freund ist nicht nur weg, sondern auch verheiratet. Maria ist tot. Und warum verdammt noch mal quäle ich mich jeden Tag aufs Neue in dieses Irrenhaus? Das kann es doch nicht sein. Jürgen, ich werde dieses Gefühl nicht los, dass etwas fehlt in meinem Leben. Dass es das noch nicht gewesen sein kann, weißt du." „Oh je", nach meinem emotionalen Ausbruch sammelt Jürgen sich kurz und füllt unsere Gläser auf. „Komm, wir trinken noch einen!", sagt er. „Ja, einen könn' wir noch!", ruft Kuddel. Ich schüttle mich vom Jägermeister, fühle mich aber zugleich irgendwie angenehm entspannt. Jürgen ist vermutlich der beste Zuhörer, den es gibt. „Weißt du, Paula", sagt er, „in meinem Leben habe ich mich nie so gefühlt, als würde etwas fehlen. Keinen einzigen Tag lang. Es war perfekt. Natürlich haben wir uns häufig gefragt, wo Jenny ist
, aber ich war für Maria da und sie war für mich da. Als meine Frau mich verlassen hat, als ich nach der Scheidung das Haus verkaufen musste, in all der Zeit war Maria immer für mich da. Ich glaube, ich habe ihr nie gezeigt, dass sie das Beste war, in meinem Leben. Meine einzige Schwester. Ich war vier Jahre alt, als sie geboren wurde. Sie war mein Ein und Alles, vom ersten Tag an", er holt kurz Luft, ringt mit den Tränen, fasst sich schnell wieder. „Weißt du, Paula, wir können uns die Hand drauf reichen. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn etwas fehlt." Wir trinken noch ein paar Jägermeister und beschließen ein Abkommen: So lange ich ohne Job bin, übernehme ich Carmens Schichten im
Nachtlicht, immer Mittwoch und Freitag Abend. Und nach Absprache, falls Jürgen auch mal etwas mehr Zeit für sich braucht, springe ich auch für ihn ein. „Dir vertraue ich den Laden gern an!", sagt er beherzt und nimmt mich zum Abschied in den Arm. Um 4 Uhr liege ich im Bett und ärgere mich ein bisschen, Clausen vom Morddezernat schon in seiner Mittagspause zu treffen. Aber eigentlich darf ich mich nicht beschweren, denn wenn ich in den nächsten Tagen eine Sache übrig habe, dann ist es
Zeit.
„Was werden Sie also mit all der Zeit anfangen?", fragt Clausen mich.
Wir hatten uns eine ganze Weile über Maria, Carmen, Rami und Jürgen unterhalten. Darüber, ob sich Maria in der letzten Zeit verändert habe, ob irgendwas Ungewöhnliches vorgefallen sei, von dem sie berichtet habe. Mir fiel nur der attraktive Zeuge Jehovas ein, der in den letzten Wochen vermehrt bei Maria vor der Tür stand. Carmen und ich hatten sie für die Geschichte ziemlich auf den Arm genommen, bis Maria irgendwann genervt sagte, dass er ohnehin viel zu jung sei und sie es sich zudem auch nicht vorstellen könne, Seite an Seite mit Tigern im Paradies zu leben. Mittlerweile geht unser Gespräch nach und nach über zu ganz normalem Smalltalk, wobei Clausen immer noch ein wenig klingt wie bei einer Zeugenbefragung. „Also, Paula, werden Sie die Zeit sinnvoll nutzen?" Er stochert mit seinem Piekser in den Pommes herum, bis er unter all der Mayo endlich einen erwischt hat. Wir stehen draußen vorm Imbiss Eck an den Landungsbrücken. Bis heute war ich mir sicher gewesen, dass hier nur Touristen nach einer Hafenrundfahrt einkehren. Clausen hatte das verneint und mit einem „hervorragenden Kartoffelsalat" begründet, dann aber doch Currywurst Pommes bestellt. Ich nippe an meiner Cola und denke nach. „Vielleicht schreibe ich ein Buch", sage ich. „Ein Buch?", er zieht eine Augenbraue hoch. „Ja, warum denn nicht?", ich sehe in kritisch an. Eine von wenigen Haarsträhnen weht im Wind, etwas Mayo hängt in seinem Mundwinkel. „Das stimmt", er lächelt fast freundlich, „Warum eigentlich nicht? Sie sind eine wortgewandte junge Frau mit einem scharfen Verstand. Haben Sie schon Genre und Titel im Kopf?" - „Hm! Ich dachte an 'DJ Dumpfbacke und die Alien-Invasion auf dem Damenklo'". Er schaut verwundert. „Wird das ein Sci-Fi-Roman?" - „Nein. Eine Liebesgeschichte." Jetzt müssen wir beide lachen. Der permanente Restalkohol in meinem Leben macht mich anscheinend albern. „Haben Sie mal über einen Kriminalroman nachgedacht?", fragt er ernst. „Nein, um ehrlich zu sein nicht", sage ich und schüttle vielleicht etwas zu energisch den Kopf. „Na, nun mal nicht so ablehnend, junge Dame!", sagt er. „Ich wollte Ihnen eben einen Vorschlag unterbreiten!" Ich runzle die Stirn. „Ja?" „Ja! Wie Sie wissen, gibt es einen Mordfall zu lösen. Es scheint, als kannte Maria all ihre Nachbarinnen. Auf jeder Etage mindestens eine." „Stimmt!", rufe ich, „die Kartenrunde!" „Die Kartenrunde?" „Ja", sage ich, „die haben sich jeden Sonntag getroffen und Rommé gespielt." „Waren alle Frauen der Kartenrunde aus dem selben Haus?" „Alle aus dem Haus, ja. Von jeder Etage eine! Sie haben immer Scherze drüber gemacht." „Also, 12 Frauen?" „Ganz genau, Clausen. In einem 12stöckigen Gebäude macht das 12 Frauen. Man merkt, dass Sie beim Morddezernat arbeiten!", antworte ich spitz: "12 fette Frauen,