Und weg ist er. Bevor ich überhaupt ein Wort sagen konnte. „Du gehst mit dem USP nicht konform" – Wie bitte?! Seitdem Nico und ich nach einer Firmenfeierlichkeit gemeinsam auf der Reeperbahn versackt und später bei ihm erwacht sind, begegnet er mir immer häufiger mit total überspitzter Verachtung. Als hätte ich ihn betrunken gemacht und zum Akt gezwungen. Dabei war es eher andersherum – und eigentlich sogar fast ganz schön. Nachdem einige Mexikaner (die Schnäpse, nicht die Zentralamerikaner) den Stock in seinem Arsch und seine Lippen endgültig gelockert hatten, hat er mich mit Komplimenten zu meinen Kurven geradezu überhäuft. Aber vor allen Leuten zugeben, dass man auf eine Korpulente steht? Daran ist nicht zu denken, nicht für Nico jedenfalls. Das passt nicht zu seinem Image, seinem Sportwagen und seinem Penthouse. Auch wenn es zu ihm passen würde, zu seinem kleinen zart besaiteten Inneren, das niemand kennt. Schade eigentlich, mit Ende 30 noch so ein Versteckspiel spielen zu müssen. Aber das Ganze ist mittlerweile circa ein Jahr her, ich begegne ihm ganz normal (denke ich jedenfalls), eben auf professioneller Ebene. Aber er, als mein Chef, konnte es ganz offensichtlich nie komplett verwinden. Jetzt behandelt er mich wie eine Praktikantin, obwohl ich als Art Director eingestellt bin und sogar Führungsverantwortung habe. Wenn kein Virus umhergeht, jedenfalls. Ich mache mir und Ferdi einen Kaffee (Praktikanten-Style!) und gehe in die Beratung, wo er ganz allein im Tunnel der 1000 unbeantworteten E-Mails festhängt. Ferdi ist seit über einem Jahr Volontär bei NordMedia - übrigens eine inhabergeführte Werbeagentur, die mal als Medienagentur begonnen hat, nicht so hip wie die Hamburger Erstligisten, aber durch die kontinuierliche Ausbeutung ihrer Mitarbeiter dennoch sehr solide aufgestellt. Auch wenn Nico, Nicolas Nord (mein Chef heißt wie eine Ü-Ei-Figur), gern weitere Kunden begeistern würde. Natürlich gefiele ihm das, denn er verlässt nach all seinen mysteriösen Außer-Haus-Terminen (wir vermuten, er geht ins Fitnessstudio, macht seinen Motorbootführerschein, geht golfen, zum Barbier o.Ä.) ja auch um 18 Uhr das Büro und bekommt die geleisteten Überstunden der Belegschaft kaum mit. Jedenfalls, Ferdi, ehrgeiziges Kind aus reichem Hause, der auf eine Eliteuniversität ging und sein BWL-Studium mit eins abgeschlossen hat, ist ausgerechnet hier gelandet. In der Kundenberatung bei NordMedia und hat innerhalb von zwei Jahren gerade mal den Sprung vom Praktikanten zum Volontär geschafft, auch wenn er hier eigentlich das beste und wohl auch attraktivste Pferd im Stall ist. Wenn ich er wäre, dann würde ich den Job einfach schmeißen und mit Papas Yacht im Mittelmeer rumtreiben, Mädels aufreißen, Cocktails schlürfen, was man so macht als junge maskuline Elite.
Ich reiche ihm seinen Kaffee. „Paula!", erst jetzt bemerkt er mich. „Ich bin ja doch nicht allein hier." Er freut sich. „Danke für den Kaffee! Hat Nico dir schon von der Präse erzählt?"
Ich nicke. „Ja, das hat er."
„Sag mal, hast du eine Fahne?"
„Möglich."
Er lacht. „Ich könnte mir auch direkt wieder ein Bier aufmachen. Ich habe bestimmt schon zehn Telefonate geführt, die meisten in Vertretung. Alle Kunden wollen heute was, viele kommen sogar mit neuen Projekten an. Und wir können ohnehin keine einzige Deadline einhalten, denn die Kreation ist leer. Also, du bist die Kreation. Und dieser behämmerte Fit Shake hat Prio eins. Mal im Ernst – wer trinkt denn bitte so einen Scheiß? Wenn ich Proteine will, dann brate ich mir ein Stück Fleisch. Vielleicht ist so was maximal eine Ernährungsergänzung, okay. Aber nur noch Shakes trinken?" Er schüttelt den Kopf und seufzt. „Apropos trinken – haben wir Bier im Kühlschrank? Spätestens um 16 Uhr mach ich mir eins auf."
Ich grinse. „Da bin ich dabei. Gib mir ein Zeichen. Ich werde wahrscheinlich vor 16 Uhr meinen Blick nicht vom Monitor abwenden. Aber den Pegel konstant zu halten scheint mir sinnvoll."
Er nickt. Ich gehe in die Kreation, schalte meinen Rechner ein und bin der Fit Shake. Nur irgendwie besoffen und müde. Und etwas hasserfüllt auch. „Du gehst mit dem USP nicht konform.“ Ganz im Ernst, Nico: Wenn der USP ist, dass man von nun an aufs Essen verzichten kann, dann gehe ich damit auf keinen Fall konform. Ich gehe mit dem ganzen Produkt nicht konform. Ich verstehe Biancas Bildmotive nicht, auf denen ohnehin schon schlanke Menschen hysterisch lachen, während sie ihren Protein-Drink schlürfen. So viel Spaß hat man also mit Fit Shake. So viel Spaß hat man, wenn man das Essen einfach weg lässt. So viel Spaß und auch einfach ... so viel mehr Zeit. Man kann drei Minuten ohne Sauerstoff auskommen, drei Tage ohne Wasser und dreißig Tage ohne Nahrung. Wie wäre es aber, wenn man für immer auf Nahrung verzichten könnte? Nehmen wir an, wir ersetzen jede Mahlzeit kontinuierlich durch einen Shake. Essen dauert im Durchschnitt, wenn man bedacht kaut und so, zwanzig Minuten pro Mahlzeit. Einen Shake zu trinken dauert vielleicht drei. Das heißt, wir sparen drei mal siebzehn Minuten am Tag. Das sind 51 Minuten – runden wir also großzügig auf eine Stunde auf. Das ist also wie ... eine Stunde früher Feierabend. Eine Stunde mehr Zeit für die Familie. Für Hobbys und Interessen. Freiheit! Wir wären alle so frei, wenn wir endlich dieses lästige Essen weglassen würden. Wir hätten auch die komplette Mittagspause für uns und könnten endlich Dinge machen, die wirklich Spaß bringen. Ich überlege kurz, was ich in der Mittagspause lieber machen würde als, nun ja, zu Mittag essen. Mir fällt nichts ein. Ich schaue mir die Menschen an, die beim Fit Shake trinken total Spaß haben. Das sind dieselben Menschen, die man regelmäßig auf Plakaten oder in Zeitschriften über einem Salat lachen sieht. Als hätte der Salat einen total lustigen Witz erzählt. Keine gute Geschichte der Welt beginnt jemals mit einem Salat. Und mit einem Protein-Shake? Was machen diese Leute, wenn sie endlich nicht mehr essen müssen? Ich sehe sie manisch um die Alster joggen. Ins Fitnessstudio gehen, sechzig Minuten Rudermaschine, Beinpresse, Bauchpresse (gibt es das?) oder ... im Yoga-Kurs! Entspannung pur, die Auszeit vom Büroalltag. Man hat auch mehr Zeit für die Karriere: Kundenmeetings sind produktiver, die Ideenfindung ist umfangreicher. Aber natürlich ist der Freizeitausgleich ohne Nahrungsaufnahme der schönere Effekt. Zurück zum Yoga, Pilates, Yogates, ... man könnte auch eine neue Sportart für sich entdecken. Eine weitere Fremdsprache lernen und mit all der gewonnen Zeit eine Reise planen, ein Buch schreiben, ... aber energetische Tätigkeiten sind am besten. Eine Organisation oder ein Sozialprojekt unterstützen. Irgendwas founden, heute ist doch jeder Founder. Oder man wird zum Fashionblogger, jetzt sitzt ja auch alles besser, man hat ja abgenommen durch die Shakes. Man eröffnet einen Youtube-Kanal, dort kann man dann natürlich keine Kochtipps mehr geben, aber es gibt vermutlich auch andere Themen. Ich habe Hunger. Ich beschließe, dass mein Ansatz für die Präsentation ein provokanter Testimonial-Ansatz wird. Menschen, die davon berichten, was sich in ihrem Leben alles zum Positiven gewandelt hat, seit sie mit dem Essen aufgehört haben. So ähnlich wie eine Nichtraucher-Kampagne, nur absurder. Denn darum geht es Fit Shake ja: Niemand auf diesem Planeten muss mehr essen müssen! Wir werden soviel mehr Spaß haben. Soviel mehr Spaß habe ich auch, als ich laut lachend die Lines für die Testimonials verfasse. "Fit Shake hat mein Leben verändert! Seitdem ich nicht mehr essen muss, ..."
So eine gequirlte Scheiße. Ich bin so drin, dass ich manche Motive in der Präse sogar mit selbst eingesprochenen Audiospuren unterlege. Punkt 16 Uhr steht Ferdi neben mir, mit zwei kalten Flaschen Bier in der Hand. Für eine Sekunde kann ich mir tatsächlich vorstellen, am heutigen Tag nur noch zu trinken.
„Seitdem ich nicht mehr esse, habe ich soviel mehr Zeit für Bier. Ich habe zwar nichts abgenommen, dafür aber endlich meine Karriere beendet. Nachdem ich meine Wohnung verlor, fand ich unter einer Brücke neue Freunde mit ähnlichen Interessen. Wir haben sehr viel Zeit füreinander. Es ist wie das Paradies auf Erden, nur etwas kälter."
Ferdi und ich trinken unser Bier vor dem Gebäude, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich rauche eine Zigarette und erzähle ihm dabei von meiner Fit Shake Idee. Er muss laut lachen. Dann sagt er: „Findest du es nicht etwas übertrieben?"
Ich nicke. „In der Tat, ja. Es ist fast schon bösartig. Nico wird es vermutlich hassen. Schaffst du es trotzdem, das Ganze ernsthaft zu präsentieren?"
„Klar", er ist überzeugt. Ich glaube ihm aufs Wort. Ferdinand, der Star am Powerpoint-Himmel. Ich kann ihn mir nur zu gut auf Feierlichkeiten der Eltern vorstellen, bei denen er ältlichen Ekeltanten die Hand küssen, trockene Dialoge über Weltgeschehen und Finanzen führen und dabei die ganze Zeit nett und professionell bleiben muss. Er hat