Schlachtfest. Mia Wachendorf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mia Wachendorf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753198545
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es dir peinlich war, dich vor dem attraktiven Holländer auf die Trage zu legen?“ Anne grinste verschmitzt.

      „Du spinnst doch! Außerdem, wo war der denn attraktiv? Der typische Holländer. Lang und dünn.“

      „Und eben die fandest du doch immer sooo gutaussehend!“

      „Ach wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Sooo schlimm kann es also gar nicht gewesen sein. Und ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung, mir darüber Gedanken zu machen, sonst platzt mir der Kopf.“

      „Natürlich nicht“, sagte Anne breit grinsend.

      Sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, wie diese Antwort gemeint gewesen sein könnte. Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie, als endlich ein Taxi vor Ihnen anhielt. Enna setzte sich auf den Rücksitz.

      „Kotzt mir aber nicht den Wagen voll!“, rief der Taxifahrer barsch. Anne sah ihn verständnislos an. Enna fühlte tatsächlich eine Übelkeit. Oder war es nur der Gedanke daran, sich übergeben zu müssen? Sobald sie in den weichen Polstern saß, fiel sie in einen tiefen Schlaf. Sie wachte erst wieder auf, als das Taxi vor ihrem Haus stand und Anne sie wachrüttelte.

      „Komm jetzt Enna! Wir sind da!“ Anne versuchte sie aus dem Auto zu zerren. Widerwillig ließ Enna es sich gefallen. Sie war unsagbar müde und die Kopfschmerzen hatten nur wenig nachgelassen.

      „Warten Sie hier“, rief Anne dem Taxifahrer zu, „ich muss noch weiter.“

      „Bevor Sie bezahlt haben, fahre ich bestimmt nicht weg!“, meinte der Mann und grummelte vor sich hin.

      Anne brachte sie bis in ihr Schlafzimmer und zog ihr die Schuhe und die Lederjacke aus.

      „Du bist ein Schatz, …!“, sagte Enna als sie sich verabschiedeten. „Das Taxigeld, das … machen wir später“, stammelte sie noch. Heute war sie zu nichts mehr in der Lage.

      „Klar doch. Mach dir keine Gedanken. Jetzt schlaf erst mal und kurier dich aus! Und wenn es dir morgen nicht besser geht, gehst du zum Arzt. Oder ruf mich an und ich fahre dich!“ Enna fragte sich, wie das gehen sollte. Hatte Anne nicht ihre Mutter zu Besuch? Oder war es die Schwiegermutter?

      Sie hörte, wie die Haustür hinter ihrer Freundin ins Schloss fiel. Als sie die Augen schloss, sah sie das grinsende Gesicht des Holländers vor sich. Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

      Sonntag

      Joris Sollewijn hatte sich früh auf den Weg gemacht an diesem verregneten Sonntagmorgen. Als Oberkommissar bei der Maarsumer Polizei hatte er jedes zweite Wochenende dienstfrei. Eigentlich. Das nutzte er, um seine Familie in Utrecht zu besuchen. Gestern hatte er außer der Reihe einen Dienst übernehmen müssen und konnte erst heute fahren. Es ärgerte ihn, dass sie ständig unterbesetzt waren. Auch wenn er noch heute wieder zurück musste, er würde es sich nicht nehmen lassen, die drei zu besuchen. Die Sehnsucht wäre unerträglich.

      Seine Tochter Anouk war acht Jahre alt, sein kleiner Sohn Tim sechs. Er liebte sie über alles. Er liebte auch seine Frau, auch wenn er in letzter Zeit das Gefühl hatte, es würde immer schwerer, Esther von seiner Liebe zu überzeugen. Sie mussten reden, heute. Dringend.

      Familie bedeutete ihm alles. Aber er war so wie er war. Und Esther akzeptierte das. Das hatten sie sich bei ihrer Hochzeit versprochen, sich anzunehmen, so wie sie waren. In guten wie in schlechten Zeiten. Sie hatten sich auch versprochen, treu zu sein.

      Sein Hochzeitsversprechen bedeutet ihm etwas, es waren keine leeren Worte. Damals vor zehn Jahren im Kasteel de Haar bei Utrecht, und auch heute nicht. Keine Worte, die dahingesagt wurden, weil es so schön feierlich klang und so romantisch, wie der Park der Burganlage, in dem sie gefeiert hatten. Als er sie ausgesprochen hatte, war er sich ihrer tiefen und verbindlichen Bedeutung bewusst gewesen. Er hatte sich auch noch selbst versprochen, alles für diese Ehe zu tun, was in seiner Macht stand. Er hatte es sich geschworen. Joris war glücklich mit Esther und er wollte, dass diese Ehe funktionierte. Um jeden Preis. Dafür wollte er alles tun. Das hatte er immer getan. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.

      „Godverdomme!“, fluchte er plötzlich laut. Er war bereits auf der A28 Richtung Amersfoort unterwegs, als ein weißer Lieferwagen dicht vor ihm einscherte und ihn zum Bremsen zwang. „Nur Bekloppte unterwegs hier!“ Bekloppte. Seine Gedanken schweiften zum gestrigen Einsatz auf dem Maarsumer Schlachtfest.

      Er hatte die Schlachtfest-Gäste nach den Randalierern gefragt und wie üblich waren die Maarsumer sehr hilfsbereit und auskunftsfreudig gewesen. Er war nun 42 Jahre alt, seit 20 Jahren bei der Polizei, die meiste Zeit davon in den Niederlanden, und er hatte eines gelernt: Wer eine Frage stellt, bekommt meistens auch eine Antwort. Es war so einfach, wie wahr. Er war immer wieder erstaunt, was die Leute bereit waren zu erzählen, einfach nur weil man sie fragte. Je freundlicher man fragte, umso mehr konnte man in Erfahrung bringen. Die meisten Menschen kamen sich bedeutsam vor, vermutete er, wenn sie von der Polizei um ihre Beobachtungen und ihre Meinung gebeten wurden. Einige waren einfach nur froh, helfen zu können. Nur wenige waren gegen die Polizei eingestellt und noch weniger Menschen im Emsland hatten etwas gegen einen Niederländer in einer deutschen Polizeiuniform. Er fühlte sich wohl in Maarsum. Aber Utrecht war sein Zuhause. In weniger als zwei Stunden würde er dort sein. Und er freute sich so sehr, seine Familie wiederzusehen.

      Dennoch gab es an diesem Morgen Dinge, die seine Vorfreude minderten. Esther weigerte sich immer noch, mit den Kindern zu ihm nach Maarsum zu ziehen. Sie hatten wieder einmal deswegen gestritten, als sie gestern per Videochat miteinander gesprochen hatten. Er war nun schon zwei Jahre ohne sie dort. Seine Stelle war gesichert und unbefristet und es sprach nichts dagegen, dass sie endlich zu ihm kamen. Anouk und Tim könnten in ländlicher Umgebung aufwachsen, wie er es sich als Kind für sich selbst gewünscht hätte. Utrecht war gefährlich für kleine Kinder, zumindest dort, wo sie wohnten, mitten im Zentrum in der Nähe der Oudegracht. Sie mussten unbedingt heute noch einmal darüber sprechen.

      Es wurmte ihn außerdem, dass er die freigewordene Stelle als Hauptkommissar, für die er sich beworben hatte, nicht bekommen hatte.

      „Enna Kolder!“, rief er wütend aus, während er den grauen Golf über den Knotenpunkt Hattemerbroek bei Zwolle lenkte. „Was ist das überhaupt für ein Name?“ Man hatte ihm vor drei Wochen mitgeteilt, dass seine Bewerbung sehr großen Eindruck gemacht habe und man sicher wäre, dass er diesen Posten ebenfalls bestens ausfüllen könne, man jedoch einer Kollegin aus Münster den Vorzug gegeben habe. Harald Fehrmann, sein Vorgesetzter aus Papenburg, hatte noch etwas von Frauenquote, Aufstockung des Personals und ein wenig längerer Berufserfahrung gemurmelt, aber da hatte er schon abgeschaltet. Er war enttäuschter, als er sich eingestehen wollte. Morgen würde er der Quotenfrau begegnen.

      „Frauenquote! Dass ich nicht lache!“ Wieder sprach er es laut aus. Der Regen prasselte heftiger auf seine Windschutzscheibe und er stellte den Scheibenwischer eine Stufe schneller.

      Der Posten hätte ihm zugestanden. Er leitete das Revier praktisch jetzt schon. Außer ihm kam niemand seiner Kollegen für die Stelle in Frage. Paul-Peter war zu jung, Bernd zu alt. Und Frauke war nun überwiegend in der Hauptstelle in Papenburg tätig. Und drei Jahre jünger als er. Den Personalmangel hätte man auch mit jüngeren Kollegen beheben können. Es gab keinen wirklichen Grund, jemanden von außerhalb zu holen. Das sagte ihm nur eines: Man wollte keinen Holländer in einer leitenden Position. Da nahm man lieber eine deutsche Frau. Mehr Berufserfahrung. Welche alte Schachtel man ihm wohl vorsetzen würde.

      Sein Berufsalltag würde sich von nun an ändern und das gefiel ihm überhaupt nicht. Vielleicht sollte er doch kündigen. Zurück nach Utrecht zu seiner Familie. Das war eigentlich keine Option. Er war nicht der Typ, der gerne wechselte, zumindest nicht, wenn ihm die Arbeit und die Stadt gefiel. Aber vielleicht sollte er dennoch darüber nachdenken. Er hatte noch eine Stunde Zeit, dann wäre er am Ziel. Es wollte nicht aufhören zu regnen.

      #

      Es war das zweite Mal heute, dass Enna sich ein Glas Wasser einschenkte, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Übelkeit und Schwindel waren weitgehend