Schlachtfest. Mia Wachendorf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mia Wachendorf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753198545
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Wiese stapfte. Es blitzte ununterbrochen, entweder durch das Gewitter, das gerade durchzog oder durch den Polizeifotografen, der um die Leichenfundstelle herumlief wie ein Hütehund um eine Schafherde. Enna kam sich vor wie ein Filmstar im Blitzlichtgewitter, nur dass sich statt des roten Teppichs eine Fläche aus schwarzem Matsch zu ihren Füßen ausbreitete und ihre Füße nicht in eleganten Pumps, sondern in ehemals weißen Sneakern steckten.

      „Was machen all die Leute hier?“, fragte sie sofort.

      „Das sind hauptsächlich Spaziergänger“, meinte Kötter-Stroth. „Und ein paar Tierschützer, die drüben im Duisterwald kampieren.“

      „Hat man die Leute schon befragt?“

      „Nur die Spaziergänger, die Tierschützer sind gerade erst dazugekommen.“

      „Passen Sie bitte auf, dass niemand in die Nähe der Toten kommt!“, bat sie ihn. „Und dass niemand hier irgendwelche Handyfotos schießt! Sperren Sie den Bereich ab!“ Sie glaubte nicht daran, dass all diese Leute hier zufällig spazieren gingen. Nicht in dieser Anzahl, nicht bei diesem Wetter. Sie hasste Gaffer. Im Zeitalter des Handys war eine Neuigkeit wie ein Mordfall so schnell verbreitet, als hätte sie jemand von einem Maarsumer Kirchturm ausgerufen, vermutlich schneller. Den Tierschützern würde sie später einen Besuch abstatten. Personen, die sich nachts hier im Wald aufgehalten haben, könnten wichtige Zeugen sein.

      Enna sah sich den Kopf der Toten an. Das Gesicht war kaum zu erkennen, da der starke Regen die Erde hochgespritzt hatte und lange nasse Strähnen ihres blonden Haares es verdeckten. Der schwarze Dreck wirkte wie zerlaufenes Mascara in ihrem Gesicht. Ihr Kopf lag auf der Seite, als ob sie mit geöffneten Augen schliefe. Man konnte noch erkennen, dass sie Lippenstift trug, knallrot, vermutlich wasserfest. Kleidung war unter dem Gestrüpp nicht zu sehen, ihr Körper schimmerte schneeweiß durch die schwarzen Zweige hindurch. Enna vermutete, dass sie schon mindestens 24 Stunden tot war. Fliegen hatten bereits angefangen Eier auf ihr zu legen, wie das Vorhandensein einiger Maden zeigte. Bei warmem Wetter wie gestern, konnte das sehr schnell gehen. Sie schaute sich in der Nähe um. Nichts deutete darauf hin, dass der Mord hier passiert sein könnte.

      Die Ems führte zu dieser Jahreszeit wenig Wasser und strömte gemächlich dahin. Die Männer der Spurensicherung und uniformierte Beamte waren damit beschäftigt die Umgebung abzusuchen. Sie wollte warten, bis der Fotograf fertig war, bevor sie die Zweige weiter entfernte. Und sie würde dafür sorgen, dass die Menschen hier verschwanden. Sie hatte noch nicht oft mit Mord zu tun gehabt. Aber in den Fällen, die sie in Münster bearbeitet hatte, hatte sie große Empathie für die Opfer empfunden und eine tiefe Trauer. Gefühle, die sie nicht abschalten konnte, obwohl das für die Lösung des Falles besser gewesen wäre. Ein tiefes Gefühl des Unrechts und der Unzufriedenheit hatte sie gequält, wenn ein Fall nicht gelöst werden konnte. Aber das gehörte zu ihrem Beruf. Es hatte gut getan, mit Rüdiger über solche Dinge zu reden. Er hatte sie verstanden. Er kannte sich damit aus. Sie vermisste ihn.

      Was ist dir nur passiert, fragte sie, als sie die Leiche betrachtete und schwor ihr, es herauszufinden.

      „Es ist doch hier nichts am Fundort verändert worden?“ fragte sie ihren Kollegen Kötter-Stroth.

      „Soweit ich weiß, nicht.“

      „Was heißt, soweit Sie wissen?“

      „Da müssen Sie wohl den Herrn fragen, der die Tote gefunden hat. Wir haben hier natürlich nichts verändert.“ Er schien ein wenig beleidigt wegen der Frage, aber genau konnte sie das nicht feststellen. Kötter-Stroths Augen waren hinter der Brille kaum zu erkennen. Seine Brillengläser waren mit Wassertropfen gesprenkelt.

      „Und wer ist der Herr?“ Enna hasste es, wenn sie jemandem jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste. Das war schon vorhin im Streifenwagen so, als sie sich mit Kötter-Stroth bekannt gemacht hatte. Der 60-jährige Polizist hatte sie freundlich willkommen geheißen, aber Details zum Fall hatte sie nur auf Nachfrage erhalten. Immerhin war sie nun seine Chefin und sie erwartete, dass jeder spurte. Sie hatte sich vorgenommen, eine freundschaftliche, aber auch strenge Chefin zu sein. Das hatte sie von Rüdiger gelernt.

      „Der Herr Haverland hat sie gefunden. Er steht dort hinten beim Streifenwagen.“ Sie sah in der Ferne einen Mann in Reitstiefeln auf und ab gehen. Sein Pferd graste in einiger Entfernung und ein mittelgroßer, brauner Hund lief um ihn herum. „Er hat schon danach gefragt, gehen zu dürfen. Hat wohl noch dringendes in seinem Betrieb zu erledigen.“

      „Am Sonntag? Gut, ich spreche gleich mal mit ihm!“ Gab es denn hier niemanden, der am Sonntag ausspannen wollte?

      „Die Forensik ist übrigens schon unterwegs.“

      „Gut“, sagte Enna nur. Daran hatte sie noch nicht gedacht. Die Spurensicherung war längst vor Ort, ein Rechtsmediziner erschien jedoch nicht immer am Tatort. Normalerweise reichte eine Untersuchung in der Pathologie aus. Aber manche Rechtsmediziner fanden es hilfreich, das Opfer in der Umgebung des Fundorts zu untersuchen. Das gibt ihnen manchmal weitere Aufschlüsse. Enna betrachtete das als großes Engagement für den Fall und war dankbar. Und das an einem Sonntag. Diese Person hatte auf jeden Fall jetzt schon Pluspunkte bei ihr.

      „Bei dem Regen werden wohl nicht viele Spuren an ihr hängenbleiben“, meinte Kötter-Stroth dann. Enna nickte.

      „Wenn sie vergewaltigt worden ist, könnten wir Glück haben.“

      „Sieht ja ganz danach aus. Wer macht sowas?“ Kötter-Stroth schüttelte fassungslos den Kopf. Manchmal ließ ein Mörder aber auch die Kleidung verschwinden, um keine Spuren zu hinterlassen. Sie fragte sich allerdings auch, warum die Tote nicht einfach in die Ems geworfen wurde. Es hätte sicher länger gedauert, bis man sie gefunden hätte. Vielleicht wäre sie auch für immer in den Fluten versunken.

      Ein junger Mann mit langem Vollbart kam auf sie zu. Kötter-Stroth stellte ihn vor.

      „Frau Kolder, das ist der Kommissar-Anwärter Paul-Peter Schellenberg von der SpuSi.“ Der Mann war in Zivil und kaum 30 Jahre alt.

      „Sie sind der Leiter der SpuSi?“, fragte sie ihn ungläubig. In der Ferne hörte man wieder Donnergrollen.

      „Nein, das ist der Herr Ollenschläger. Der ist aber leider längerfristig erkrankt, ich vertrete ihn.“

      „So, aha. Sehr schön. Könnten Sie dann hier bitte einen Sichtschutz aufstellen? Am besten ein Zelt, wenn ich mir das Wetter so ansehe.“ Enna hätte wirklich freundlicher zu ihm sein können. Sie merkte, dass sie nervös war. Ihr erster Mordfall als leitende Ermittlerin machte sie nervös. Und trieb ihre Kopfschmerzen auf die Spitze.

      „Wie es aussieht, ist die Frau unbekleidet, nicht wahr?“, fragte sie ihn dann.

      „Es sieht so aus“, antwortete Schellenberg freundlich.

      „Das heißt vermutlich werden wir auch keine Papiere bei ihr finden“ Noch während sie diese Schlussfolgerung aussprach, merkte sie wie absurd diese war.

      „Oh, wir wissen wer sie ist“, meinte der junge Mann. „Der Entdecker der Toten kennt… äh, kannte sie.“ Enna sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte vergessen, dass in einer Kleinstadt wie Maarsum, beinahe jeder jeden kennt. „Die Tote ist Susanna Schnieders-Kösters, die Frau von Jens Schnieders, eines Wurstfabrikanten aus Maarsum.“

      „Und das haben Sie vom Herrn, wie war der Name, Haverland?“, fragte Enna erstaunt. Schellenberg nickte. „Es hat aber vermutlich noch niemand den Ehemann benachrichtigt, nehme ich an?“ Ihr war klar, dass das ihre Aufgabe war, die sie so schnell wie möglich erledigen musste. Bevor die Betroffenen es von jemand anderem erfuhren. Sie war sicher, dass sich die Nachricht von einem vermeidlichen Mord wie ein Lauffeuer in Maarsum verbreiten würde.

      „Nein, noch nicht!“ Schellenberg schüttelte den Kopf. Er würde nun das gleiche denken wie sie, da war sie sicher. Es war ihre Aufgabe.

      „Wann wird die KTU denn voraussichtlich eintreffen?“ Enna hätte noch gerne ein paar Worte mit dem Mediziner gesprochen, bevor sie die undankbare Aufgabe der Benachrichtigung der Angehörigen übernahm. Schellenberg wandte sich zu seinem Kollegen um.