„Was ist denn passiert?“, fragte sie heiser.
„Du bist in das Gemenge gekommen, mehr weiß ich auch nicht! “ Anne war fassungslos. Zumindest hatte der Zwischenfall Anne wieder nüchtern werden lassen.
„Der Terrassenheizer ist ihr auf den Kopf gefallen“, sagte jemand aus der umstehenden Menge. Enna blickte sich um und bemerkte das Chaos. Neben dem umgekippten Terrassenheizpilz lag Abfall verstreut. Sie erinnerte sich wieder an die randalierende Bande in den tierischen Verkleidungen. Die wilde Meute war hier gewesen und hatte die Mülleimer von Bertrams Pommesbude umgekippt. Und sie selbst niedergeschlagen. Aus Versehen oder Absicht? Ennas Polizistengehirn begann zu arbeiten. Aber wo war die Polizei? Sie erinnerte sich, dass sie den Notruf gewählt hatte. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Ihre zukünftigen Kollegen hatten es offensichtlich nicht für nötig befunden, sich her zu bemühen.
Enna wollte aufstehen, doch zu den Kopfschmerzen gesellte sich ein heftiger Schwindel.
„Bleib liegen, ich habe einen Krankenwagen gerufen“, sagte Anne und drückte ihr eine Hand auf die Schulter. „Man kann dich aber auch keine Sekunde allein lassen!“ Sie blickte sie vorwurfsvoll an. Enna wollte nicht ins Krankenhaus.
„Mir geht’s gut“, wehrte sie ab. Sie wollte heraus aus dieser Lage und vor allem aus dem Unrat.
„Du könntest eine Gehirnerschütterung haben. Bleib liegen!“
„Wie konnte das überhaupt passieren?“, fragte sie. Sie hatte geglaubt, immer gut vorbereitet zu sein, gegen jede Art von Gefahr. „Hat mich jemand angegriffen?“, fragte sie an Anne gewandt.
„Ja, der Heizpilz! Ganz gemein und hinterrücks. Und nun bleib bitte liegen!“, antwortete diese.
Im Hintergrund ertönte endlich ein vertrautes Geräusch. Das Martinshorn eines Polizeiwagens. Enna legte ihren Kopf auf die angewinkelten Knie. Sie hätte Lust, selbst Ordnung zu schaffen, in diesem Chaos, aber ihr Kopf ließ keinen klaren Gedanken zu.
„In welche Richtung sind die Randalierer verschwunden?“, fragte sie ihre beste Freundin.
„Hör mal, du willst doch jetzt hier keine Ermittlungen anstellen! Das überlass mal lieber der Polizei!“ Anne war entrüstet.
„Und die ist schon da!“ ertönte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihr. Enna wollte gerade anmerken, dass sie selbst die Polizei sei, als die beiden Beamten neben sie traten.
„Was ist hier passiert?“, fragte der ältere der beiden Männer, der in Zivil war. Er sprach mit holländischem Akzent. Die niederländische Grenze war nicht weit und man traf häufig auf Niederländer, die sich im Emsland oder in der Grafschaft niedergelassen hatten.
„Hier ist eine Gruppe Bekloppter eingefallen und hat alles verwüstet“, entrüstete Anne sich erneut und gestikulierte wild mit den Armen. Sie konnte herrlich theatralisch sein. Aber jetzt war es Enna eher peinlich. „Und dann haben diese Chaoten meine Freundin hier k.o. geschlagen. Mit dem Terrassenheizer!“
„Sind Sie verletzt?“, fragte der Niederländer und sprach dabei das S auf die typisch holländische Weise aus, so dass es viel weicher klang als im Deutschen.
„Es geht schon wieder.“
„Wirklich?“ Der Mann schien ihr nicht zu glauben und sie befürchtete, dass ihre Erscheinung nichts anderes zuließ. Wie peinlich war das! Hier standen ihre neuen Kollegen und Mitarbeiter und sie lag vor ihnen im Dreck! So hatte sie sich ihre erste Begegnung nicht vorgestellt.
„Wirklich!“ bestätigte sie. Aber es half nichts, Enna musste aus dieser Lage herauskommen und Klarheit schaffen. Mit größter Anstrengung schaffte sie es, sich zu erheben, und dieses auch nur, weil Anne nun mit den Beamten beschäftigt war, und ihnen eine Standpauke wegen ihrer fehlenden Anwesenheit bei diesem Event hielt.
Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, wurde ihr wieder schwindelig. Sie glaubte sich fast schon wieder am Boden als sie den kräftigen Arm des Zivilbeamten aus Holland um sich spürte.
„Hoppla! Wo wollen wir denn hin?“, fragte er und sie blickte ihm in das bartstoppelige Gesicht, das sie von oben anlächelte. Er musste um die Vierzig sein und seine graugrünen Augen wirkten freundlich.
„Es geht schon. Sie können mich wieder loslassen, danke!“ Warum musste ihr das gerade jetzt passieren? Trotz ihrer eher zierlichen Figur war sie für gewöhnlich hart im Nehmen. Aber der Schlag hatte ihr mehr zugesetzt, als sie zunächst geglaubt hatte.
„Sie sollten ins Krankenhaus gehen!“, sagte er und ließ sie vorsichtig wieder auf ihren eigenen Beinen stehen.
„Das habe ich ihr auch geraten“, mischte Anne sich ein.
„Ich glaube, ich höre den Krankenwagen schon“, bemerkte der Polizist in Uniform.
„Schon ist gut!“, sagte Anne besorgt. „Das hat eine Ewigkeit gedauert. Sie hätte tot sein können!“ Wenn Anne einmal in Fahrt war, konnte sie nichts bremsen. „Und wenn Sie sich etwas schneller herbewegt hätten, hätten diese Spaßverderber hier nicht so ein Gemetzel anrichten können!“, fügte sie wütend hinzu.
„Bitte, beruhigen Sie sich!“, forderte der uniformierte Polizist, ein junger Mann mit kurzgeschnittenem, weißblondem Haar sie auf. Anne öffnete den Mund, um zu erneuten Beschuldigungen anzusetzen.
„Anne, lass gut sein!“, versuchte Enna zu vermitteln. „Es geht mir gut!“ Das laute Sprechen verursachte ihr einen erneuten Kopfschmerzanfall.
„Das ist gelogen und das weißt du! Dir hätte Gott weiß was passieren können! Die hätten uns alle massakrieren können und keiner wäre gekommen! Wo leben wir denn?“
„Wenn die Damen sich einig sind, wie es Ihnen geht, dürfte ich dann noch Ihre Personalien aufnehmen?“, fragte der Niederländer Enna freundlich. „Vorausgesetzt Sie fühlen sich dazu schon in der Lage.“ Enna wollte gerade zustimmen, als zwei Rettungssanitäter mit einer Trage erschienen, die sich den Weg zu ihnen gebahnt hatten. Es standen immer noch Menschen um sie herum, die das Geschehen beobachteten.
„Ich komme am Montag zu Ihnen auf das Revier“, antwortete sie ihrem zukünftigen Kollegen. Sie hatte nicht die Kraft, ihre persönliche Situation hier und jetzt aufzuklären. Am Montag würde sie sich in aller Form im Revier vorstellen. Am liebsten hätte sie sich auf die Trage der Sanitäter gelegt und sich aus dem Gemenge heraustragen lassen, aber das war ihr vor den neuen Kollegen zu peinlich. Es war wie eine Schwäche, sich vor ihnen so angeschlagen zu präsentieren. Sie musste Stärke demonstrieren, in der Position, die sie zukünftig innehaben würde. Außerdem hatte sie das Gefühl, die Beamten würden ihr Trunkenheit unterstellen.
Der Beamte schaute verdutzt drein, als sie mit Anne den Schauplatz des Gemetzels verlassen wollte.
„Sagen Sie mir bitte wenigstens Ihren Namen und Ihre Adresse?“, bat er. „Ich muss Sie das fragen…“
„Haben Sie ja jetzt getan.“
Damit ging sie davon. Sie hatte sich dafür gerächt, beim Notruf so nicht ernst genommen worden zu sein. Was Disziplin betraf, verstand sie keinen Spaß. Das war schon immer so gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich oft in ihrem Leben selbst hatte disziplinieren müssen. Nach Leonards Tod. Oder auf ihrer Afrika-Mission während der Ebola-Epidemie.
Sie war gespannt auf die Gesichter der Kollegen, wenn sie in zwei Tagen als neue Chefin vor ihnen stehen würde.
„Du solltest wirklich zu einem Arzt gehen“, meinte Anne, als sie auf ein Taxi warteten. „Warum bist du nicht mit ins Krankenhaus gefahren? Ganz schön leichtsinnig!“
„Ich möchte jetzt einfach nur nach Hause!“ Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in ihrem eigenen Bett zu schlafen, in welchem häuslichen Chaos auch immer es sich befinden mochte. „Ich kann ja immer noch zum Arzt gehen, wenn es nicht besser werden sollte.“
„Ja, aber morgen