„Okay, … vielen Dank!“ Es gab bei einem Mordfall jede Menge Details zu klären. Die Tatsache, dass man seine Kollegen nicht kennt, machte die Sache nicht einfacher. Sie trat noch einmal an die Tote heran und nahm ein paar Birkenzweige herunter. Die Frau hatte einen durchtrainierten Körper mit Tätowierungen, eine Rose auf dem Schulterblatt und ein Arschgeweih. Sie trug ein silbernes Armband, mehrere Ringe und diverse Piercings in den Ohren.
Enna stapfte über die matschige Wiese die Böschung hinauf, an den Zuschauern vorbei, um mit dem Reiter zu sprechen, der immer noch ungeduldig auf sie wartete.
„Gehen Sie bitte nach Hause, hier gibt es nichts zu sehen“, bat sie die Menschen.
„Ist die Schnieders-Kösters ermordet worden?“ Eine ältere Frau mit Rosenmuster-Regenschirm wollte es genau wissen.
„Wir können dazu noch nichts sagen, bitte gehen Sie!“, wies Enna die Wartenden an. Die Leute setzen sich langsam in Bewegung.
„Die wird sich wohl nicht freiwillig nackt unter den Haufen Gestrüpp gelegt haben“, murmelte ein älterer Herr. Enna stapfte weiter hinauf zur Straße.
Der Hund begann laut zu bellen. Die Anstrengung, die rutschige Böschung hinaufzusteigen und das Gebell des Hundes ließen ihre Kopfschmerzen erneut aufwallen. Es pulsierte und hämmerte gegen ihre Stirn und ihr Schädel fühlte sich an, als wollte er zerplatzen wie eine Melone. Ihre Hand wanderte in die Manteltasche, um nach den Kopfschmerztabletten zu greifen, doch sie hatte kein Wasser, um sie einzunehmen. Sie hatte den Mann noch nicht ganz erreicht, da erkannte sie ihn wieder. Vor ihr stand der blonde Reinhard, der Mann, der Jeden und Jede kannte. Auch die Tote. Die Welt war noch kleiner, als sie dachte.
„Na sowas! Schon so früh unterwegs?“, rief er aus. Er war völlig durchnässt. Sie reichte ihrer Schlachtfest-Bekanntschaft die Hand.
„Nicht freiwillig. Enna Kolder, Kriminalhauptkommissarin aus Maarsum“, stellte sie sich ordnungsgemäß vor. „Ich habe ja gesagt, ich komme wieder.“ Sie versuchte krampfhaft zu lächeln. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass dieser Trunkenbold und Frauenheld ihr Zeuge war.
„Tja! Ich hatte aber eigentlich noch gestern Abend mit dir gerechnet. Mein Name ist Haverland.“ Er hatte einen enormen Händedruck und seine Hände waren überraschenderweise warm. Da er sie nicht weiter auf das Missgeschick mit dem Terrassenheizer ansprach, vermutete sie, dass er nicht mehr viel von dem Abend mitbekommen hatte. „Dann muss ich dich ja jetzt wohl Siezen“, meinte er lächelnd. Enna überlegte einen Augenblick.
„Nicht nötig.“ Sie war nicht der Mensch für Formalitäten. Der braune Hund, ein kräftiger Airdale-Terrier, kläffte immer noch aus voller Kehle. Schließlich wies er das Tier zurecht.
„Also ich habe die Tote heute bei meinem morgendlichen Ausritt gefunden“, begann er. „Genauer gesagt, mein Hund hat sie gefunden.“
„Hast du, oder dein Hund, irgendetwas am Fundort verändert, zum Beispiel die Zweige abgedeckt?“, fragte sie ihn.
„Ich bin natürlich gleich abgesessen und habe mir das angesehen. Das Bein schaute da raus, und da habe ich natürlich gedacht, da stimmt was nicht“, antwortete Reinhard wichtigtuerisch.
„Also hast du sofort erkannt, dass es sich um eine tote Person handelt?“
„Na ja, so wie meine Hündin angeschlagen hat, dachte ich erst, da ist ein Hase drunter. Dann war’s aber doch ein Häschen!“ Er setze ein frivoles Grinsen auf. „Und das Bein einer Dame erkenne ich auf den ersten Blick, glaub mir.“ Er grinste weiter.
„Ich glaube nicht, dass das ein Anlass für Scherze ist.“, sagte sie streng. Die Tatsache, dass Reinhard Haverland heute nüchtern war, erhöhte nicht die Qualität seiner Sprüche. „Du kanntest die Tote?“, fragte sie.
„Ich kannte sie, jawohl.“ Die Situation schien ihm nicht nahezugehen. Oder er war enorm abgebrüht. „Susanna hatte keine Klasse, … nicht so wie du!“, behauptete er dann. Enna konnte es nicht glauben. Es war ein Mord geschehen und er hatte die Nerven, sie anzubaggern. „Susanna Schnieders-Kösters war die Dorfmatraze“, fügte er hinzu. „Sie ging mit allem und jedem ins Bett.“ Der muss es wohl wissen, dachte Enna bei sich.
„Und du hast nichts am Fundort berührt oder an der Toten?“, fragte sie dann.
„Na ja, ich habe den Kopf etwas freigelegt“, gestand er. „Ich musste doch nachsehen, ob man ihr noch helfen kann. Aber so wie sie aussah, wusste ich gleich, dass sie tot ist. Habe dann noch versucht am Hals den Puls zu fühlen, da habe ich die Würgemale gesehen. Sie war schon eiskalt und ganz starr.“ Enna glaubte ihm. Sie hatte die Leiche gesehen.
„Reitest du jeden Sonntagmorgen hier lang?“, wollte sie wissen.
„Mal hier lang, mal dort lang. Die Pferde wollen ja bewegt werden.“
„Keinen Kater von gestern?“
„Na klar, und was für einen.“ Er grinste ein breites Grinsen. „Reiten macht den Kopf wieder klar. Kannst gerne mal mitkommen, wenn du Lust hast“, bot er an.
„Danke, mein Kopf ist völlig klar.“ Das war eindeutig gelogen, aber sie hatte keine Lust mit Reinhard in eine nähere Beziehung zu treten, nicht einmal zum Reiten. „Wie ist das mit der Schürfwunde in deinem Gesicht passiert?“, wollte sie von ihm wissen. Die Wunde hatte die verdächtige Form von Kratzspuren, ob von einem Menschen oder einem Tier, konnte sie nicht sagen. Reinhard fasste sich ins Gesicht und strich sich über die verheilende, schorfige Wunde.
„Ach das, … das ist vom Radfahren. Ich habe mit dem Gesicht gebremst. Soll man nicht machen, ist ungesund!“ Er lachte.
„Ist das gestern passiert?“
„Nee, am Freitag. Hatte schon was auf. Da konnte ich natürlich nicht mehr Auto fahren, Frau Wachtmeister, das können Sie sich ja vorstellen.“ Und wie genau sie sich das vorstellen konnte! Er war also auch am Freitag schon ziemlich betrunken gewesen. Und prahlte damit. Sie hielt das übermäßige Trinken keinesfalls für ungewöhnlich. Im Emsland wurde viel getrunken, dafür war es bekannt. Und bei Festen hielt sich kaum jemand zurück, das hatte sie in ihrer Jugend oft erlebt. Und auch selbst praktiziert. In Ennas Jugend gab es eine Phase, in der sie das Leben ausprobiert hatte, mit all seinen Möglichkeiten und Facetten. Alkohol hatte dazu gehört.
„Wann hast du Susanna Schnieders-Kösters zuletzt lebend gesehen?“, fragte sie schließlich.
„Puh, keine Ahnung. Wahrscheinlich am Freitag, am ersten Abend des Schlachtfestes. Ja, da habe ich sie kurz getroffen. Sie war mit Heinz dort, ihrem Vater. Und Marita, seine Lebensgefährtin, war auch da. Wird das jetzt ein Verhör, oder was?“ Susannas Tod ließ ihn definitiv völlig kalt.
„Nein. Aber ich möchte dich bitten, morgen auf dem Revier zu erscheinen. Für eine Zeugenaussage. Und ich möchte dich außerdem bitten, umgehend ins Krankenhaus oder zu einem Arzt zu gehen, für einen Blutalkoholtest. Vielen Dank.“ Reinhard pfiff missbilligend durch die Zähne.
„Und wenn ich mich weigere?“
„Macht dich das verdächtig“, antwortete sie kühl. Damit ließ sie ihn stehen. Sie vermutete, dass er noch Restalkohol im Blut hatte.
Reinhard Haverland stieg auf sein Pferd und befahl dem Terrier, ihm zu folgen.
„Bitch“, rief er ihr nach als sie außer Hörweite war.
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Sie hatte Kötter-Stroth gebeten, sie zunächst zum Ehemann der Toten zu fahren. Jens Schnieders wohnte in einem neu erbauten Einfamilienhaus, das etwa dreimal so groß war, wie ihr eigenes. In einem übergroßen Carport, der an das Haus angebaut war, standen ein neuer 5er BMW und ein Porsche Carrera älteren Baujahrs. In der Einfahrt parkte ein vergleichsweise billiger roter Seat. Das Haus aus cremeweißen Klinkern war ebenso gepflegt wie der Vorgarten. Alles war in einem eher konservativen Stil gehalten, hier und da erhoben sich weißgraue steinerne Figuren aus den flach angelegten bunten Rabatten. Es gab mehr Pflaster, Kies und Stein als