„Ich muss unbedingt was essen.“ Ennas Magen meldete sich wieder. Wenn sie weiter Alkohol auf nüchternen Magen trank, würde ihr schlecht werden. Anne hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Nachbartisch gelenkt und sah nicht so aus, als wolle sie mitgehen.
„Klar, … ich zeige dir den besten Bratwurststand … von allen“, bot Reinhard sich an. „Ich geb dir … was aus!“ Es dauerte eine Weile, bis die Sätze heraus waren.
„Danke. Musst du nicht. Bleib lieber hier und pass auf Anne auf!“ Damit war Reinhard sofort einverstanden.
„Du kommst aber wieder!“, forderte er lautstark. Enna versicherte es ihm, stand auf und begann sich durch die Menge nach draußen zu kämpfen. Sie blickte auf die Uhr, es war inzwischen elf geworden und sie war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war. Am Zeltausgang angekommen atmete sie tief durch. Es war immer noch sehr warm und die Anzahl Festbesucher schien sich nicht zu verringern. Enna hatte vergessen, wie man im Emsland feierte. Mit viel Alkohol – vor allem. Sie dachte darüber nach, sofort nach dem Essen zu verschwinden. Aber konnte sie Anne das antun? Andererseits würde es heute kein persönlicher Abend zwischen ihnen mehr werden, so viel war klar. Sie drängelte sich zur nächsten Würstchenbude durch und bestellte eine Pommes mit Majo. Der Pommesverkäufer kam ihr bekannt vor.
„Geht aufs Haus!“ Er stellte die fettige Mahlzeit auf den Tresen. Ihr wollte nicht einfallen, wer er sein könnte und sie verfluchte den Alkohol.
„Wie komme ich zu der Ehre?“
„Als Begrüßung für unsere neue Polizeichefin.“ Enna war überrascht und überlegte einen Moment, ob sie das annehmen sollte.
„Kennen wir uns?“, fragte sie.
„Ich bin’s, Bertram. Wir waren in einer Klasse.“ Enna sah ihn sich genauer an. Der Mann um die Vierzig sah aus, wie ein Bertram den sie mal kannte, hatte aber offensichtlich im Laufe der Zeit an Bauchumfang zugelegt. Bertram grinste.
„War mal schlanker. … Aber du hast dich überhaupt nicht verändert, Enna!“
„Bertram, ja klar“, rief sie aus. Sie freute sich, doch noch einen alten Bekannten zu treffen. „Danke! Für die Pommes.“ Enna steckte sich eine Pommes in den Mund. „Aber das mit der Polizeichefin vergiss mal schnell wieder. Ich bin Hauptkommissarin und Nebenstellenleiterin.“ Die Pommes waren gut und ihr Hunger ließ sie hastig essen. Sie erinnerte sich an Bertram als eine angenehme und freundliche Person.
„Du hast es ja weit gebracht!“, sagte Bertram, während die anderen Mitarbeiter in Hektik um ihn herum liefen. Es war Stoßzeit an der Pommesbude. Wer beim Trinken durchhalten wollte, musste sich um diese Zeit unbedingt stärken.
„Und du?“, fragte Enna kauend. „Ist das dein Betrieb … oder hilfst du hier aus?“
„Nee, nee, das ist hier schon meins“, sagte Bertram stolz. Sein Nachname wollte ihr nicht einfallen, sie mochte aber auch nicht nachfragen.
„Auch nicht schlecht.“ Enna nickte anerkennend und kaute weiter auf ihren Pommes frites. Es hatte sich also schon herum gesprochen, dass sie den Weg zurück in die Heimat gefunden hatte.
„Ich muss weitermachen. Ich hoffe man sieht sich“, sagte Bertram. „Äh, natürlich nicht beruflich“, fügte er grinsend hinzu.
Enna nickte ihm freundlich zu und merkte, wie gut es tat, etwas in den Magen zu bekommen. Sie fühlte sich gerade wieder mit diesem Abend versöhnt, als plötzlich lautes Gejohle und Geheule am Ende der mit Grill- und Getränkebuden gesäumten Fußgängerzone zu hören war. Sofort mischten sich aufgebrachte Stimmen darunter. Sie hielt inne und drehte sich zum Geschehen um. Sie konnte zunächst kaum etwas erkennen, ein seltsames Treiben spielte sich dort ab. Vermummte Gestalten mit Gegenständen in der Hand tanzten wild zwischen den Festbesuchern hin und her. Die Leute wichen erschreckt zur Seite. Mit den langen Stöcken oder Besen schlugen die Störenfriede um sich und bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Im ersten Moment war ihr nicht klar, ob es sich um ein Spiel, eine Art Aufführung handelte oder ob ein Aufruhr im Gange war. Enna versuchte auszumachen, wie viele Personen beteiligt waren, aber die Vermummten schienen überall zu sein. Verschwanden von einem Ort, um urplötzlich woanders wieder aufzutauchen, sie waren überall zugleich. Und es waren mindestens Zehn. Als der Mob näher kam, stellte sie fest, dass es sich bei der Vermummung um Tiermasken handelte, teilweise mit langen Hörnern bestückt, die die schwarzgekleideten Personen wie tanzende Teufel wirken ließen.
„Die Tierschützer schon wieder!“, hörte sie eine Frau neben sich sagen. „Die können’s nicht lassen!“, sagte ein anderer. Auch die Menschen neben ihr wichen zurück, als die wilde Bande auf sie zukam.
Die Aufrührer schlugen den entrüsteten Gästen die Schalen mit Bratwurst und Senf aus den Händen. Einige der so ihres Essens beraubten liefen erschreckt davon, anderen versuchten nach den Stöcken zu greifen und sich zu wehren, meist ohne Erfolg. Die als Vieh verkleideten Tierschützer, begannen damit, Stehtische umzuwerfen. Gläser zerbrachen, die Menge kreischte. Die gesellige sommernächtliche Stimmung schlug in Rebellion um. Ein als Stier verkleideter Mann schlug mit einem Besenstiel eine Ketchupflasche und einen Serviettenhalter von einem der Tresen, hielt dann seine Waffe vor seinem breitbeinig aufgestellten Körper in die Höhe und blickte sich um wie ein in die Enge getriebenes Tier. Einige Betrunkene taumelten zur Seite. Ein anderer Aktionist, mit dem Kopf eines Schafbockes, hangelte sich an einer Markise hoch. Ein vermeidliches Schwein machte laute Grunzgeräusche und kämpfte sich eine Schneise durch die Reihen an der Sektbar, an der Enna selbst noch vorhin gestanden hatte. Es war unwirklich, wie ein Einfall aus der Unterwelt, und hatte trotz der vorherrschenden Gewalt etwas Mystisches, an diesem mittlerweile dunklen, mondlosen Abend.
Die Revolte schien in einen handfesten Tumult auszuarten. Enna sah sich gezwungen etwas zu unternehmen und nahm ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Sie konnte hier unmöglich allein eingreifen, das würde keinen Sinn machen. Sie musste Verstärkung anfordern. Die Nummern des Polizeireviers, ihres Polizeireviers, hatte sie noch nicht gespeichert, ihr Dienst würde erst übermorgen beginnen und so wählte sie den Notruf. Nach dreimaligem Klingeln hörte sie eine Männerstimme.
„Notruf Leitzentrale.“ Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, um eine möglichst präzise Beschreibung des Vorfalls zu geben.
„Kolder mein Name. Es gibt hier einen Zwischenfall auf dem Schlachtfest in der Innenstadt, nahe Markt. Sie sollten mit wenigstens drei Streifenwagen vorbeikommen.“ Enna dachte kaum darüber nach, dass noch niemand auf dem Revier sie kannte.
„Was ist denn passiert?“, fragte der Polizist am Ende der Leitung.
„Es gibt einen Tumult, ungefähr ein Dutzend Randalierer würde ich sagen, die sich als Nutzvieh verkleidet haben. Es kommt zu Sachschäden. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Personen zu Schaden kommen werden.“
„Nutzvieh? Sie meinen Schweine und Rinder?“, fragte der Diensthabende belustigt. „Also, Personen werden ganz bestimmt zu Schaden kommen, auf dem Fest, da bin ich sicher! Wie war noch ihr Name?“ Enna hörte ihn lachen. Offensichtlich glaubte er an einen Scherzanruf.
„Sie kommen bitte augenblicklich zum Geschehen! Sonst werde ich mir Ihren Namen merken!“, rief sie wütend ins Telefon. Ihr fiel ein, dass der Polizist seinen Namen gar nicht genannt hatte, aber das war ihr im Moment egal.
„Und Sie sind sicher, dass es sich nicht um einen Partygag handelt oder um eine Werbemaßnahme?“ Der Mann wirkte nun doch etwas verunsichert durch ihr entschiedenes Auftreten. „Hören Sie, hier ist der Teufel los. Ich bin die neue …“ Lautes Getöse hinter ihr hinderte sie daran weiterzusprechen. Dann war auf einen Schlag alles schwarz.
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„Enna! … Enna, du liebe Güte!“ Enna schlug die Augen auf und sah Annes besorgtes Gesicht über sich. Erst dann wurde ihr bewusst, dass sie auf dem Boden lag. Festbesucher standen um sie herum und starrten sie an, unter ihnen Bertram. Wie hieß er nur mit Nachnamen? Es wollte ihr nicht einfallen. Zwei