„Und woher kennen wir uns?“
„Von der Schule“, sagte Sie dann langsam. Das machte keinen Sinn. Enna hatte ein gutes Gedächtnis. An einen solchen Paradiesvogel im Lehrerkollegium würde sie sich bestimmt erinnern. Sie erwartete, dass die Frau weitere Informationen preisgeben würde, doch dieser letzte Satz schien sie vorerst überfordert zu haben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass diese Unterhaltung zu etwas führen würde. Josefa Beckmann schien durch Ennas Auftauchen auf eine merkwürdige Weise betroffen und Enna wollte nicht unfreundlich sein.
„Ich kenne hier jeden“, behauptete Frau Beckmann.
„Es tut mir leid, ich kenne Sie nicht. Oder zumindest kann ich mich nicht an Sie erinnern.“
„Ich habe auch Leonard gekannt.“ Die alte Frau Beckmann sah sie mit ihren wässrigen grau-blauen Augen an und lächelte. Dabei ragten ihre Schneidezähne etwas über ihre Unterlippe hervor.
„Leonard? Woher?“, fragte Enna, nun energischer. Doch sie antwortete nicht.
Leonard war tot. Natürlich war jeder im Ort entsetzt gewesen über den Unfall mit Fahrerflucht, der einen jungen Mann mit besten Zukunftsaussichten so früh aus dem Leben gerissen hatte. Jeder im Ort hatte von Leonard gewusst. Die Erinnerung an die Zeit nach seinem Tod kam hier, am Ort des Geschehens, wieder in ihr hoch. Sie war wie in Trance gewesen, hatte tagelang nicht mehr gegessen, tagelang geweint, bis keine Tränen mehr kamen.
Josefa Beckmann kam ihr vor wie eine Erscheinung. Der Blick aus ihren trüben Augen war starr, auf den Lippen stets der Anflug eines Lächelns, der Gesichtsausdruck undurchdringbar, die Stimme sanft. Sie bewegte sich mit einer für ihr Alter unglaublichen Eleganz, fast tänzelnd.
„Es ist was passiert“, teilte die alte Beckmann in ihrer verlangsamten Sprechweise mit. Es war, als ob ihr Kopf nicht mit dem was sie sagen wollte Schritt halten konnte. Enna war perplex. Sollte sie die alte Dame ernst nehmen, oder sprach da nur eine verwirrte alte Frau, die sich etwas zurechtfantasierte? War sie möglicherweise dement? Immerhin kannte sie ihren Namen. Und den von Leonard. Und das nach über zwanzig Jahren.
„Hören Sie, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es bitte!“ Sie befahl es beinahe. Die alte Dame lächelte nur.
„Was darf’s sein?“ Die energische Stimme der Eierfrau. Enna drehte sich abrupt zu ihr um. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie inzwischen an der Reihe war.
„Zehn Bio-Eier bitte.“ Sie bezahlte und packte die Eier eilig in ihre Einkaufstasche. Dann dreht sie sich wieder zu der alten Dame um, doch sie blickte in die Augen eines jungen Mannes mit einem Kleinkind an der Hand. Die alte Beckmann war verschwunden.
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Nachdem sie den Nachmittag mit dem Versuch das Umzugschaos zu beseitigen verbracht hatte, war sie am frühen Abend unter eine wechselwarme Dusche gesprungen. Nach Ausstoßen dutzender Flüche unterschiedlichster Art und Schwere, gelang es ihr endlich die passende Wassertemperatur einzustellen. Die Duschkabinenausstattung verfügte über keinen Thermostaten zum automatischen Einstellen der Wassertemperatur. Ein Fakt, den Enna so schnell wie möglich ändern würde.
Nach dem staubigen und schweißtreibenden Auspacken, Hin- und Herräumen, treppauf und treppab laufen, war das kühle Wasser belebend. Sie atmete tief durch und fühlte sich endlich ein wenig entspannt nach der Aufregung des Tages. Es war ihr nicht klar, was sie mehr gefordert hatte, der Umzug und die Tatsache, dass sie endlich Münster und ihrer unseligen Affäre den Rücken gekehrt hatte oder die Begegnung mit der alten Dame. Oder der Schock, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.
Beim Gedanken an ihre Vergangenheit fiel ihr Anne wieder ein. Sie hatte vor einer Woche mit ihrer alten Schulfreundin telefoniert und ihr mitgeteilt, dass sie wieder in die Gegend ziehen würde. Sie hatten sich während Ennas Zeit in Münster hin und wieder getroffen. Zumindest so häufig, dass ihre Freundschaft nicht eingeschlafen war. Obwohl Enna nicht glaubte, dass das jemals geschehen könnte. Sie waren sich so vertraut, es spielte keine Rolle, wie oft und wie lange sie sich nicht gesehen hatten.
Zwischen den Treffen telefonierten sie hin und wieder und jedes Mal, wenn sie sich tatsächlich trafen, war es, als wenn sie sich gestern erst gesehen hatten. Es gab nie ein Gefühl der Verpflichtung zwischen ihnen oder des Sich-fremd-geworden-seins. Sie waren schon in ihrer Schulzeit unzertrennlich gewesen und sie führte das damals im Scherz darauf zurück, dass sie im Prinzip den gleichen Vornamen hatten. „Enna“ ergab rückwärts gelesen „Anne“. Und Anne war wie Enna, und doch auch anders. Sie hatten beide etwas Wildes, Unbändiges, einen Hang zu Verrücktheiten und ein ihnen eigenes, tiefes Verlangen nach Leben und Glück. Nur dass jeder dieses auf seine eigene Weise auslebte. Anne war ein Muttertier. Auch wenn sie es liebte auszugehen, und dieses meist in einer Aufmachung, die Starqualitäten hatte, und mit Enna liebend gerne nächtelang um die Häuser zog. Ihre eigentliche Bestimmung sah Anne darin, sich um ihren Mann Jan und ihre beiden Kinder zu kümmern. Enna hatte nie eine große Sehnsucht gehabt, Mutter zu werden. Sie hatte es nie ausgeschlossen und war dafür offen. Doch für dieses Vorhaben hatte ihr der richtige Partner gefehlt. Dieses gab sie stets als Begründung für ihre Kinderlosigkeit an. Heute, mit 43 Jahren war es für Kinder fast zu spät. Doch sie hatte nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Sie war in ihrer Arbeit zuhause.
Es schien, als würden die langen Pausen zwischen den Treffen mit Anne ihre Freundschaft noch vertiefen. Anne war begeistert über die Neuigkeit, Enna wieder in ihrer Nähe zu haben. Und Enna hatte versprochen, sich zu melden, sobald sie in Maarsum angekommen wäre. Sie trocknete sich hastig ab und warf sich einen Morgenmantel über. Dann wählte sie Annes Nummer. Während es klingelte, sah sie auf die Wanduhr, die sie, als allererste Handlung im neuen Haus, in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hatte. Es war schon sechs. Ein Treffen mit Anne wäre genau das, was sie brauchte, aber sie bezweifelte, dass Anne so kurzfristig Zeit hatte. Ihre beiden Jungen, 10 und 13 Jahre, beanspruchten sie meistens um diese Zeit. Und Jan war Kapitän zur See und oft nicht zu Hause.
„Lüken.“ Sie freute sich Annes tiefe wohlklingende Stimme zu hören.
„Anne, ich bin es, Enna. Ich bin da, gerade eingezogen – wenn man es so nennen will“, rief sie fröhlich ins Telefon und blickte sich in ihrem Chaos um.
„Enna! Wie schön!“ Anne war begeistert. „Und? Wie geht es dir jetzt damit? Wie fühlt es sich an?“ Anne kannte natürlich die ganze unselige Geschichte mit Rüdiger. Es tat gut, zu wissen, dass sie ihren Kummer notfalls mit ihr teilen konnte.
„Super geht es. Wirklich. Ich hätte Lust dich heute Abend zu treffen und ein wenig meine Heimkehr zu feiern, was hältst du davon?“ Sie rechnete mit einer Absage. Sie hätte Anne eher kontaktieren sollen, um ihre Ankunft anzukündigen. Aber der Frust war so plötzlich über sie gekommen, sie konnte nicht wissen, dass sie Anne jetzt brauchen würde.
„Natürlich! Das machen wir. Das feiern wir, ist doch wohl klar!“ Annes Begeisterung ließ sie aufatmen. Sie brauchte keinen trübseligen Abend zuhause verbringen.
„Toll! Und du hast auch wirklich Zeit? Was machen die Kinder?“
„Meine Mutter ist hier. Sie wird zwar nicht begeistert sein, wenn ich sie gleich wieder allein lasse, aber sie wird es verstehen. Ich muss schließlich auch mal raus, oder?“
„Unbedingt! Hier ist so ein Schlachtfest in der Innenstadt, mit Grillen. Das ist anscheinend das Event, wo hier heute jeder hingeht. Wäre das okay? Ich glaube für einen Club bin ich heute schon zu müde.“
„Grillen? Was immer du willst, Süße. Ich bin dabei! Lass und den Bullen bei den Hörnern packen!“ Sie lachte ihr unvergleichliches melodisches Lachen.
„Du spinnst!“ antwortete Enna nur. Sie wusste, was Anne vorhatte. Ihre Freundin war Flirts noch nie abgeneigt gewesen. Aber niemals würde sie ihren Jan betrügen. Ihre Familie war ihr heilig.
Sie verabredeten sich für 20 Uhr. Das ließ Enna Zeit, sich noch etwas auf der Couch auszuruhen, nachdem