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„Du hast das absolut richtig gemacht. Der Kerl hat es nicht anders verdient!“, pflichtete Anne ihr temperamentvoll mit den Armen gestikulierend bei, nachdem Enna ihr die Gründe für ihren Umzug noch einmal ausführlich erklärt hatte. „Ich meine, Rüdiger ist ein guter Typ, aber man muss sich irgendwann mal entscheiden“, stellte sie fest. „Man kann nicht ständig so ein geborgtes Leben führen!“ Sie war dabei, sich in Ennas Lage hineinzusteigern, wie es ihre Art war. Aber auch wenn Anne ein richtiges Feierbiest war, in den grundlegenden Dingen des Lebens waren ihre Ansichten oft konservativer als die von Enna.
„Geborgtes Leben?“ Enna lachte.
„Ist doch so! Ich kann verstehen, dass man eine Zeit braucht, um zu wissen, was man will. Man kann zwei Leben führen, aber nicht auf Dauer. Wie lange wart ihr jetzt zusammen? Drei Jahre? Mal ganz ehrlich, als stellvertretender Polizeipräsident einer Stadt wie Münster, er wollte doch nie etwas anderes als die Sicherheit und den gesellschaftlichen Status durch seine Frau und seine Familie und seinen Spaß mit dir. Und du wusstest das!“
„Du hast Recht“, gestand Enna seufzend. „Aber ich hatte gehofft, dass sich irgendwann daran etwas ändert.“
„Ja, so wie wahrscheinlich jede Geliebte das hofft.“ Anne schaute sie mitfühlend an. Enna spielte gedankenverloren mit den Bierdeckeln, die auf dem Tisch lagen. Die beiden Frauen hatten sich in einer ruhigen Ecke einen Stehtisch gesucht, an dem sie ungestört reden konnten. Das Schlachtfest war in vollem Gange und das warme und trockene Wetter hatte zur Folge, dass es immer voller wurde. Die Menschen drängten sich schwatzend oder essend an ihrem Stehtisch vorbei. Nur wenige kamen Enna bekannt vor.
Anne sah verführerisch aus. Die paar Kilos, die sie zu viel hatte, wusste sie gekonnt in Szene zu setzen. Heute trug sie ein enges tief ausgeschnittenes T-Shirt mit Goldprint, dass ihre üppige Oberweite vorteilhaft zur Geltung brachte und dazu enge schwarze Jeans. Das von kurzem schwarzen Haar umrahmte Gesicht wirkte edel durch ihre blasse Haut, und sexy durch den knallroten Lippenstift und die dunklen Augen. Wie kam es, dass Enna, die schlank war, ein ebenmäßiges Gesicht und langes glänzendes Haar hatte, sich heute so wenig attraktiv neben ihrer mit Schönheit und Charme glänzenden besten Freundin vorkam? Ennas Haut war nicht mehr so glatt, wie vor zwanzig Jahren, aber eigentlich fand sie immer, dass sie sich für ihr Alter gut gehalten hatte. Dabei hatte sie sich heute besonders sorgfältig geschminkt, für die erste Begegnung mit ihrer Heimatstadt nach langer Zeit. Zwar musste sie anziehen, was sie in ihrem häuslichen Durcheinander finden konnte, aber immerhin trug sie ihre geliebte rot-geblümte Bluse aus Seide und darüber eine leichte hellbraune Lederjacke im Biker-Stil.
„Alles okay?“, fragte Anne. Enna nickte. „Du siehst so nachdenklich aus.“
„Ich habe nur gerade gedacht, was für eine tolle Freundin ich habe.“ Enna strahlte sie an. „Dein neuer Kurzhaarschnitt steht dir übrigens ausgezeichnet“, fügte sie hinzu. Anne hatte ihr langes dunkles Haar vor Kurzem abschneiden lassen und das passte perfekt zu ihrem Typ.
„Lenk nicht ab.“ Anne sah sie durchdringend an. Enna seufzte.
„Ich habe geglaubt, ich würde das Richtige tun, wenn ich mich von ihm trenne.“
„Und das hast du auch!“
„Ja, sicher. Aber vielleicht habe ich auch ein wenig geglaubt, indem ich ihm die Pistole auf die Brust setze, kann ich ihn noch umstimmen.“
„Na, das funktioniert bekanntlich nie“, stellte Anne voller Überzeugung fest.
„Ich weiß. Und ich weiß auch, dass es keine andere Möglichkeit gab. So wie es war, wollte ich es nicht mehr. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, als Geliebte an der Seite eines Mannes alt zu werden!“
„Aber Enna, du wirst doch nicht alt!“ Anne grinste.
„Wir werden alle alt“, meinte Enna. „Du ausgenommen. Du bleibst immer ein Kind!“ Sie lachten. „Ach Anne. Ich möchte einfach auch nur mal jemanden ganz für mich allein“, sagte sie dann frustriert. „Ein gemeinsames Heim, gemeinsame Freunde. Warum klappt das bei mir nicht?“ Anne ließ sich durch Ennas leicht gedrückte Stimmung nicht ausbremsen.
„Ich bin sicher, du wirst ihn noch finden. Du wirst nicht allein alt werden, da bin ich 100prozentig sicher. Wenn einer sein Glück finden wird, dann du! Und weißt du was, darauf trinken wir!“ Anne wandte sich zur Theke und bestellte zwei Prosecco. Enna blieb nichts anderes übrig, als sich dem Tempo ihrer Begleitung zu fügen. Aber sie hatte auch gar nichts dagegen. Heute konnte sie hier noch tun und lassen was sie wollte. Niemand kannte sie. Ab Montag wäre sie Hauptkommissarin im Revier Sachsenstraße 10. Bald würde man sie als Beamtin des gehobenen Dienstes wahrnehmen und sie würde darauf achten müssen, wie sie sich in der Öffentlichkeit gab. Eine Zechtour könnte dann schon problematisch werden.
„Prosit!“ Anne prostete ihr zu und trank das Glas im ersten Zug halb leer. Enna nippte an ihrem Glas. „Weißt du was? Wir werden gleich heute damit anfangen, einen Mann für dich zu suchen“, beschloss Anne. „Die Gelegenheit ist günstig!“
„Oh, bitte nicht!“ Enna lachte. Darauf hatte sie überhaupt keine Lust.
„Wie wär’s mit dem da drüben? Der sieht schon die ganze Zeit hier rüber.“ Sie visierte einen großen blonden Mann an, der ihnen, als er bemerkte, dass man auf ihn aufmerksam geworden war, von der gegenüberliegenden Straßenseite zuprostete. Er war um die fünfzig, hatte eine sportliche Figur und seine Kleidung sah nach Geld aus. Sein dichtes blondes Haar fiel ihm in die Stirn, wodurch er jungenhaft wirkte. Seine Haut war gebräunt, als käme er gerade von einem Urlaub auf Mallorca zurück. Enna blickte kurz hinüber. Irgendetwas störte sie an dem Mann. Die Uhr an seinem Handgelenk war für ihren Geschmack etwas zu groß, seine Kleidung eine Spur zu protzig. Enna liebte einen hochwertigen, aber schlichten Kleidungsstil, an sich selbst, wie auch an Männern. Das Understatement, mit dem Rüdiger sich kleidete, hatte sie immer gemocht. Da durfte ein schlichtes Karohemd auch ruhig mal hundert Euro kosten.
„Der wäre eher was für dich“, stellte sie fest.
„Ach, und wieso wäre?“ Anne kippte den Rest des Prosecco hinunter. „Also, wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn gern!“ Sie lachte. Der Mann auf der anderen Straßenseite lächelte Enna zu.
„Kannst ihn gerne haben. Nicht mein Typ.“
„Wieso nicht? Der ist doch süß“, flüsterte Anne ihr hinter vorgehaltener Hand zu.
„Ich bin noch nicht so weit.“, sagte Enna langsam und mit gedämpfter Stimme.
„Du sollst ihn ja auch nicht heiraten, du Träumerin! Hab‘ ein bisschen Spaß!“ Anne stütze ihr Gesicht auf dem Stehtisch in die Hände und lächelte in Richtung ihrer vermeidlichen Eroberung.
„Achtung, Blondie kommt herüber!“, flüsterte sie und konnte ihr Vergnügen kaum verbergen. Tatsächlich setzte sich der Mann langsam in ihre Richtung in Bewegung. Behindert durch die immer noch dichten Menschenmassen, die sich an Grill- und Bierbuden vorbei schoben, kämpfte er sich voran. Enna versuchte ihn zu ignorieren und nippte an ihrem Glas. Das änderte nichts daran, dass er ihren Stehtisch schließlich erreichte.
„Guten Abend, die Damen!“ Er baute sich vor ihnen auf und strahlte sie an. Enna fand ihn bei näherer Betrachtung noch weniger attraktiv als aus der Ferne. Was wie Sonnenbräune gewirkt hatte, sah nun eher nach Sonnenbrand auf seinem rundlichen Gesicht aus. Seine Augen waren zwar von einem strahlenden Blau, jedoch eher klein und tiefliegend und kamen nicht zur Geltung. Das Blond seiner Haare hatte einen Rotstich. Obendrein stach eine Schürfwunde, die fast über die Hälfte seiner rechten Wange reichte, sofort ins Auge und machte ihn nicht attraktiver.
„Darf man sich dazustellen?“ fragte er und sein Akzent wies ihn eindeutig als Landbewohner aus.
„Wir