Sie blickte in den Spiegel über dem Beifahrersitz. Ihr ungeschminktes Gesicht glänzte regennass und ihre Haare waren durch den Wind zerzaust. Sie versuchte sie mit den Fingern zu glätten und steckte sie hinten unter den Mantelkragen. Enna hasste Aufgaben wie diese und hätte alles dafür gegeben, wieder warm und trocken auf ihrem Sofa sitzen zu dürfen. Selbst ein peinliches nachbarliches Gespräch mit Helmut Brackmann wäre ihr lieber gewesen.
Auf ihr Klingeln öffnete zunächst niemand. Dann hörte sie von innen eine Frauen- und eine Männerstimme im Wechsel. Nach einigem Hin- und Her wurde die Tür geöffnet. Enna war überrascht, Jens Schnieders hatte offensichtlich gerade Damenbesuch. Die Frau um die Dreißig, die durch den Türspalt lugte, trug einen Herren-Morgenmantel und wirkte leicht verschreckt als sie Enna und den uniformierten Kötter-Stroth vor der Tür erblickte.
„Guten Tag, ich bin Enna Kolder von der hiesigen Polizei, das ist mein Kollege Kötter-Stroth. Könnte ich bitte Herrn Schnieders, … Jens Schnieders, sprechen?“ Die Frau im Morgenmantel schaute einen Moment unschlüssig, als ob sie etwas fragen wollte und sich nicht traute.
„Jens?“, rief sie dann nach hinten. „Ist für dich. … Die Polizei.“ Aus dem Wohnhaus war keine Antwort zu vernehmen.
„Könnten wir vielleicht reinkommen?“ fragte Enna freundlich. Die Frau öffnete die Haustür ganz und ließ sie hinein. Enna sah sie sich genauer an. Sie schien das zu bemerken.
„Ich komme gerade aus der Dusche“, entschuldigte sie sich. Ihre schwarzen kurzen Haare waren nass und standen zu allen Seiten ab. „Jens?“, rief sie, diesmal lauter. Im Hausflur roch es nach Kaffee und Rührei.
„Ich komme sofort“, ertönte es aus dem Obergeschoss.
Sie wandte sich entschuldigend lächelnd an die Beamten. Jens Schnieders erschien auf dem Treppenabsatz. Er war ein Mann von Ende Dreißig und unterdurchschnittlicher Attraktivität.
„Die Polizei? In meinem Haus?“ Er erblickte die Beamten und stieg mit schlaksigen Schritten die weiße Marmortreppe hinunter. „Was ist denn passiert?“, fragte er, noch bevor er unten war. Er war lässig gekleidet, seine Jeans wurde von einem Ledergürtel unterhalb eines leichten Bierbauchs gehalten, das buntkarierte Hemd hing halb im Hosenbund, halb darüber. Enna hatte das unbestimmte Gefühl, die beiden bei etwas gestört zu haben. Er schob seine metallgeränderte Brille mit dem Zeigefinger nach oben und blickte die Beamten erwartungsvoll an.
„Habe ich was verbrochen?“, fragte er scherzend. „Ich war die ganze Nacht im Bett, fragen Sie meine Freundin.“ Er blickte zu der Dunkelhaarigen herüber, die im Türrahmen zur Küche stand.
„Herr Schnieders, entschuldigen Sie, dass wir Sie am Sonntag stören, aber ich müsste Sie kurz unter vier Augen sprechen“, begann Enna.
„Ich habe vor Maike keine Geheimnisse.“
„Ist schon gut“, wiegelte diese ab. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
Enna lehnte dankend ab. Kötter-Stroth nicht.
„Darf ich noch Ihren Nachnamen erfahren?“, fragte Kötter-Stroth Maike.
„Wassermann. Maike Wassermann.“ Kötter-Stroth schrieb ihren Namen gewissenhaft in sein Notizbuch und notierte sich noch ihre Adresse und Telefonnummer. Dabei sah er sehr konzentriert aus.
Sie gingen ins Wohnzimmer, in dem sich der Wohnstil wiederfand, den man beim Anblick des Vorgartens erwarten durfte. Alles war hell und wirkte hochwertig, spiegelte aber kaum gegenwärtige Wohntrends wieder und passte nicht wirklich zusammen. Jens Schnieders Wohnzimmer war der Versuch, mangelnden Geschmack mit Geld wettmachen zu wollen.
Enna fand es schwer, die passenden Worte zu finden und zögerte. Für solche Fälle hatte sie sich einmal einen Text zurecht gelegt, aber der genaue Wortlaut wollte ihr nicht einfallen.
„Herr Schnieders, ich muss Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen“, begann sie. „Wir haben heute Morgen ihre Ehefrau Susanna tot aufgefunden. Wie es aussieht, ist sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“ Jens Schnieders sah sie ungläubig an. „Mein herzliches Beileid“, fügte sie noch hinzu.
„Susanna? Tot?“ Er konnte es nicht fassen. Maike war ins Zimmer gekommen und schlug die Hände vor das Gesicht. Kötter-Stroth war ihr gefolgt, in der Hand eine Tasse Kaffee.
„Jemand hat Susanna umgebracht? “ Sie wirkte nun beinahe hysterisch. Jens legte den Arm um sie und versuchte sie zu beruhigen.
„Heinz hat mich gestern früh angerufen und mich gefragt, ob sie hier sei.“, klärte er sie auf. „Heinz Kösters, ihr Vater“, fügte er hinzu. Enna nickte. „Wissen Sie, wir leben getrennt. Susanna ist zu ihrem Vater gezogen. Sie ist am Freitagabend wohl nicht nach Hause gekommen. Ich habe ihm gesagt, er bräuchte sich keine Sorgen machen, das ist bei Susanna normal, dass sie mal woanders schläft.“ Er machte eine Pause. Jens Schnieders wirkte teilnahmslos. Enna konnte seine fehlende Reaktion auf den Tod seiner Frau noch nicht einschätzen.
„Sobald Sie dazu in der Lage sind, würden wir Sie bitten, Ihre Frau zu identifizieren“, Sie fand es schwierig, Menschen in einer solchen Situation zu befragen, aber sie wusste, dass die Umstände so schnell wie möglich ermittelt und so viel Informationen gesammelt werden mussten wie möglich. Der Zeitfaktor spielte eine erhebliche Rolle bei Mordermittlungen. Manchmal waren die Menschen am Anfang viel offener. Oft bewegte gerade der erste Schock sie zum Reden. Und das Vergessen wichtiger Details schritt rasend schnell voran, je weiter sich das Ereignis entfernte.
„Herr Schnieders, ich müsste Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“
„Ja, natürlich“, sagte er nachdenklich. Maike hat sich schnell wieder beruhigt und machte sich von ihm los.
„Ich ziehe mir was über“, teilte sie Enna mit.
„In Ordnung. Sie sollten sich aber zu unserer Verfügung halten, wir müssen auch Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Maike nickte.
„Ist sie wirklich ermordet worden?“, fragte Jens, nachdem Maike den Raum verlassen hatte.
„Wir vermuten es, aufgrund der Art und des Zustands, in dem wir sie gefunden haben.“
„Der Art und des Zustands? Was soll denn das heißen?“, fragte er, nun lauter.
„Ein Reiter hat sie auf einer Emswiese gefunden, unter einem Haufen Zweigen versteckt“, antwortete Enna ruhig. „Da sie unbekleidet aufgefunden wurde, können wir auch ein Sexualverbrechen nicht ausschließen.“
„Unbekleidet? Susanna war die meiste Zeit unbekleidet!“ Er schnaubte verächtlich.
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Enna vorsichtig.
„Wie gesagt, wir sind getrennt. Und das nicht ohne Grund. … Sie ist mehr als einmal fremdgegangen. Man könnte auch sagen, sie hat sich durch sämtliche Betten der Gegend gevögelt“, bemerkte er schnippisch.
„Seit wann sind Sie getrennt?“
„Seit drei Monaten etwa.“
„Und die Trennung war unmittelbare Folge eines Seitensprungs Ihrer Frau?“, wollte Enna wissen.
„Nein, nicht unmittelbar. Ich habe immer geahnt, was sie so treibt - getrieben hat“, sagte er resigniert. „Gewusst habe ich es seit ungefähr vier Monaten, da hatte sie was mit einem Kollegen aus dem Fitnessstudio. Ich habe die beiden erwischt, als sie es hier im Haus getrieben haben. Sie hat die angeblich kurze Affäre dann beendet und mir hoch und heilig geschworen, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Aber ich habe mich daraufhin mal umgehört. Da kam so einiges zutage, das kann ich Ihnen sagen!“
„Bei wem haben Sie sich umgehört?“, wollte Enna wissen.
„Bei Bekannten. … Ich habe Susanna dann zur Rede