Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie noch angezogen war. Ihre Kehle war ausgetrocknet und sie war aufgestanden, um zu trinken und sich auszuziehen. Bis sie gegen neun Uhr morgens durch den stechenden Schmerz am Hinterkopf aufgewacht war, hatte sie wieder fest geschlafen. Danach konnte sie, trotz anhaltender Müdigkeit, keinen Schlaf mehr finden. Es gewitterte den ganzen Morgen und sie hatte den Eindruck, dass es im Haus immer schwüler wurde.
Anne hatte bereits mehrfach versucht, sie anzurufen und Enna schickte eine kurze Textnachricht. Sie würde sie zurückrufen, wenn die Kopfschmerzen verschwunden waren. Eine aufgedrehte Anne, wie sie sie gestern erlebt hatte, konnte sie in diesem Zustand nicht ertragen. Sie schloss die Augen und ließ die Ereignisse des gestrigen Tages Revue passieren. Ein seltsamer Einstieg in ihre neue Karriere. Ein zukünftiger Mitarbeiter findet sie angetrunken, von einem Terrassenheizer niedergestreckt auf dem Boden liegend bei einem Stadtfest. Solche Dinge durften nicht zu Gewohnheit werden.
Sie blickte sich im Zimmer um. Es würde noch eine Menge Arbeit sein, bis sie sich hier wohlfühlte. Der Gedanke an Arbeit ließ das Hämmern in ihrem Kopf wieder einsetzen. Frische Luft würde guttun. Sie öffnete die Schiebetür zur Terrasse und trat mit ihrer Kaffeetasse unter die Terrassenabdeckung. Der Regen hatte aufgehört. Sie sog die frische, noch kühle Sommerluft ein.
Das Grundstück ihres kleinen Einfamilienhauses grenzte hinten an ein Waldstück. Sie blickte nach rechts und nach links. Keiner ihrer Nachbarn war zwischen den hohen Büschen und Lebensbäumen zu sehen. Nur perfekt geschnittener, hellgrüner Rasen blitzte hier und dort hindurch. Ihr eigener Rasen sah weniger gepflegt aus. Das Haus aus den Sechzigern hatte einem alten Herrn gehört, der ins Betreute Wohnen umgezogen war. Er hatte den Garten und das an das Haus angebaute Gewächshaus aus gesundheitlichen Gründen vernachlässigen müssen, hatte er ihr erzählt. Von allen Immobilien, die ihr angeboten worden waren, hatte ihr dieses Haus dennoch am besten gefallen. Auch wenn sie kein ausgemachter Gartenfan war, hatte sie sich sofort in das rote Backsteingemäuer auf dem 800-Quadratmeter-Grundstück verliebt. Es hatte sie an das Haus ihrer verstorbenen Großmutter erinnert.
Häuser wie dieses gab es viele in der Gegend. Aber nicht jedes hatte eine so günstige Lage. Es befand sich in einem Abstand zur Innenstadt, der leicht mit dem Fahrrad zu bewältigen war, und gleichzeitig mitten in der Natur durch den Mischwald, der sich an ihr Grundstück anschloss mit dem daran angrenzenden Teufelsmoor. Sie hatte vor, den Garten pflegeleicht umgestalten zu lassen und das Gewächshaus abzureißen. An dessen Stelle könnte sie ein Gartenhaus setzen, groß genug, um eine Party darin zu feiern. Mit all den vielen Freunden, die sie hier noch nicht hatte.
In Münster hatte sie einen bescheidenen Freundeskreis, der in erster Linie aus Leuten bestand, die sie auf der Polizeischule kennengelernt hatte. Die könnte sie dann hierher einladen. Ganz sicher würde sie ihre Münsteraner Clique bald vermissen.
„Moin!“ tönte es von der Seite. Es war Helmut Brackmann, ihr Nachbar zur Rechten. Mit Helmut hatte sie schon kurz gesprochen. Er war Rentner und lebte allein. Als sie ihm das erste Mal begegnet war, hatte sie geglaubt, den Prototypen des emsländischen Spießbürgers vor sich zu haben. Nachdem sie sich unterhalten hatten, stellte sie fest, dass der erste Eindruck nicht getäuscht hatte. Sie winkte hinüber. „Moin!“ Dann blickte sie an sich hinunter. Sie trug noch ihre geblümte Pyjamahose, darüber ein altes graues Tanktop, und Schlappen. Sie blickte wieder auf. Helmut war noch da.
„Na? Verschlafen?“ fragte er neugierig.
„Ist doch Sonntag!“ Enna versuchte zu lächeln. Helmut winkte und zog sich dann diskret zurück. Vermutlich war er jemand, der sich auch sonntags den Wecker stellte, um pünktlich in der Frühmesse zu sein. Es war gerade einmal elf Uhr. Da man sie von seinem Haus aus hier nicht sehen konnte, vermutete sie, dass er einen morgendlichen Rundgang durch seinen Garten gemacht hatte, um zu sehen, ob noch alle Blumen und Pflanzen an ihrem Platz waren. Und um dabei zufällig etwas von der neuen Nachbarin zu erspähen. Sie fragte sich, ob sie ungerecht gegenüber Helmut war. Vermutlich war sie das, entschuldigte dies aber mit ihren Kopfschmerzen. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war kalt. Enna verzog angewidert das Gesicht, entleerte die Tasse ins Blumenbeet und ging wieder hinein.
Ihr Telefon klingelte, als sie es sich gerade wieder auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Sie fragte sich, wer sie auf dem Festnetz anrufen würde, die Nummer hatte sie außer Anne und ihrer neuen Dienststelle noch niemandem gegeben. Eine unbekannte Papenburger Nummer im Display.
„Kolder.“
„Guten Morgen Frau Kolder, Harald Fehrmann hier.“ Harald Fehrmann war Polizeipräsident in Papenburg und ihr Chef. Die Tatsache, dass er sie persönlich am Sonntagmorgen anrief, verursachte sofort eine neue Kopfschmerzattacke.
„Guten Morgen Herr Fehrmann. Was kann ich…?“
„Frau Kolder, ich weiß, Sie haben heute noch dienstfrei,“ unterbrach er sie, „und ich störe nur ungern, aber es ist etwas passiert, das ihre Anwesenheit in der Dienststelle Maarsum, bzw. an einem Tatort, schon heute dringend erforderlich macht.“ Harald Fehrmann war ein Mann, den Sie schon beim ersten Kennenlernen während ihres Vorstellungsgesprächs als unsympathisch abgestempelt hatte. Seine Stimme war übernormal laut. Alles was er sagte, gab er mit der Präzision eines Pistolenschusses von sich, machte nie überflüssige Worte oder verwendete Floskeln. Smalltalk schien er ebenso wenig zu kennen. Ein harter Hund. Und ein verdienter Polizist, zweifelsohne. Umso mehr wunderte sie sich nun über sein angebliches Bedauern, sie am Sonntag zu stören.
„Was ist passiert?“, fragte sie nur, denn sie wusste, dass er von den Menschen in seiner Umgebung ebenfalls erwartete, präzise und ohne Umschweife zu sein.
„Leichenfund nahe des Duisterwald bei Maarsum. Weiblich, etwa 30 Jahre alt, mit Würgemalen am Hals und einer Kopfwunde. Vermutlich Mord. Die weiteren Details erfahren Sie von Kriminalhauptmeister Bernhard Kötter-Stroth, den ich bereits beauftragt habe, Sie von zu Hause abzuholen. Kriminaloberkommissar Sollewijn ist leider verreist, daher werden Sie das zunächst allein übernehmen müssen.“ Der Polizeipräsident sprach emotionslos. Enna erstarrte. Nicht dass sie sich nicht einen spannenden Fall zum Einstieg gewünscht hätte, aber gleich einen Mord! Sie konnte sich nicht erinnern, dass es in Maarsum oder Umgebung jemals einen Mord gegeben hatte.
„Selbstverständlich. Ich stehe zur Verfügung“, antwortete sie. Wenn auch nicht sofort, dachte sie, mit Blick auf ihr lässiges Outfit.
„Danke. Und viel Glück bei Ihrem ersten Fall.“ Damit legte er auf und ließ sie mit dem Mordfall allein. Sie marschierte so schnell es ihr Kopf erlaubte ins Schlafzimmer, wo sie die Umzugskisten nach geeigneter Kleidung für eine Mordermittlung bei Regenwetter durchwühlte. Es klingelte an der Haustür. Sie blickte aus dem Fenster auf die Straße. Es war der Streifenwagen. Ein Polizist in Uniform stand vor ihrer Tür. Enna zog sich eine Jeans über, sprang ins Bad, um sich die Haare zu bürsten und lief dann die Treppe hinab. Es klingelte wieder. Das würde heute nichts werden, mit dem gemütlichen Regentag zuhause. Eine Frau war getötet worden. Sie musste sofort los.
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Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören, als Enna mit Polizeiobermeister Bernd Kötter-Stroth zur Ems hinunterstiefelte. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Der Fundort, eine malerische Emswiese mit einer Böschung zur Ems hinunter, war nahe einem Waldstück gelegen und hatte etwas romantisches. Ein Ort, an dem man sich ein gemütliches Picknick vorstellen konnte, läge nicht eine tote Frau darin. Enna sog den Duft der nassen Erde ein, der sie an ihre Kindheit erinnerte. An ihre Streifzüge durch die feuchten Wiesen hinter ihrem Elternhaus, auf der Suche nach geheimnisvollen Orten, an denen sie sich phantastische Geschichten ausdachte.
Unermüdlich zog der Fluss vorbei. Regentropfen prasselten auf die nackte weiße Haut der Toten, die mit dem Gesicht nach unten unter einer Anhäufung aus Birkenreisig lag. Nur der Kopf und ein Bein schauten unter dem Gestrüpp hervor, wie unter einer Bettdecke aus Zweigen, die man nicht sorgfältig genug auf sie gelegt hatte.