Noch heute und morgen hatte sie zur Verfügung, zum Aufräumen dieses Durcheinanders, am Montag würde sie die neue Stelle antreten. Ihr neuer Posten als Hauptkommissarin. In Münster wollte sie nicht bleiben, nach der Trennung von Rüdiger. Sie war immer schon für einen klaren Schnitt, wenn es darum ging Altes hinter sich zu lassen. Alles andere schmerzte umso mehr. Sie wollte es so, um neu anzufangen. Enna wusste, sie konnte sich neu erfinden. Das ist ihr damals gelungen, und heute würde es wieder gelingen. Auch wenn es schwer fiel.
Sie hatte noch alle Zeit der Welt, um es sich hier gemütlich zu machen. Was das Einrichten betraf, stand sie nicht unter Druck, außer sie machte ihn sich selbst. Es gab niemanden, der sie antrieb, niemanden, dem sie es recht machen musste. Niemanden für den sie es schön machen konnte, nur sie selbst. Sie musste wieder an Rüdiger denken. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie jedes Mal das Verlangen, ihm eine Kurznachricht zu schicken. Jedes Mal tat sie es dann doch nicht. Es war besser so.
Das war es also, ihr neues Zuhause. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Es roch immer noch nach Schweiß. Sie öffnete ein Fenster. Dann noch eines in der Küche. Sie atmete tief durch als wollte sie etwas herauslassen. Aber die Traurigkeit wollte nicht weichen. Etwas Neues würde beginnen, sie sollte nach vorne blicken. Doch es kam Enna Kolder so vor, als hätte sie in ihrem Leben gerade einen Schritt zurück gemacht.
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Der Hunger hatte Enna fluchtartig aus dem Haus getrieben. Beim Durchfahren durch das Zentrum von Maarsum am Morgen hatte sie festgestellt, dass heute Wochenmarkt war. Gegen gedrückte Stimmung halfen als frische Lebensmittel vom Markt immer. Die Fahrt mit ihrem alten Golf in die Stadt war eine Reise in die Vergangenheit. Sie hatte sich nie Gedanken gemacht, wie ihre erste Begegnung mit Maarsum sein würde, nach der langen Zeit. Der Schock war groß. Und es war ernüchternd. Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass sie hier nun eine Weile aushalten musste, empfand sie die Stadt als langweilig und spießig. Maarsum hielt in keinster Weise stand gegen das wunderschöne historische Münster mit dem Flair einer Studentenstadt. Ohne den Gedanken an eine Endgültigkeit hätte sie es als einen netten Ausflug empfunden, nun war es einfach nur trostlos. Irgendwann würde sie sich ein Fahrrad besorgen, wie früher. Und wie in Münster. Irgendwann, wenn sich alles eingespielt hatte.
Automatisch hatte sie ihr Handy an die Freisprechanlage angeschlossen. Als Kommissarin wollte sie erreichbar sein, auch wenn sie noch nicht im Dienst war. Wenn sie außer Dienst war, war ihr Handy die einzige Verbindung, die sie zu Rüdiger hatte. Rüdiger von Hatten, stellvertretender Polizeipräsident von Münster, ihr altes Leben. Attraktiv, zwölf Jahre älter als sie, zwei erwachsene Söhne und verheiratet. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken, aber ihr Heimweh führte dazu, dass es ihr wieder nicht gelang, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen.
In Maarsum gab es wenig, an das sie sich noch erinnerte. Selbst für den Weg in die Stadt musste sie sich konzentrieren, um nicht falsch abzubiegen. Die Stadt hatte sich gewaltig verändert. Viele der alten Häuser waren neueren modernen Bürokomplexen und Geschäften gewichen. Sogar ein überdachtes Einkaufszentrum hatte man gebaut. Maarsum war nie eine reiche Stadt gewesen, aber alles war immer ordentlich und sauber, soweit sie sich zurückerinnern konnte, die Verkehrsinseln üppig bepflanzt, die Häuser renoviert. So war es immer noch. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Sie parkte auf dem Johannes-Kolbe-Platz, wie früher.
Als sie die Fußgängerzone betrat, fand sie eine Reihe neuer Läden und Cafés vor, dazwischen gab es nur wenige leerstehende Geschäfte. Hier fühlte sie sich etwas mehr zuhause. Die alten unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhäuser waren noch vorhanden, ebenso wie die zu ihrer Schulzeit gebaute Bücherei, damals hochmodern. Die wirkte nun ein wenig abgenutzt, aber immer noch einladend, mit ihren großen, mit bunten Plakaten beklebten Glasfronten im Eingangsbereich. Sie hatte schon lange keine Bücher mehr entliehen, auch in Münster nicht. Der Berufsalltag ließ ihr zum Lesen kaum Zeit. Wenn sie ein Buch lesen wollte, dann kaufte sie es sich. Der Gedanke ein einmal gelesenes Buch wieder ab geben zu müssen, hatte ihr noch nie behagt. Zumindest nicht bei Büchern, die sie mochte. Aber als Schülerin hatte sie als Tochter eines Werftarbeiters und einer Friseurin nicht das Geld, um sich alle Bücher, die sie lesen wollte, zu kaufen.
Der Springbrunnen in der Friesenstraße war immer noch da. Wie vor über zwanzig Jahren lief das Wasser kaskadenartig über die flachen alten Mühlsteine herab. Ebenso gab es die dazugehörige Sitzbank unter der riesigen alten Kastanie noch. Es sah alles genauso aus wie damals, als sie mit Leonard, ihrem ersten festen Freund, hier gesessen hatte, in den Sommerferien, ein Jahr vor dem Abitur. Er hatte sich auf der Bank ausgestreckt und seinen Kopf mit den krausen schwarzen Haaren auf ihre Beine gelegt. Dabei hatte er mit verträumtem Blick abwechselnd in ihr Gesicht und in die gewaltige Krone der Kastanie geblickt, während sie miteinander diskutierten. Der Baum musste inzwischen noch höher gewachsen sein, aber es fiel ihr nicht auf, denn schon damals kam er ihr gigantisch vor. Sie war glücklich gewesen. Das wusste sie auch noch.
Je weiter Enna in das Zentrum hinein ging, ein kurzer Fußmarsch vom Parkplatz, umso bekannter kam ihr alles vor. Der historische Ortskern war weitgehend unverändert und der Markt, der hier jeden Mittwoch und Samstag stattfand, schien immer noch derselbe zu sein, wie vor 25 Jahren. Es gab hier keine Marktcafés, wie sie es vom Wochenmarkt aus Münster kannte. Mit überdachten Stehtischen, an denen die Frühaufsteher oder Spät-zu-Bett-Geher ihre Brötchen mit einer unendlichen Auswahl an Käse-, Wurst- oder Frischkäsecremes belegen lassen konnten und dazu sämtliche italienischen Kaffeespezialitäten bestellen konnten. Oder eine heiße, würzige Suppe, um den Kater zu vertreiben. Auch gab es keine Töpferwaren-, Schmuck-, Kerzen- und Taschenstände, an denen Enna selten vorbei gehen konnte, ohne zu stöbern. Alles war in einem bescheidenen ländlichen Rahmen geblieben. Man promenierte hier nicht Hand in Hand. Man shoppte nicht. Man kaufte, was man am Wochenende benötigte. Käse, Schnitzel vom Bunten Bentheimer Schwein, Bio-Gemüse, fangfrische Scholle, importierte griechische Oliven und Blumen. Hier traf man sich, um den neuesten Tratsch mitzunehmen, den man dann beim Kaffeetrinken mit der Familie oder Freunden zum Besten geben konnte.
Hatte ihr die Erinnerung an Rüdiger gerade noch den Appetit verschlagen, so kam der Hunger schlagartig zurück, als sie die Marktstände sah. Sie kaufte frisches Olivenbaquette und Schafskäse beim Griechen, Äpfel, Möhren und Kartoffeln beim Bio-Bauern und ein Lachsfilet beim holländischen Fischhändler. Die Sonne brannte heiß um diese Tageszeit und sie war froh, dass sie sich beim Stand, der „Frische Landeier“ anbot, unter einer Markise in die Schlange stellen konnte. Nur noch die Eier, dann hätte sie das wichtigste, um das Wochenende zu überleben.
Es ging nur langsam voran. Enna erschrak, als ihr plötzlich von hinten jemand auf die Schulter tippte. Sie drehte sich abrupt um, schob ihre Sonnenbrille auf das dunkelblonde lange Haar und musterte die alte grauhaarige Frau, die sich hinter ihr eingereiht hatte. Sie musste sich fast hinunterbeugen, um ihr ins Gesicht zu sehen, obwohl sie mit einem Meter siebzig selbst nicht gerade groß war.
„Sie kommen mir bekannt vor!“ ließ die schmächtige alte Dame verlauten und schob die Unterlippe bedeutungsvoll nach vorne. Ihre Stimme war leise, aber resolut. Sie war von geringer Größe, aber nicht unauffällig, und trug ein kaftanähnliches Kleid, das aus vielen verschiedenen buntgestreiften Stoffquadraten zusammengesetzt war und von einem schmalen Ledergürtel gehalten wurde. Um den Hals trug sie mehrere dunkle Perlenketten und eine goldene Kette mit einem Medaillon. Auf den kurzen Pagenkopf hatte sie einen gelben Strohhut gesetzt, der mit einem farbigen Band und einer Kunstblume verziert war. Sie musste mindestens achtzig Jahre alt sein. Alles in allem war sie tadellos gekleidet, in ihrem bunten Hippie-Look. Enna kam sich neben ihr farblos vor, in ihrer dunkelblauen Jeans und dem hellgrauen T-Shirt.
„Ich wüsste nicht…“ begann sie.
„Doch. Ich kenne Sie.“, beharrte die Frau.
„Woher denn?“, fragte Enna. Die alte Dame zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte sie nur.
„Und wer sind Sie?“
„Josefa