Schlachtfest. Mia Wachendorf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mia Wachendorf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753198545
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Besitzer wäre in weiter Ferne. Weiter gab die Tasche nichts her, das interessant für ihn wäre. Neben Kamm und Bürste, einem Lippenstift, knallrot, einem Kondom, violett, einer überschwemmten Puderdose und einer kleinen Dose Haarspray förderte er eine vollgesogene Packung Papiertaschentücher zutage. Außerdem ein Handy, dass sich als nicht mehr funktionstüchtig herausstellte.

      „Vielleicht zieht sich da gerade eine aus“, meinte der Alte und blickte in Richtung der ufernahen Bäume, aus der die Fundstücke herangetrieben wurden. „Of da slapen twee mitnanner.“

      „Hier buten?“ Das hatte der junge Mann in seiner kurzen Anglerkarriere zwar schon erlebt, aber noch niemals um halb fünf in der Früh.

      „Und dann schmeißen sie vor Begeisterung ihre Klamotten in den Fluss, oder was?“ Die Wiesen und Strände der Ems hatten schon einiges gesehen, aber für gewöhnlich kamen die Paare nicht vor dem frühen Nachmittag, um sich hier mit Picknick und Liebesgetändel die Zeit zu vertreiben.

      „Ach! Dat kann von sonst wo hergetrieben sein!“, meinte der Alte und rieb sich den stoppeligen Bart. Nachdem sie die Steppjacke geborgen hatten, ergänzten sie den Stapel der Fundsachen noch um ein T-Shirt mit Leopardenmuster, das wenig später angetrieben wurde. Dann angelten sie weiter.

      „Meinst du, da kommt noch wat?“, fragte der junge Mann wenig später.

      „Nee.“

      #

      „Das war’s!“ Der Möbelpacker pustete heftig und wischte sich mit einem riesigen graublauen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es war fast Mittag. „Feierabend.“ Er schwitzte so heftig, dass seine kurzen schwarzgrauen Locken glänzten, als wären sie nass. Enna hatte Bedenken, dass er ihr schönes altes Parkett volltropfen könnte.

      „Den haben Sie sich redlich verdient!“, sagte sie und versuchte ein Lächeln. Das Wohnzimmer war ein Kistenlager und wirkte vollgestopft und unordentlich, auch wenn die Möbel schon größtenteils an ihrem Bestimmungsort standen. Sie zeichnete den Lieferschein, der ihr hingehalten wurde, lächelnd ab. Das gröbste war erledigt. Nun war es an ihr, hier für Ordnung zu sorgen.

      „Was ist denn eigentlich heute hier im Ort los? “, fragte sie. „Ich bin kaum mit dem Auto durchgekommen. Da war eine ganze Straße abgesperrt.“

      „Ja, wegen der Aufräumarbeiten. Ich hatte auch so meine Probleme mit dem LKW. Wir feiern dieses Wochenende Schlachtfest. Das ist hier jedes Jahr um diese Zeit. Gestern ist’s angefangen. Heute wird wahrscheinlich noch mehr los sein als gestern. Samstags ist es immer am vollsten.“

      „Schlachtfest? Ist das eine öffentliche Veranstaltung?“

      „Ja sicher. Kommen Sie doch vorbei!“ schlug er vor. „Die Maarsumer gehen da alle hin, ist immer eine Menge los. Bier und Grillfleisch bis zum Abwinken. Oder sind Sie Vegetarier? Bei den Leuten aus der Stadt weiß man das ja nie.“ Er grinste über das ganze Gesicht.

      „Nein, nein. Ich esse Fleisch, …“ Der Gedanke an ein Schnitzel vom Grill war ihr dennoch gerade zuwider. Außerdem zog sie ein gutes Glas Chardonnay einem Bier grundsätzlich vor. Eine leichte Übelkeit hatte sie befallen. Der Mann vor ihr roch nach Schweiß und sie war heute Morgen schon um vier Uhr aufgestanden, um rechtzeitig in Maarsum einzutreffen und die Möbelpacker hereinzulassen. Ihr Magen hatte sich schon vor zwei Stunden gemeldet. Ihr Frühstück hatte nur aus einem Hörnchen und einem Kaffee bestanden und sie hatte es bereits um halb fünf in der Frühe eingenommen. Das war sechs Stunden her.

      „Kommt Ihr Mann noch nach?“, fragte er ganz direkt. Enna wusste, dass seine Art zu fragen nicht unhöflich gemeint war und eher daher rührte, dass die Menschen hier geradeheraus waren. Umschweife wurden nicht gemacht, man schlug sich nicht mit Floskeln oder Wordhülsen herum. Das gesprochene Wort wurde, wo möglich, auf das nötigste reduziert, ohne jedoch wichtiges wegzulassen oder mit notwenigem hinter dem Berg zu halten. So kannte sie ihre Heimat. So hatte sie sie in Erinnerung.

      „Nein. … Nein, der bleibt in Münster“, antwortete sie nur. Einen Mann, in dem Sinne, gab es nicht. Aber sie hatte keine Lust ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Weit herumgekommen war sie nicht, es gab nichts zu berichten. Maarsum war der Ort an dem sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war, bis sie mit 19 Jahren in Münster ihre Ausbildung bei der Polizei angefangen hatte. Mit Anfang Vierzig hatte sie nun, bis auf Ausnahmen von kurzer Dauer, immer in Münster gelebt. Ihr halbes Leben. Und nun war sie wieder hier, weg von Rüdiger. Ohne Rüdiger. Sie musste sich noch an den Gedanken gewöhnen, wieder Single zu sein. Aber so hatte sie es selbst gewollt.

      „Münster! Schöne Stadt.“

      „Ja, sehr schön“, sagte sie nur.

      „Herrlich!“ Er schnaufte immer noch. Sie schwiegen eine Weile, wie um der Schönheit der Stadt Münster angemessen zu gedenken. Der blaue Overall des Mannes war staubig und befleckt. Enna fragte sich, ob ein körperlich arbeitender Mann wie er nicht eigentlich fitter sein müsste. Für einen Möbelpacker war er schmächtig und kurzatmig. Für eine Kommissarin hast du ganz schöne Klischeevorstellungen, schalt sie sich selbst. In ihrem Job versuchte sie den Menschen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen.

      „Und warum gerade ein Schlachtfest? Hat das irgendeine Tradition?“, fragte sie dann.

      „Das kommt wohl daher, weil wir hier so viel Fleischindustrie haben. Familienbetriebe meistens. Dem Kösters, dem gehört der Schlachthof, ein Legehennenstall und ein Hähnchenmastbetrieb. Seinem Schwiegersohn die Wurstfabrik. Der Kösters sponsert das Ganze ein bisschen, tut eine Menge für den Ort, muss man schon sagen.“

      „Aha. … Ist das Heinz Kösters?“ Der Name kam ihr bekannt vor. Der Heinz Kösters an den sie sich erinnerte, musste im Alter ihres Vaters sein.

      „Heinz, ja. So heißt er“, antwortete der Mann, der seinen Atem schließlich wiedergefunden hatte. „Kennen Sie den?“ Enna schüttelte den Kopf.

      „Nein, ich denke nicht.“ Enna hatte keine Lust, ihre Gedankengänge einem Fremden offen zu legen. Sie betrachtete sich inzwischen als Münsteranerin. Ihre Zeit dort war zu lang, um sich hier wieder sofort heimisch zu fühlen. Die Menschen, die hier wohnten, kannte sie größtenteils nicht mehr. Ihre Eltern waren beide nach ihrem Abitur nach Emden gezogen, wo ihr Vater einen neuen Job angenommen hatte. Später sind sie dann nach Langeoog übergesiedelt, um dort ihren Ruhestand zu verbringen, und Enna, die außer ihnen nur einen Bruder hatte, hatte es seither nicht mehr oft in die Gegend verschlagen. Moritz, ihr Bruder, war zwei Jahre jünger als sie und ist damals zum Studieren nach Gießen gegangen. Und dort geblieben. Hin und wieder schrieb sie ihm und er schickte Fotos von seiner kleinen Tochter. Aber jeder führte sein eigenes Leben. Es hatte sie nichts mehr zurück hierher gezogen. Bis jetzt.

      „Ja, vielleicht gehe ich tatsächlich hin.“ Enna dachte nicht ernsthaft darüber nach, dieses fleischlüsterne Spektakel aufzusuchen. Eigentlich wollte sie nun lieber allein sein mit ihren Habseligkeiten und ihren trüben Gedanken. Es würde ewig dauern, bis alles ausgepackt und eingeräumt war.

      „Machen Sie das! Vielleicht sieht man sich dort. Ich wünsche ein schönes Wochenende und viel Glück im neuen Heim!“, sagte der Mann und reichte ihr die Hand. Enna bedankte sich und begleitete ihn zur Haustür. Er stieg in den Umzugswagen, in dem schon der Kollege saß, der vorhin beim Auspacken geholfen hatte. Der Motor lief. Enna winkte ihnen kurz zu. Dann schloss sie die Haustür und lehnte sich von innen dagegen. Viel Glück im neuen Heim, hallte es in ihrem Kopf nach. Glück – das wäre schön. Vielleicht würde sie hier wirklich ihr Glück finden, in diesem kleinen roten Backsteinhaus am Rande des Teufelsmoors. Aber irgendwie zweifelte sie daran. Sie vermisste Rüdiger. Mehr als sie je für möglich gehalten hätte.

      Auch der Flur war vollgestellt mit Umzugskartons, Lampen und Klappkisten. Enna sah sich um.

      „Shit! Verdammte Scheiße!“ Das Fluchen war in letzter Zeit zu einer Gewohnheit geworden. Sie kannte eine Menge Flüche. Das Fluchen passte nicht zum Bild einer niveauvollen, modernen und ehrgeizigen Frau im besten Alter, dass sie nach Außen von sich vermitteln wollte, aber das störte sie nicht. Das Fluchen war sie selbst. So war sie. Sie bildete sich ein, es von ihren vielen