»Wer ist da?«, fragte sie vorsichtshalber.
»Ich wollte Ihnen etwas bringen«, bekam sie zur Antwort. Eine leise Frauenstimme mit einem heiseren Unterton.
Deborah öffnete. Vor ihr stand eine zierliche alte Frau in heller Jogginghose. Trotz der Hitze trug sie eine bunte Strickjacke über der Bluse. Sie war ein gutes Stück kleiner als Deborah. Die silbergrauen Locken tanzten, als sie den Kopf hob, und ihr Gesicht strahlte vor Herzlichkeit. Sie streckte Deborah einen kleinen Laib Brot und einen schönen Salzstreuer aus Keramik hin.
»Salz und Brot zum Einzug, herzlich willkommen, Frau Peters!«
Deborah lächelte zurück, das Lächeln der alten Dame war ansteckend.
»Das ist aber lieb von Ihnen, danke schön!«
»Ich bin Frau Maichen, vom ersten Stock«, erklärte die Frau. »Maichen wie Mai, nur kleiner.«
Deborah musste lachen. »Das ist ein schöner Name! Kommen Sie doch herein!«
Frau Maichen stieg über das Folienpaket hinweg. Deborahs ausgestreckte Hand, die ihr helfen wollte, ignorierte sie. Anerkennend sah sie sich in dem kleinen Flur um.
»Vorsicht, ich habe gerade erst frisch gestrichen«, warnte sie Deborah. »Die Farbe ist vielleicht noch feucht.«
Die alte Frau nickte und folgte ihr ins Wohnzimmer. Deborah legte das Brot auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Den Salzstreuer stellte sie in den leeren Hängeschrank darüber. Es roch durchdringend nach frischer Farbe.
»Wenn Sie irgendetwas brauchen, kommen Sie ruhig zu mir«, sagte Frau Maichen und sah Deborah ernst an. »Ich weiß, wie es ist, wenn man ganz allein ist.«
Deborah zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Woher wusste Frau Maichen, dass sie außer ihrer Mutter niemanden mehr hatte? Stand es ihr so überdeutlich auf die Stirn geschrieben? Kein Freund, kein Partner, nicht einmal richtige Freunde, sah man ihr das so sehr an?
Frau Maichen lächelte noch immer. »Keine Angst, ich kann nicht Gedanken lesen. Ich kann nur eins und eins zusammenzählen«, sagte sie. Dabei machte sie eine wegwerfende Handbewegung, als ob das alles nicht wichtig wäre.
»Werden Sie heute schon hier übernachten?«, wechselte sie abrupt das Thema. Sie sah sich in dem leeren Raum um, in dem bis jetzt nur das hässliche alte Sofa stand, das die Vormieter zurückgelassen hatten.
»Nein, ich fahre gleich zu meiner Mutter«, erwiderte Deborah. »Ab dem Wochenende werde ich dann hier wohnen, sobald ich meine Möbel habe.«
Frau Maichen nickte. »Dann will ich Sie nicht länger stören, Frau Peters. Alles Gute in der neuen Wohnung!«
»Ach, sagen Sie doch Debbie zu mir«, bat Deborah. Der Name ihrer Kindheit, den sie eigentlich hinter sich lassen wollte, der Name, mit dem sie außer ihrer Mutter nur noch Stefan rief, rutschte ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. Aber Frau Maichen hatte etwas Mütterliches an sich, also passte es irgendwie doch wieder.
Frau Maichen lachte. »Na gut, Debbie. Ich bin Dorothea, wenn Sie möchten. Kommen Sie doch einmal auf eine Tasse Tee vorbei, sobald Sie eingezogen sind.«
»Danke, Frau Maichen.« Deborah stockte. »Dorothea. Das werde ich gerne tun.«
FREITAG
Debs, hier ist Post für dich!« Monique winkte Deborah zu sich.
Es war kurz vor halb zehn. Die Sekretärin, die hier auch als Empfangsdame fungierte, saß schon an ihrem Platz hinter dem riesigen Tresen aus Wurzelholz im Eingangsbereich der Agentur.
»Post für mich?« Deborah war erstaunt. Wer sollte ihr in die Agentur schreiben? Die Leute, die sie kannte, hielten eher über WhatsApp Kontakt oder schrieben E-Mails und keine Briefe.
Noch mehr überraschte es sie, als sie sah, dass es gar kein Brief, sondern ein Päckchen war. Ein Kartonwürfel von vielleicht zehn Zentimeter Kantenlänge, der durch einen kleinen Aufkleber verschlossen war, fein säuberlich von Hand beschriftet mit der Adresse der Agentur und ihrem Namen darauf. Er schimmerte in mattem Weiß, und sie fragte sich unwillkürlich, wie die Schachtel zusammengesteckt war, denn auf den ersten Blick waren keine offenen Kanten zu sehen.
Sie nahm das Paket mit zu ihrem Platz und legte es vor sich auf den Tisch. Sie musterte es genauer und stellte fest, dass es keinen Absender trug. Klaus kam neugierig heran.
»Was ist das?«, wollte er wissen.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Deborah. »Es ist vorhin mit der Post gekommen.«
»Willst du es nicht aufmachen?«
»Doch, natürlich.« Deborah wusste selbst nicht, warum das Päckchen sie so verunsicherte. Vielleicht, weil praktisch niemand wusste, dass sie bei Schulze & Niess arbeitete? Ihr gesamter Freundeskreis bestand aus gemeinsamen Freunden von Stefan und ihr. In ihrem Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, hatte sie sich seit ihrer Trennung bei niemandem mehr gemeldet.
Sie nahm eine Schere und schlitzte das Paket am Etikett auf. Dabei verspürte sie eine seltsame Hemmung, die Perfektion des kleinen Gegenstandes zu zerstören.
Unter dem Etikett befand sich eine Lasche, die den Deckel im Karton hielt, und Deborah benutzte die Schere, um ihn aufzuhebeln. Als sie den Inhalt sah, hielt sie verblüfft inne. Auf dem Grund der Schachtel lag eine kurze Kette aus rot-schwarzen Perlen. Sie nahm sie neugierig heraus und entdeckte darunter einen Zettel.
»Halt die Augen auf!« stand in akkurater Druckschrift darauf, wie mit einer alten Schreibmaschine getippt. Ein Rätsel?
Klaus nahm ihr die Kette aus der Hand. »Das ist ein Armband, würde ich sagen. Was meinst du, Debs?« Er zog sie über sein kräftiges Handgelenk. Die Perlen rutschten auseinander, als sich das Gummiband dehnte.
»Gib her!«, rief Deborah lachend und nahm ihm das Schmuckstück ab. »Zu deinen Pranken passt das doch nicht!«
Sie streifte es sich selbst über und hielt es ins Licht.
»Es ist schön, findest du nicht?«, fragte sie und drehte es hin und her. »Was sind das für Perlen, kennst du die?«
Carl betrat den Raum in diesem Augenblick. Sein Blick fiel auf den weißen Karton, der vor Deborah stand.
»Was hast du denn da bekommen?«, fragte er neugierig.
»Dieses Armband hier«, antwortete Klaus an Deborahs Stelle. Er wies auf ihren Arm.
Carl ergriff die günstige Gelegenheit. Er nahm Deborahs Hand und betrachtete die zierliche Kette eingehend. Sie bestand aus kleinen grellroten Samen, die wie kleine Bohnen aussahen, und jede hatte einen schwarzen Fleck, der durchbohrt war, um sie auf einem Gummiband aufzufädeln.
»Weißt du, was das ist, Deborah?«, fragte er. Sie schüttelte stumm den Kopf. Von dem Moment an, in dem Carl ihre Hand genommen hatte, war sie wie erstarrt.
»Das sind Pater-Noster-Erbsen«, erklärte Carl. »Sie stammen aus Asien. Früher hat man sie gerne für Rosenkränze verwendet, daher kommt ihr Name.«
»Ich habe keine Ahnung, wer mir so etwas schicken könnte.« Ihr Tonfall war betont neutral und sie vermied es, ihn anzublicken.
»Vielleicht hast du einen heimlichen Verehrer?«, mutmaßte Carl und zwinkerte Deborah zu. Sie wurde rot. Widerstrebend ließ er zu, dass sie ihre Hand aus seinem Griff befreite. Schnell streifte sie die Kette ab und legte sie zurück in die Schachtel.
Carl deutete auf die Verpackung. »Das ist sehr gute Arbeit, findest du nicht? Ich kenne gerade mal drei Firmen, die so einen Karton herstellen können.«
»Dieser Zettel hier war noch dabei.« Deborah drehte ihn so, dass Carl ihn lesen konnte.
»Halt die Augen auf?« Carl