Pater Noster. Carine Bernard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carine Bernard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742760968
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dass Sie kommen konnten. Wo ist denn …« Sie sah sich um und winkte einen jungen Mann heran, der – in Anzug und Krawatte – ein Tablett mit Sektgläsern balancierte.

      »Marco, kommen Sie bitte!«, rief sie und deutete auf die drei Neuankömmlinge. Der junge Mann nickte. Er eilte herbei und Frau Leidenberg wandte sich der nächsten Gruppe zu.

      Carl nahm zwei Gläser vom Tablett. Eines reichte er an Deborah weiter und prostete ihr zu.

      »Auf unsere Zusammenarbeit«, sagte er und sah ihr dabei tief in die Augen.

      »Auf unsere Zusammenarbeit«, wiederholte Deborah. Ein wenig fühlte sie sich wie ein Kaninchen unter dem Blick einer Schlange.

      »Prost, ihr zwei!« Klaus brach den Bann. Er stieß sein Glas gegen die von Carl und Deborah und trennte ihren Blickkontakt.

      Sie fuhren auseinander. Deborah lachte verlegen und wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf Stefan, der jetzt ein volles Glas in der Hand hielt. Er musterte sie mit einer Intensität, die ihr fast schon unheimlich war. War das wirklich derselbe Stefan, mit dem sie die letzten vier Jahre zusammen gewesen war? Dieser Ausdruck von unterdrückter Wut in seinen Augen war ihr völlig fremd. Sie leuchteten normalerweise in einem warmen Braun, doch nun waren sie fast schwarz im Schatten der eng zusammengezogenen Brauen.

      Er schien der groß gewachsenen Frau an seiner Seite kaum zuzuhören. Als er sah, dass Deborah ihn beobachtete, drehte er sich jedoch seiner Gesprächspartnerin zu und begann, lebhaft auf sie einzureden. Es war Sabine Schallert, Leiterin der Agentur Shouting People, und jeder, wirklich jeder in der Branche kannte sie.

      Carl hatte sich inzwischen ein paar Schritte entfernt. Er war mit einem etwa fünfzigjährigen Mann im Gespräch, der trotz der Hitze eine abgewetzte Lederjacke mit Nieten an den Ärmeln trug. Die langen Haare, der dichte schwarze Bart und die Schirmkappe ließen ihn wie ein Mitglied einer Motorradgang wirken.

      »Wer ist das?«, fragte Deborah Klaus und nickte zu dem Mann hinüber.

      »Das ist Tom Herwig, der Art Director von der Schallert«, erklärte Klaus. »Er ist ein ganz alter Hase im Geschäft.«

      »Und offenbar jemand, der sich nicht viel um gesellschaftliche Konventionen schert, oder?«

      »Tom nicht, nein. Der hat das auch nicht nötig«, gab Klaus ihr recht.

      Nun gesellte sich Sabine Schallert zu Carl und Tom. Sie und Carl begrüßten sich mit Wangenküssen. Tom kam zu ihnen herüber. Klaus stellte Deborah vor, aber das Gespräch drehte sich schnell um gemeinsame Bekannte von Klaus und Tom, die sie nicht kannte.

      Sie klinkte sich bald aus und schlenderte stattdessen durch den Raum. Sie betrachtete die gerahmten Bilder an den Wänden – hauptsächlich Produktfotos und Werbeplakate –, nahm noch ein Glas Sekt, als es ihr angeboten wurde, und fragte sich, wann die Präsentation endlich beginnen würde.

      Carl folgte Deborah mit den Augen auf ihrer scheinbar ziellosen Wanderung. Sie blieb vor einem Werbeplakat stehen, das giftig rote Dragees in einer durchsichtigen Verpackung zeigte. Wohlgefällig betrachtete er ihren Po in der engen Hose, der sich unter dem hauchdünnen Blazer deutlich abzeichnete. Er atmete tief durch und versuchte, das beginnende Pochen zwischen seinen Beinen zu ignorieren. Während Deborah langsam weiterging, fiel ihm der junge Mann auf, der sie von der anderen Seite des Raumes mit brennenden Augen anstarrte. Sie schien es nicht zu bemerken.

      »Wer ist das?«, fragte er Sabine Schallert, die neben ihm stand. Sie erzählte ihm irgendetwas, aber er hörte nur mit halbem Ohr zu.

      »Wer?« Sie unterbrach ihren Satz und sah sich um.

      Er deutete mit dem Sektglas in der Hand hinüber. »Der junge Mann da drüben. Du hast dich vorhin ziemlich lange mit ihm unterhalten.«

      »Ach der.« Sie lachte leise. »Das ist Stefan Schrödinger. Einer von den jungen aufstrebenden Talenten, die es um jeden Preis allein schaffen wollen.«

      Carl zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Allein? Wie meinst du das?«

      »Stefan hält nicht viel von den großen Agenturen. Aber er ist wirklich gut. Ich traue ihm zu, dass er es sogar schaffen könnte.«

      »Woher kennst du ihn?«

      »Er hat bei mir ein Praktikum gemacht, das ist schon einige Jahre her. Das brauchte er nämlich für die Uni. Ich hätte ihn sofort eingestellt, aber er wollte nicht. Er arbeitet zwar manchmal für mich, aber ich bekomme ihn nur als Freelancer.«

      »Und wieso ist er heute hier? Hat er eine eigene Agentur?«

      »Ja, so kann man es wohl nennen. Eine Ein-Mann-Agentur, sozusagen. Er nennt sie STEFF.«

      Carl nickte und beobachtete den Mann weiter. So jung war er gar nicht mehr, vermutlich an die dreißig. Er wirkte auf ihn eher wie ein Student und nicht wie der Leiter einer Agentur.

      »Und du sagst, er kann was?«

      »Oh ja, er ist sehr talentiert. Er ist zwar nicht der weltbeste Grafiker, aber er hat sehr pfiffige Ideen. Willst du ihn abwerben?« Sabine Schallert grinste schief. »Mach dir keine Hoffnungen, das habe ich auch schon versucht. Und momentan hast du sowieso keine Chance. Er hat mir gerade erzählt, dass er einen Auftrag am Laufen hat, der – wie er sagte – bei den richtigen Leuten in Düsseldorf einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird.«

      »Ach was. Da gehört aber einiges dazu!« Carl schüttelte zweifelnd den Kopf.

      »Aber ja!« Sabine Schallert senkte die Stimme. »Er hat vorhin ein paar geheimnisvolle Andeutungen gemacht. Von Armbändern hat er etwas erzählt und von einer Serie von Werbeplakaten. Es klang ein wenig nach viraler Werbung, aber es ist wohl noch mehr als das.«

      »Mehr als das? Jetzt machst du mich aber neugierig.«

      »Sonst weiß ich auch nichts darüber. Wir müssen uns wohl überraschen lassen.« Sabine Schallert zuckte mit den Schultern.

      »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Einzelner einen größeren Auftrag stemmen will.« Carl winkte ab. »Und noch dazu ist er so jung, der hat doch gar nicht die Leute, die er dafür braucht.«

      »Ja, wahrscheinlich hast du recht«, antwortete sie. »Warten wir es ab.«

      Ein Plan beginnt in ihm zu keimen, ein großartiger Plan, der all seine Probleme auf einen Schlag lösen wird. Er kann den lästigen Konkurrenten loswerden und endlich seine Firma nach vorne bringen. Und wenn er es richtig anstellt, gibt es Deborah als Bonus obendrauf.

      Stefan kippte das Glas in einem Zug hinunter. Das Blut rauschte in seinen Ohren und er hielt sich an der Tischkante fest, als der Boden unter ihm schwankte. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, Debbie hier und heute zu treffen. Und dann noch am Arm dieses Schnösels, dieses … dieses … Schürzenjägers! Wusste sie denn nicht, was für einen Ruf Carl Schulze hatte? Es war doch ein offenes Geheimnis unter den Kollegen, dass er hinter jedem Rockzipfel her war und es überhaupt nicht akzeptieren konnte, wenn er einmal eine Frau nicht bekam!

      Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Mit weichen Knien verließ er den Raum und ging zur Toilette. Nachdem er sich erleichtert hatte, wusch er Hände und Gesicht mit kaltem Wasser. Dann stand er da, den Kopf zum grellen Licht der Neonröhre erhoben, die über ihm schien, während ihm das Wasser in den Kragen rann. Nochmals benetzte er die Hände und fuhr sich damit durch die braunen Locken. Seine Finger verhedderten sich in dem ungewohnten Haargummi, er musste es lösen und die Haare neu zusammenbinden. Der kurze Pferdeschwanz kringelte sich feucht und kühl in seinem Nacken, die plötzliche Kälte tat ihm gut. Er atmete einmal tief durch.

      Während er sich abtrocknete, musterte er sich in dem großen Spiegel hinter dem Waschtisch aus Granit. Seine Haut war leichenblass unter dem gnadenlosen Licht der Lampe. Die geröteten Augen, die den durchgearbeiteten Nächten geschuldet waren, ließen ihn wie einen Zombie aussehen. Er hatte sich für den Empfang in Schale geworfen, aber in seinen Augen fehlte es ihm an der Statur, um so ein Outfit angemessen tragen zu können. Jemand wie Carl Schulze wirkte in seinem schwarzen Anzug lockerer, als er selbst es in Jeans und T-Shirt tun würde. Und