Pater Noster. Carine Bernard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carine Bernard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742760968
Скачать книгу
das willst du genauso wenig wie ich.«

      Carl hatte sich in Fahrt geredet. »Ich lasse dir gerne deine Prinzipien und deinen Öko-Trip, du kannst leben, wie du willst. Aber bitte halte das aus unserer Arbeit raus, das funktioniert nämlich nicht.«

      »Das werde ich bestimmt nicht tun. Mein Öko-Trip, wie du es nennst, ist nämlich eine Grundeinstellung, die mein Leben ausmacht, und nicht ein Mäntelchen, das ich an der Bürotür abgebe.«

      Die Stimme seines Partners kippte bei den letzten Worten.

      »Aber Boris …«

      »Nichts mit aber Boris. Solange du deine Weibergeschichten nicht aus der Arbeit heraushältst, brauchst du mir so überhaupt nicht zu kommen!«

      Boris’ Gesicht war rot angelaufen und er fuchtelte mit dem Brief in der Luft herum. Seine dünnen blonden Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab.

      »Du wirst diesen Auftrag nicht annehmen, hörst du?«, kreischte er. »Keinen Handschlag wird unsere Agentur für diese Firma tun, hast du mich verstanden?«

      Carl atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. »Das entscheiden wir morgen. Noch haben wir den Auftrag ja nicht. Ich werde morgen mit Klaus zu der Präsentation gehen und …« Er hob warnend den Finger und deutete auf Boris, der ihm schon wieder ins Wort fallen wollte. »Nein, du hörst jetzt mir zu. Wir besprechen das morgen, sobald wir wissen, wer die Ausschreibung gewonnen hat. Und jetzt raus hier, ich habe zu arbeiten.«

      Carl öffnete auffordernd die Tür und Boris stürmte wutschnaubend aus dem Zimmer. Eine Tür knallte, und Carl erkannte an dem scheppernden Geräusch, dass Boris das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen hatte.

      Draußen bei den Grafikern herrschte Totenstille. Alle Fenster zum Hof standen weit offen. Ihre Mitarbeiter hatten jedes Wort mitbekommen.

      Stefan saß an dem langen Tisch in seiner Wohnung, der ihm gleichzeitig als Ess- und Arbeitstisch diente. An dem Ende, das zu der kleinen Küche zeigte, waren die Papierstapel zur Seite geschoben und es war für eine Person gedeckt. Das leise Piepen des Heißluftherds ertönte. Er legte den Brief zur Seite, den er inzwischen so oft gelesen hatte, dass er ihn auswendig herunterbeten konnte.

      Mit zwei Topflappen holte er das Fertiggericht aus dem Ofen, eine billige Nudelpfanne vom Discounter, und stellte es auf den Tisch. Während das Essen etwas abkühlte, las er den Brief ein weiteres Mal durch.

      Sehr geehrte Damen und Herren,

      Sie haben sich an der Ausschreibung zu unserer Werbekampagne »Ein Schmerzmittel für Kinder und Jugendliche« beteiligt. Wir dürfen Ihnen hiermit mitteilen, dass Sie zu den drei Bewerbern in der Endausscheidung gehören.

      Wir freuen uns, Sie am Freitag, dem 19. Juni, um 13.00 Uhr zur Bekanntgabe des Gewinners in unseren Räumlichkeiten zu begrüßen.

      Hochachtungsvoll

      Marianne Leidenberg

      Projektleitung Rheopharm

      Dieser Auftrag könnte der entscheidende Wendepunkt sein, der langersehnte Anschub, den seine Ein-Mann-Agentur so dringend brauchte. Er hatte natürlich gewusst, dass es nicht einfach würde, als er sich mit seinem eigenen kleinen Grafikbüro selbstständig machte. Ihm war auch klar, dass er Geduld brauchte und es eben seine Zeit dauerte, bis er sich einen Namen gemacht hatte. Bis er durch Mundpropaganda und ein paar coole Aufträge so bekannt war, dass irgendwann jemand genau ihn und nur ihn haben wollte.

      Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er das allein durchziehen musste. Für ihn war die ganze Zeit klar gewesen, dass er die Arbeit und den Erfolg mit einer Frau teilen würde, mit seiner Frau, seiner Debbie. Sie war sein Spiegelbild, die zweite Hälfte seiner Kreativität, sein ständiger Ansporn. Seit Debbie ihn verlassen hatte, verlassen musste, wie sie ihm messerscharf dargelegt hatte, fehlte ihm ein wichtiges Stück seiner Inspiration. Nur langsam fand er sich in sein Schicksal. Noch immer war er weit entfernt von dem überbordenden Ideenreichtum, der seine Arbeit früher geprägt hatte. Er vermisste ihre Diskussionen und den fachlichen Austausch. Er vermisste die Streitereien um winzige Details, das ständige Reiben an Ecken und Kanten, bis alles, was sie gemeinsam taten, rund und perfekt war. Er vermisste sie jeden Morgen, wenn er allein aufwachte, jeden Mittag, wenn er allein mit dem Hund spazieren ging, und jeden Abend, wenn er sich müde und allein in sein leeres Bett legte.

      Ob sie jetzt wohl glücklich war? Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich Debbie in ihrer Zweisamkeit beengt gefühlt hatte. Er selbst war immer schon ein Einzelgänger gewesen, mit vielen oberflächlichem Bekanntschaften, aber kaum echten Freunden. Debbie war nicht nur seine Frau, sondern auch seine beste Freundin gewesen. Aber ihr war diese Ausschließlichkeit am Ende zu viel geworden. Seit Debbie mit dem Studium fertig war, hatte es kaum noch Kontakte mit anderen gegeben. Ihr fehlte die Inspiration von außen, zumindest hatte sie das so gesagt. Er hatte sie immer als festen Bestandteil seiner kleinen Agentur gesehen, aber plötzlich wollte sie neue Erfahrungen sammeln und sich verändern. »Sich weiterentwickeln« hatte sie es genannt und sich für ein Praktikum bei der Konkurrenz beworben, bevor er ihre Zusammenarbeit offiziell machen konnte.

      Vielleicht hätte er sie gehen lassen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihren Schritt in eine große Agentur zu unterstützen, anstatt sie ganz für sich behalten zu wollen. Dann wäre sie ihm vielleicht Freundin und Partnerin geblieben. Aber nun war es zu spät, zu viele bittere Worte waren gefallen. Zu viel Geschirr war zerschlagen worden, als dass sich das so einfach wieder kitten ließe. Es war zu spät.

      Er schaufelte das Essen in sich hinein, an den Geschmack nach Pappkarton hatte er sich inzwischen gewöhnt. Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. Die morgige Präsentation. Wer waren die beiden anderen Kandidaten? Würde es dieses Mal reichen, um zu gewinnen? Was hätte das für Konsequenzen für ihn und seine Arbeit? Er bräuchte wohl ein oder zwei Freelancer, wofür er sich weiter verschulden müsste. Er hatte sich nach Deborahs Auszug sehr kurzfristig zur Teilnahme entschlossen und schon einen Kredit aufgenommen, um nur den Grafiker für seine Entwürfe zu bezahlen. Aber es würde sich lohnen, vielleicht nicht so sehr in finanzieller Hinsicht, aber umso mehr für seine Reputation. Er könnte endlich aus der Masse der vielen Talentierten heraustreten und zum ersten Mal mit einer Kampagne in der großen Öffentlichkeit stehen.

      Er lachte laut auf. »Hör auf zu träumen, Schrödinger«, sagte er laut, während er das Geschirr in die Küche trug und es auf der vollgeräumten Arbeitsfläche abstellte. Josh kam ihm hinterhergetrabt. Offenbar fühlte er sich angesprochen, denn er stand nun mit wedelndem Schwanz neben ihm.

      Stefan nickte ihm zu. »Bist ein feiner Hund!« Er schob die restlichen Nudeln von seinem Teller in die Schüssel des Hundes und kippte eine Handvoll Hundefutter darüber. Mit der Gabel rührte er Nudeln und gepresstes Trockenfleisch um, bevor er den Napf auf den Boden stellte.

      »Langsam, niemand frisst dir etwas weg«, bremste er den Hund, der das Futter sofort in sich hineinzuschlingen begann. Josh liebte Nudeln, genau wie Debbie. Früher hatten sie oft zusammen gekocht, Fertiggerichte aus dem Tiefkühlregal hatte es so gut wie nie gegeben.

      Stefan schob den Gedanken mit Gewalt beiseite. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. Die epischen Klänge von Nightwish und die Stimme von Tarja Turunen erklangen. Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, bevor er sich in seinen Lieblingssessel fallen ließ. Er schloss die Augen, als die kalte Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, und seufzte tief. Es war heiß in seiner Wohnung, obwohl die Fenster den ganzen Tag geschlossen waren und Jalousien die Sonne aussperrten. Nur im Bad und im Schlafzimmer, die nach hinten in den Lichthof hinausgingen, waren sie weit geöffnet, aber das reichte nicht aus, um den Altbau bei 36 Grad Außentemperatur kühl zu halten.

      Deborah blickte von ihrer Arbeit auf. Ein Schatten war auf ihre Zeichnung gefallen. Sie wandte sich um. Carl Schulze stand halb hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Wie lange beobachtete er sie schon?

      Die Kehle wurde ihr eng. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, wie immer, wenn er sie so ansah. Ein wenig herausfordernd und dabei leicht amüsiert, als ob es ein Spiel wäre, von dem er wusste, dass sie es noch nicht begriffen hatte.

      Sie