Deborah fuhr in ihrer Mittagspause die drei Stationen mit der Straßenbahn zur Wohnung ihrer Mutter, um sich umzuziehen. Eine Blitzdusche musste einfach drin sein, denn die Stadt kochte unter der brennenden Sonne. Obwohl sie heute Morgen erst geduscht hatte, fühlte sie sich schon wieder verschwitzt.
Auf ihre Nachfrage hin hatte Klaus ihr versichert, es sei völlig in Ordnung, bei der Präsentation in Jeans und Bluse zu erscheinen. Aber Carl hatte vorhin eine Anzughose getragen anstatt der sonst bei ihm üblichen dunklen Stoffhosen, und Klaus hatte sogar sein ewiges schwarzes T-Shirt gegen ein buntes Hawaiihemd getauscht.
Sie bürstete ihr Haar aus und flocht es noch feucht zu einem Zopf. Reichlich Deospray unter die Achseln, zwischen die Brüste und ein Sprühstoß auf das dunkelblonde Dreieck zwischen ihren Beinen. Schnell das Make-up, Wimperntusche, Kajal, ein Tupfen heller Lidschatten und perlmuttfarbener Lippenstift. Eine dunkelgrüne Leinenhose anstelle der Jeans, eine weiße Bluse und darüber einen hauchdünnen Blazer aus flaschengrünem Chiffon, der ihrer Mutter gehörte. Um den Hals eine Silberkette mit einem tropfenförmigen Anhänger aus Jade, der farblich zum Blazer und zu ihren Augen passte. Zuletzt schlüpfte sie in zierliche Sandalen mit kleinem Absatz, dann lief sie ins Schlafzimmer ihrer Mutter und begutachtete sich kritisch in dem großen Spiegel, der neben dem Bett an der Wand lehnte. Sie presste die Lippen zusammen, um den Lippenstift besser zu verteilen, und nickte sich anschließend zu. »Besser wird es nicht!«
Mit ihrer alten Umhängetasche über der Schulter, die so gar nicht zu dem neuen Outfit passen wollte, machte sie sich eilig auf den Rückweg in die Agentur.
Er stellt das Paket mit dem Armband achtlos zur Seite, doch dann kommt ihm ein Gedanke. Der Paketbote hat geschlampt und niemand weiß, dass er es hat. Das Risiko ist gering und der Gewinn verlockend. Eine solche Chance wird er nie wieder bekommen.
Deborah kam gerade rechtzeitig, um Carl im Empfangsraum im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme zu laufen. Er trug inzwischen ein dunkles Sakko über dem weißen Hemd, aber keine Krawatte. Die obersten Knöpfe seines Hemds waren geöffnet. Er nahm Deborah an den Schultern und musterte sie prüfend. Plötzlich hatte sie sein schwarzes Brusthaar vor der Nase, das sich unter dem Kragen kräuselte. Unwillkürlich machte sie einen Schritt rückwärts. Er ließ sie los, ergriff aber sofort ihre Hände.
»Deborah, so siehst du einfach toll aus.« Er sah ihr tief in die Augen. Prompt fühlte Deborah, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie holte tief Luft. Das war doch lächerlich, jedes Mal wie ein Backfisch zu erröten, wenn er sie nur ansah!
»Du aber auch«, antwortete sie deshalb mutig und grinste ihn schief an.
Er musste lachen und ließ sie los. Anerkennend nickte er ihr zu. »Gut gemacht!«
Bezog sich das auf ihr Aussehen oder auf die schlagfertige Antwort? Deborah war schon wieder verunsichert. War sie zu forsch zu ihrem Chef gewesen?
In diesem Augenblick kam Klaus aus dem Atelier der Grafiker. Neugierig sah er von einem zum anderen. Hatte er von ihrem kurzen Wortwechsel etwas mitbekommen? Er ließ sich nichts anmerken, sondern fragte nur: »Können wir?«
Carl nickte und ging voraus in den Hof, der jetzt in der prallen Mittagssonne lag. Die Hauswände reflektierten das Sonnenlicht und nach der Kühle der klimatisierten Agentur traf Deborah die Hitze wie eine Wand. Schnell folgte sie Carl, der den Hof mit langen Schritten überquerte. Mit einer Handbewegung winkte er sie und Klaus zu seinem schwarzen Sportwagen. Deborah quetschte sich auf die Rückbank, während Klaus ächzend vorne Platz nahm. Es roch nach Leder und nach Carls Aftershave.
»Das ist kein Auto für Leute wie mich«, stöhnte Klaus. »Du solltest mehr Rücksicht auf deine alten Mitarbeiter nehmen!«
Carl lachte. »Tu bloß nicht so«, gab er zurück. »Bist du nicht letztes Jahr noch selbst mit so einer Flunder herumgefahren?«
»Du meinst den Porsche? Das war ein Oldtimer, du Banause, das ist etwas ganz anderes!«
Deborah hörte dem Geplänkel nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken war sie bei dem kurzen Augenblick vorhin im Empfangsraum der Agentur. Bei der Erinnerung daran bekam sie ein warmes Gefühl in der Magengrube.
Himmel, er war immer noch ihr Chef und damit so unerreichbar wie der Bürgermeister von Köln, rief sie sich selbst zur Ordnung. »Aber er sieht besser aus«, stellte eine Stimme tief drinnen in ihr fest. »Na und?«, widersprach sie sich selbst. »Ich werde mich nicht in meinen Chef verlieben. Niemals.« »Wirklich nicht?«, antwortete die Stimme. »Wen willst du eigentlich überzeugen?«
Sie schüttelte den Kopf. Über die Absurdität der Situation musste sie selbst lachen. Der Wagen hielt an einer roten Ampel und sie sah auf, direkt in Carls graue Augen, der sie durch den Rückspiegel beobachtete. Sein Blick hatte eine solche Intensität, dass sich ihr Magen verknotete.
»Was ist los, Deborah?«, fragte er.
»Nichts«, antwortete sie. »Ich glaube, ich bin ein bisschen nervös.«
»Das brauchst du nicht.« Klaus wandte sich zu ihr um. »Du musst gar nichts tun und gar nichts sagen. Du musst nur danebenstehen und wichtig aussehen.«
»Aber ich bin doch gar nicht wichtig«, gab sie zurück.
»Nein? Dann schau eben hübsch aus, das wirst du wohl schaffen«, frotzelte Klaus. Über die Lehne des Beifahrersitzes hinweg zwinkerte er ihr zu.
Sie musste lachen. Als der Wagen anfuhr, ließ sie sich in die Polsterung zurückfallen.
Deborah war beeindruckt von der glänzenden Marmorfassade des Firmensitzes von Rheopharm. Sie folgte den beiden Männern in ein großzügiges Foyer, wo sie ein Portier in schwarzer Uniform zu den Aufzügen wies. Im dritten Stock angekommen, versanken Deborahs Füße fast in dem dicken, flauschigen Teppich, mit dem der Flur ausgelegt war. Sie machte ein paar Schritte auf die offene Flügeltür zu, hinter der wohl die Präsentation stattfinden sollte, und warf einen Blick in den weitläufigen Raum.
Die erste Person, auf die ihr Blick fiel, war Stefan. Er lehnte lässig an einem Tisch, in der Hand ein halb leeres Sektglas. Er war ins Gespräch mit einer hochgewachsenen älteren Frau in dunklem Hosenanzug vertieft, die der Tür den Rücken zukehrte. Von dem stoppeligen Dreitagebart, den Deborah normalerweise an ihm kannte, war heute nichts zu sehen, sein Kinn war glatt rasiert. Das wirre rotbraune Haar war ordentlich nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz gebändigt. Er hatte seine abgewetzten Jeans gegen eine enge graue Chino-Hose getauscht. Dazu trug er ein rosarotes kurzärmeliges Hemd und eine silbergraue Krawatte. Obwohl die Kombination ein wenig nach Schuluniform aussah, wirkte er darin sehr souverän.
Deborah war so überrascht, dass sie stehen blieb. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Ihre Begleiter schlossen zu ihr auf und Carl bemerkte ihr Zögern. Vielleicht hatte sie auch einen leisen Laut der Überraschung ausgestoßen, jedenfalls wandte er sich ihr zu.
»Komm, Deborah, du musst nicht nervös sein!« Mit diesen Worten lächelte er ihr aufmunternd zu. Er ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. In diesem Moment blickte Stefan herüber. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Deborah sah es und sofort stieg der alte Groll wieder in ihr hoch. Er hatte kein Recht, über ihr Leben zu bestimmen!
Trotzig löste sie ihre Hand aus der von Carl und hakte sich bei ihm unter. Carl sah sie einen Moment lang erstaunt an. Dann grinste er und winkelte den Arm ab. Gemeinsam betraten sie den Raum. Ihre Hand ruhte auf seinem Unterarm und sie konnte das Spiel seiner Muskeln unter dem Sakko fühlen. Klaus hielt sich einen Schritt hinter ihnen.
Eine zierliche kleine Frau in eisblauem Businesskostüm, die Deborah auf Ende dreißig schätzte, kam ihnen freundlich lächelnd entgegen.
»Herzlich willkommen!« Sie reichte Carl die Hand. »Ich bin Marianne Leidenberg, die Projektleiterin für das Marketing. Sie sind sicher Carl Schulze?«
Sie wandte sich zu Deborah, die nur ungern ihre Finger von Carls Arm löste, und schüttelte ihr ebenfalls die Hand.
»Das ist Deborah Peters«, stellte Carl sie vor und verschwieg ihren Status