Pater Noster. Carine Bernard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carine Bernard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742760968
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nicht mehr als notwendig. Er wich nicht aus, als sie sich erhob. Der schwache Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Selbst im Stehen überragte er sie noch um fast dreißig Zentimeter. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite, um seiner körperlichen Nähe zu entkommen.

      Carl Schulze sah nicht nur blendend aus, er kleidete sich dazu noch mit einer lässigen Eleganz, um die Deborah ihn beneidete. Er war erfolgreich in allem, was er tat, und er war sich dessen vollkommen bewusst. Das war zumindest die Ausstrahlung, die er wie einen Schild vor sich hertrug und die dazu führte, dass sie sich neben ihm klein und unbeholfen vorkam.

      Seine Mitarbeiter führte er mit fester Hand. Er brachte sich überall ein, lobte selten und kritisierte oft, aber seine Kritik war immer durchdacht und hilfreich. Ein Lob aus seinem Mund empfand Deborah als etwas ganz Besonderes.

      Ihre Initiativbewerbung war ein Schuss ins Blaue gewesen. Eine spontane Aktion, um der beruflichen Enge mit Stefan zu entkommen, die sie immer mehr wie ein Gefängnis empfunden hatte. Dass sie sich ausgerechnet bei Schulze & Niess beworben hatte, war ebenfalls Stefan geschuldet, der die Kultagentur von Carl Schulze und Boris Niess abwechselnd als das größte Vorbild oder den schlimmsten Feind betrachtete, je nach Auftragslage und Kontostand.

      Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, die Praktikantenstelle zu bekommen. Schulze & Niess hatten noch nie einen Praktikanten länger als einen Monat beschäftigt. Deborahs Anstellung war ein Novum und eine Chance, die sie um jeden Preis nutzen wollte.

      All das ging ihr in den wenigen Augenblicken durch den Kopf, die Carl brauchte, um sich über ihre Skizzen zu beugen. Durch den offenen Ausschnitt seines Hemdes blickte sie direkt auf seine nackte Brust, dicht bedeckt von lockigen schwarzen Haaren. Ihre Wangen wurden heiß, aber zum Glück sah er sie nicht an, sondern war auf ihre Zeichnung konzentriert.

      Er musterte die Bewegungsstudien der kleinen Figur, an der sie gearbeitet hatte. Es war die stilisierte Silhouette einer Tänzerin mit übertrieben schlanker Taille und langen Beinen im Stil der Zwanzigerjahre, die sich in lasziven Posen auf diversen Buchstaben rekelte.

      »Ist das für die Narula Bar?«, fragte er und deutete auf die Zeichnungen.

      Deborah nickte. »Ja«, krächzte sie. Sie räusperte sich und verfluchte im Stillen ihre Nervosität. Er war doch immer freundlich zu ihr, warum um alles in der Welt war sie dann in seiner Gegenwart jedes Mal so verunsichert?

      »Ja, genau. Klaus hat den Schriftzug fertig und ich soll die Tänzerin draufsetzen.«

      »Darf ich?« Carl nahm die Zeichnung, ging damit zum Fenster und hielt sie ins Licht. Deborah folgte ihm. Er musterte jede Skizze und wendete dabei das Blatt hin und her. Sie betrachtete währenddessen sein Profil, die klassische gerade Nase, die sinnlich geschwungenen Lippen und die dunklen Schatten auf Kinn und Wangen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie sich sein Mund auf ihrer Haut anfühlen würde. Sie schloss kurz die Augen und rief sich selbst zur Ordnung.

      »Es sind nur Studien«, beeilte sie sich zu erklären. »Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.«

      Carl schüttelte den Kopf. Eine dunkle Strähne fiel ihm in die Stirn. »Nein, Deborah, das ist schon recht gut. Diese hier oben, wo die Tänzerin auf dem B von Bar sitzt, das gefällt mir. Kannst du das mal größer und am Computer machen?«

      Deborah atmete tief durch und nickte. »Ja, Herr Schulze.« Ihr Herz schlug bis zum Hals, vor Freude über sein Lob wahrscheinlich, und ihre Hände waren feucht.

      »Gib ihr noch ein bisschen mehr Oberweite, schließlich ist das ein Nachtklub und kein Restaurant.« Er reichte ihr das Blatt zurück und sah sie aufmerksam an. »Wie lange bist du jetzt schon bei uns?«

      »Zwei Monate«, erwiderte Deborah. Was kam jetzt?

      »Dann wird es Zeit, dass du Carl zu mir sagst.« Er hob einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Mit der Hand fuhr er sich durch das schwarze Haar, eine seltsam jungenhafte Geste für den großen Mann. »Wir sind hier alle per Du.«

      »Ja, äh, danke, Herr Sch…, äh, Carl, ja …«, stammelte sie. Nun hatte er sie schon wieder aus dem Konzept gebracht.

      Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Du machst tolle Arbeit, Deborah, das wollte ich dir schon länger sagen.« Er lächelte anerkennend. »Klaus hat mir erzählt, wie gut du dich bei der Schmerzmittelkampagne der Firma Rheopharm eingebracht hast.«

      Deborah nickte und war ein wenig verwirrt. Die Kampagne war das aktuelle Projekt gewesen, als sie gerade ihr Praktikum begonnen hatte. Sie hatte nur einen Entwurf für die Verpackung beigesteuert. Es war ihr mehr wie ein Test erschienen und nicht wie eine richtige Arbeit.

      »Morgen findet die Präsentation der Entwürfe statt und der Sieger der Ausschreibung wird bekannt gegeben«, fuhr Carl fort. »Ich hätte gerne, dass du mitkommst.«

      Deborah schluckte. »Ich? Wieso …«

      »Du warst doch auch daran beteiligt. Also solltest du ebenfalls dabei sein.« Carl sah sie erwartungsvoll aus grauen Augen an. Seine dunklen Wimpern waren lang und dicht wie die einer Frau.

      »Aber ich …« Deborah zwang sich zur Ruhe. »Ich bin doch nur Praktikantin und ich …«

      »Dann wird es eine wertvolle Erfahrung für dich sein«, beendete er das Gespräch. »Es beginnt um eins, wir fahren von hier aus gemeinsam hin.«

      Im Gehen warf er einen vielsagenden Blick auf ihre Leinenschuhe. »Und zieh dir was Nettes an!«, setzte er hinzu.

      Deborah sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Als ob sie das nicht wusste!

      Carl schloss die Tür zu seinem Büro und lehnte sich dagegen. Sein Puls hämmerte, als ob er gelaufen wäre, und seine Hose schien ihm plötzlich eine Nummer zu eng. Er fluchte unterdrückt und zwang sich zur Ruhe.

      Er wollte Deborah haben, um jeden Preis und am liebsten sofort. Wenn sie ihn so aus ihren grünen Augen ansah, geriet seine sorgfältig gepflegte Fassade ins Wanken. Doch bis jetzt schienen all seine Annäherungsversuche ins Leere zu laufen. Sie ging jedes Mal auf Distanz, wenn er sie ansprach. Er wünschte sich plötzlich, er wäre nicht ausgerechnet ihr Chef, vielleicht wäre sie dann zugänglicher. Aber nein, wenn er ehrlich war, reizte ihn gerade ihre Zurückhaltung. Frauen, die er einfach haben konnte, gab es schließlich genug.

      Die Präsentation morgen war eine einmalige Gelegenheit, ihr näherzukommen, deshalb lag es nahe, Deborah mitzunehmen. Sie konnte nicht gut Nein sagen, natürlich nicht. Es war das erste Treffen außerhalb der Agentur und er würde dafür sorgen, dass es nicht das letzte blieb. Er wollte sie unbedingt haben.

      Carl setzte sich an seinen Schreibtisch und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Klaus, kommst du bitte mal zu mir?«

      Draußen im Atelier der Grafiker konnte er den Widerhall hören. Er rief selten einen Mitarbeiter zu sich, meistens ging er selbst hinaus zu seinen Leuten. Aber er wollte jetzt nicht noch einmal an Deborah vorbei.

      Es klopfte leise, und auf Carls »Herein« betrat der Chefgrafiker das Büro.

      »Klaus, wegen morgen …«, begann Carl.

      Klaus Rüdiger ließ sich auf den Besucherstuhl fallen und musterte seinen Chef ungeniert. Carl wusste genau, was Klaus sah: das weiße kurzärmelige Hemd, das am Hals offen stand, die tief gebräunten, kräftigen Unterarme, die muskulösen Schultern, alles schien wie immer. Aber das sonst so sorgfältig frisierte Haar war durcheinandergeraten und seine Haut glänzte feucht, als wäre er gerade der Dusche entstiegen. Carl konnte die Frage im Blick seines Mitarbeiters schon spüren, bevor er sie stellte.

      »Was ist los?«

      »Ich habe Deborah eingeladen, uns morgen zu der Präsentation zu begleiten«, erklärte Carl betont beiläufig.

      Klaus pfiff durch die Zähne und grinste.

      »Ich finde, sie sollte dabei sein. Immerhin hat sie auch daran mitgearbeitet.« Carl breitete die Hände aus, eine eigenartige Geste, als ob er sich rechtfertigen müsste. »Außerdem war sie noch nie bei so etwas dabei.