Pater Noster. Carine Bernard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carine Bernard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742760968
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Bereitschaft war, ließ er den Blick durch den Raum schweifen.

      Der alte Parkettboden war auf Hochglanz poliert und reflektierte die Sonne, die durch das bodentiefe Fenster hereinfiel. Schräg vor dem Fenster thronte der riesige Schreibtisch mit den beiden Monitoren. An der Wand dahinter zogen sich bis zur Decke die Regale mit dem Herz der Agentur: Briefe, Entwürfe, Verträge, Unterlagen, Dokumente und Rechnungen, die sichtbaren Beweise seiner Erfolge, abgelegt hinter unscheinbaren Aktendeckeln. Links von ihm hing ein surrealistisches Aquarell in bunten Farben. Unter dem Bild stand eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Gegenüber war ein riesiges Whiteboard an der Wand befestigt, über und über bedeckt mit Notizen und Bildern von aktuellen Projekten: ein Schriftzug mit tanzenden Figuren, ein Faltkarton, das Storyboard eines Fernsehspots, Ideen aus dem Brainstorming zum Namen eines Produkts. Es war sein perfekter Arbeitsplatz.

      Auf dem futuristischen Sideboard neben der Tür stand die Espressomaschine, chromblitzend und teuer. Darunter war eine Bar mit einem Kühlschrank eingebaut.

      Das grüne Licht leuchtete auf. Dankbar sah er zu, wie der starke Kaffee in die dickwandige Tasse lief. Dampf stieg auf und er schnupperte erfreut.

      Boris lehnte all das ab, so wie er jeden Protz und Prunk ablehnte. Wenn es nach ihm ginge, würde sein Kompagnon und Freund am liebsten unter freiem Himmel arbeiten, aber davon hatte Carl ihn zum Glück abgebracht. Boris hatte sein eigenes Büro nebenan, mit viel Licht und ausreichend Platz, um all seine Ideen zu Papier zu bringen und – wie es seine Art war – an drei oder fünf Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Carl hielt den Atem an und lauschte, doch aus dem Nebenraum drang kein Laut. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass Boris noch nicht da war, denn sonst wäre schon Musik zu hören. Indisch, irisch, japanisch, meditatives Gezimbel, wie Carl es im Stillen nannte, und überhaupt nicht sein Fall. Aber er nahm es hin, so wie er fast alles hinnahm, was seinen Geschäftspartner betraf.

      Er und Boris hatten die Agentur vor neun Jahren gegründet, als Boris gerade dabei war, der Kunstwelt endgültig den Rücken zu kehren. Boris hatte Kunst studiert. Schon während des Studiums war er zu einem gefragten Talent der Düsseldorfer Szene avanciert. Sehr früh machte er sich mit eigenen Ausstellungen einen Namen und die neureiche Schickeria feierte ihn wie einen jungen Gott. Bis er zusammengebrochen war unter dem Druck, ständig etwas Neues und immer noch Besseres abliefern zu müssen.

      Carl hatte ihm vorgeschlagen, sich stattdessen der materiellen Seite der Kunst zuzuwenden. In der Werbebranche könne er sich noch besser verwirklichen, legte Carl ihm dar. Er müsse sich nicht mehr mit Kunden und Finanzen abgeben, das würde Carl für ihn erledigen. Am Ende brachte Boris sein beträchtliches Barvermögen in die Firmengründung ein, während er, Carl, seine beruflichen Kontakte aus den Jahren als Marketingleiter beisteuerte. Dank dieser Verbindungen zogen sie gleich zu Beginn einige lukrative Aufträge an Land, mit denen Schulze & Niess ihren gegenwärtigen Ruf in der Branche begründeten.

      Carl war durch und durch Geschäftsmann. Er hatte seinen Abschluss in Wirtschaftspsychologie gemacht und im Anschluss noch einige Semester an der renommierten London Business School absolviert. Seine Stärke lag in der Planung, in der Konzeption eines Gesamtpakets, in der raschen Erfassung aller Aspekte einer Sache. Er erkannte sehr genau, wie gut er und Boris sich ergänzten. Der kreative Kopf und der Umsetzer, so sah er ihre Zusammenarbeit, und der Erfolg der letzten Jahre gab ihm recht.

      Carl kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Agentur Schulze & Niess. Er entschied, an welchen Ausschreibungen sie teilnahmen, in welche Kontakte investiert wurde und welche Aufträge für ihr Team geeignet waren. Boris hatte als Art Director weitgehend freie Hand in der künstlerischen Arbeit und bei der Auswahl der Mitarbeiter.

      Nur schien diese Aufteilung in den letzten Monaten nicht mehr so richtig zu funktionieren. Boris mischte sich zunehmend in Carls Kompetenzen ein. Er verlangte mehr Mitspracherecht bei der Auswahl der Aufträge. Störrisch verweigerte er die Mitarbeit an Projekten, die ihm nicht zusagten. Im Gegenzug hatte sich Carl über Boris hinweggesetzt, indem er Deborah als Praktikantin einstellte. Er musste sich eingestehen, dass er überhaupt nicht auf ihre berufliche Qualifikation geachtet hatte, sondern nur auf ihre meergrünen Augen, als er ihr den Praktikumsplatz zusagte. Boris war stinksauer gewesen, nicht auf Deborah, die sich als ausgesprochen talentiert und in jeder Hinsicht als Bereicherung für das Team erwiesen hatte, sondern wegen Carls eigenmächtiger Vorgehensweise.

      »Schwanzgesteuert«, hatte Boris ihn genannt und ihn daran erinnert, dass sie die Beschäftigung von Praktikanten zu einem Hungerlohn, wie es in der Branche üblich war, immer abgelehnt hatten.

      Carl runzelte die Stirn, als er sich an die unschöne Szene erinnerte. Beim Gedanken an die ihm noch bevorstehende Diskussion verzog er angewidert das Gesicht. Er hatte Boris bis heute nichts von der aktuellen Ausschreibung erzählt, zu deren Präsentation sie morgen eingeladen waren. Aber was hätte er sonst auch tun sollen? Er wusste schließlich genau, wie Boris reagieren würde.

      Der Auftraggeber war Rheopharm, ein Pharmakonzern, der üblicherweise nur mit einer internationalen Agentur in Berlin zusammenarbeitete. Aber die Kampagne, um die es ging, sollte diesmal in Düsseldorf konzipiert werden, durch »ein junges Team für ein junges Produkt«, wie es in der Ausschreibung hieß. Für Schulze & Niess bedeutete das, einen Fuß in die Tür eines wirklich großen Kunden zu bekommen. Mit dem Renommee, das die Agentur durch so einen Auftrag bekäme, spielten sie plötzlich in einer anderen Liga, sie würden zu den Großen der Branche gehören. Carl fand diesen Schritt wichtig und notwendig. Nur wenn sie sich ständig weiterentwickelten, konnten sie mit dem sich schnell ändernden Markt mithalten.

      Boris interessierte das jedoch nicht. Er war mit ihren bisherigen Erfolgen völlig zufrieden, und ihm fehlte jeglicher Ehrgeiz, noch weiterzukommen. Er war der Meinung, sie verdienten mit Schulze & Niess schon jetzt genug, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Jeder Euro mehr wäre ungehörig, waren seine Worte gewesen. Und überhaupt, eine Pharmafirma! Das war ja noch schlimmer als der Automobilkonzern, an dessen Ausschreibung teilzunehmen er sich letztes Jahr schlichtweg geweigert hatte.

      Deshalb hatte Carl diesmal gar nichts gesagt. Mit einem kleinen Team, zu dem in der Endphase auch Deborah gehörte, hatte er die Konzeption und die ersten Entwürfe allein durchgezogen. Offenbar waren sie auch ohne Boris erfolgreich gewesen, denn sonst wären sie nicht zur Bekanntgabe des Siegers eingeladen worden.

      Er griff nach dem Brief mit der Einladung, der vor einigen Tagen gekommen war. Er las ihn nochmals durch, obwohl er den Text bereits auswendig kannte.

      Sehr geehrte Damen und Herren,

      Sie haben sich an der Ausschreibung zu unserer Werbekampagne »Ein Schmerzmittel für Kinder und Jugendliche« beteiligt. Wir dürfen Ihnen hiermit mitteilen, dass Sie zu den drei Bewerbern in der Endausscheidung gehören.

      Wir freuen uns, Sie am Freitag, dem 19. Juni, um 13.00 Uhr zur Bekanntgabe des Gewinners in unseren Räumlichkeiten zu begrüßen.

      Hochachtungsvoll

      Marianne Leidenberg

      Projektleitung Rheopharm

      Sollten sie die Ausschreibung wirklich gewonnen haben, blieb ihm natürlich keine Wahl. Dann musste er Boris davon erzählen und er konnte sich dessen Reaktion nur zu gut vorstellen. Der Streit war vorprogrammiert. Aber diesmal würde er nicht nachgeben, nicht bei einer so großen Chance. Er legte den Brief zur Seite und fuhr seinen Computer hoch.

      Deborah saß auf ihrem Schreibtisch und die Hälfte der Agenturmitarbeiter hatte sich um sie geschart. Voller Begeisterung erzählte sie von ihrer neuen Wohnung, als ob es sich um einen Palast handelte und nicht um ein winziges Zimmer unter dem Dach.

      »Und heute Morgen habe ich die Schlüssel abgeholt«, schloss sie und klimperte wie zum Beweis mit ihrem Schlüsselbund.

      »Wieso hast du uns nicht schon früher davon erzählt, Debs?«, fragte Sam, der Animateur, wie sie ihn liebevoll nannten, der Spezialist für Computeranimation.

      »Ich war abergläubisch«, gab Deborah zu. »Ich wollte erst ganz sichergehen, dass alles klappt.«

      »Wann hast du den Vertrag unterschrieben?«, wollte Klaus wissen. Er war