Pater Noster. Carine Bernard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carine Bernard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742760968
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      Klaus klang, als meinte er tatsächlich, was er sagte. Carl wusste, dass er sehr viel von Deborah hielt. Sie alle hatten sie in den letzten zwei Monaten als hochtalentierte Grafikerin und stets lernbereite Schülerin zu schätzen gelernt. Ja, mit ihr als Praktikantin hatte er einen Glücksgriff getan.

      Stefan wartete in der Tür seiner Wohnung, während Deborah die Treppe bis in den obersten Stock hochstieg. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, drängte sich Josh an ihm vorbei und begrüßte sie stürmisch. Sie beugte sich hinunter, um Josh zu streicheln, und als sie sich aufrichtete, war ihr Gesicht gerötet.

      Er musterte sie von oben bis unten. Die ungewohnte Frisur ließ sie größer erscheinen. In der dunklen Hose und der hellen Bluse sah sie aus wie die Verkörperung der erfolgreichen Karrierefrau, die sie offenbar gerne werden wollte. Fast schon spießig, redete er sich ein. Von dem Hippiemädchen in ausgefransten Jeans und Schlabber-Shirts, in das er sich damals verliebt hatte, war nicht mehr viel zu bemerken. Hatte sie nicht auch abgenommen? Oder lag es wirklich nur an der Kleidung, dass sie so – er suchte in Gedanken nach dem richtigen Wort – so erwachsen wirkte?

      Er trat einen Schritt zurück. »Komm rein«, sagte er und ging voraus in das große, unaufgeräumte Wohnzimmer, das gleichzeitig als Esszimmer, Büro, Atelier und Computerraum diente. Sie folgte ihm. Josh sah hoffnungsvoll von einem zum anderen.

      »Ist jetzt alles wieder gut?«, schienen seine braunen Augen zu fragen.

      »Wie geht es dir?« Deborahs unschuldige Frage entfachte Stefans Zorn aufs Neue.

      »Was meinst du wohl, wie es mir geht, Debbie?« Er deutete auf das Chaos rundherum. »Zu viel Arbeit für einen allein, das sieht man doch!«

      »Aber das ist doch gut, wenn du viel Arbeit hast!« Deborah wich seinem Vorwurf aus.

      »Ja, schon, aber nicht gut genug für dich, hast du das schon vergessen?« Seine braunen Augen waren dunkel vor Schmerz. Schnell senkte er den Kopf und verbarg seinen verbitterten Gesichtsausdruck hinter den rotbraunen Locken, die ihm ins Gesicht fielen.

      »Das meinte ich nicht«, antwortete Deborah. Sie ging zum Fenster und sah hinunter auf die Oberbilker Allee. Stefan fühlte den Boden erzittern, als die Straßenbahn um die Kurve fuhr.

      »Nein, natürlich nicht«, antwortete er resignierend. »Du meinst es ja nie so.«

      »Wenn du mich ein bisschen mehr unterstützt hättest, wäre es nie so weit gekommen«, gab Deborah zurück. »Aber du konntest ja nicht akzeptieren …«

      »Du konntest nicht akzeptieren, dass ich dich für unsere gemeinsame Arbeit brauche!«

      Stefan schloss die Augen. Sie hatten ihren Streit übergangslos an genau derselben Stelle wieder aufgenommen, an dem sie ihn vor sechs Wochen unterbrochen hatten. Deborah war damals einfach gegangen und nicht wieder zurückgekehrt.

      »Ich wollte aber auch noch etwas anderes machen! Mich weiterentwickeln und andere Dinge kennenlernen, nicht nur« – sie schloss den Raum mit ihrer Armbewegung ein – »das hier. Kannst du das nicht nachvollziehen?«

      »Debbie, was ist schlecht an dem hier?« Seine heftige Betonung der letzten zwei Worte machte ihm selbst deutlich, wie verletzt er immer noch war.

      »Ich wollte nur einen Teil meiner Sachen holen und nicht den alten Streit wieder aufwärmen«, sagte sie leise.

      »Ja, das hast du gesagt.« Stefan gewann nur mühsam seine Beherrschung zurück. Er streichelte Josh mit schnellen hektischen Bewegungen, bis der sich seiner Hand entzog. Demonstrativ rollte er sich zu Deborahs Füßen zusammen. »Du weißt ja, wo du alles findest.«

      Deborah nickte. Sie stieg über den Hund hinweg, der ihr traurig hinterhersah. Im Schlafzimmer nahm sie die leere Reisetasche von ihrer Schulter und schaute sich um.

      Stefan war ihr gefolgt. Er stand in der Tür und sah ihr schweigend zu. Deborah öffnete die Spiegeltür des Kleiderschranks. Einen Augenblick lang zog sein eigenes Spiegelbild an ihm vorbei: eine schlanke Gestalt in ausgeblichenen Jeans und verwaschenem T-Shirt, mit wirrem, lockigem Haarschopf, die Hände zu Fäusten geballt in den Hosentaschen.

      Deborah betrachtete den Stapel alter T-Shirts und Jeans im Schrank und schüttelte den Kopf. Sie schien eine Entscheidung zu treffen und begann mit ihren Büchern und den Stofftieren, gefolgt von ihrer CD-Sammlung, mehreren Fotoalben und der großen Mappe mit ihren Arbeiten von der Uni. Am Ende war die riesige Tasche voll und dieser Teil des Schranks von den letzten Spuren ihrer Anwesenheit befreit. Den gerahmten Fotodruck mit der Skyline von London klemmte sie sich unter den Arm, das hatte er nicht anders erwartet, denn auf diese Aufnahme war sie immer besonders stolz gewesen. Die anderen Fotos an der Wand, die in den letzten gemeinsamen Jahren entstanden waren, ließ sie hängen. Ihm war das nur recht, sie würden ihn an schöne Zeiten erinnern. Zeiten, die offenbar endgültig vorbei waren.

      Deborah wandte sich zu ihm um.

      »Ich komme nächste Woche noch einmal und hole den Rest«, erklärte sie. »Es ist ja nicht mehr viel.«

      Er nickte nur. »Hast du inzwischen etwas gefunden?«

      »Ja«, antwortete sie kurz angebunden und verbot ihm so jede weitere Nachfrage.

      Er wollte es ohnehin nicht wissen. Vielleicht hatte sie ja auch schon einen Neuen, mit dem sie sich ihr Liebesnest einrichtete. Der Gedanke schmerzte und er biss die Zähne zusammen. Es war besser, wenn er es gar nicht erfuhr.

      Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, ging er mit schleppenden Schritten zum Kühlschrank und holte eine Dose Bier heraus. Er ließ sich aufs Sofa fallen, die ungeöffnete Dose in der Hand, und starrte blind aus dem Fenster. Josh weckte ihn aus seiner Starre, indem er zu ihm aufs Sofa sprang und den Kopf auf seinen Oberschenkel schob. Er öffnete die Bierdose und trank sie in einem Zug zur Hälfte aus. Dann legte er die Hand auf den Kopf des Hundes und begann die seidigen Ohren zu kraulen.

      Deborah ließ erleichtert die Farbrolle sinken. Die letzte Wand war fertig gestrichen. Der Eimer Farbe, den sie heute Nachmittag gekauft hatte, war so gut wie leer, dafür leuchtete das Zimmer nun in strahlendem Gelb. Das Streichen der schrägen Decke war besonders anstrengend gewesen. Stöhnend bewegte sie die schmerzenden Schultern.

      Sie ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, musste sie lachen. Tausende winziger Farbspritzer übersäten ihr Gesicht wie Sommersprossen. Wenn die Leute aus der Agentur sie so sehen könnten, sie würden sie kaum wiedererkennen, ging ihr durch den Kopf. In weiser Voraussicht hatte sie wenigstens ein altes Tuch um den Kopf gebunden, sodass die Haare nicht allzu viel abbekommen hatten.

      Sie säuberte gründlich ihre Hände, dann zog sie die Klebestreifen von Fenstern und Türen ab. Sie warf alles auf die riesige Plastikfolie, die den Boden komplett bedeckte und auch noch das Sofa und die kleine Einbauküche überzog. Am Ende faltete sie die Folie zu einem großen Paket und trug es vor die Wohnungstür. Sie würde es später mit hinunternehmen.

      Im Bad brauchte sie nichts weiter zu tun, denn es war erst kürzlich vom Vermieter renoviert worden. Helle Fliesen zogen sich bis unter die Decke. Ein bunter Duschvorhang bauschte sich im Luftzug, als sie die Tür hinter sich schloss. Warum eigentlich? Sie war allein hier, sie konnte die Toilette genauso gut bei geöffneter Tür benutzen, aber die jahrelange Gewohnheit hielt sie davon ab. Zum Glück hatte sie daran gedacht, Toilettenpapier zu kaufen und ein Handtuch mitzubringen!

      Sie wusch sich das Gesicht und rubbelte den Rest der Farbe mit dem Handtuch ab. Anschließend musterte sie sich im Spiegel. Die Farbtupfer waren verschwunden, ihr Gesicht war gerötet. Sie zog das Tuch vom Kopf und schüttelte die Haare aus. Sie hatte keine Bürste dabei, deshalb strich sie das Haar nur nach hinten und band es mit dem Haargummi wieder zusammen. Zu Hause würde sie ohnehin noch duschen.

      Zu Hause? Ihr Zuhause war jetzt hier, korrigierte sie sich im Stillen. Sosehr sie ihre Mutter auch liebte, auf Dauer ging das unter einem Dach mit ihr nicht gut. Deborah war froh, jetzt endgültig auf eigenen Füßen zu stehen.

      Es klopfte energisch an der Tür. Deborah erstarrte mitten in der Bewegung. Besuch?