Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
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Ian und Schlagmann lehnten mit dem Rücken an einem blauen, fleckigen Geländer. Sie schauten Alex beim Vorführen seines neuen Handys zu. Es handelte sich um ein Nokiatouchhandy, bei dem man die Rückseite austauschen konnte, da verschiedene Farbstücke mitgeliefert wurden. Ian hatte so etwas noch nie gesehen. Schlagmann hingegen besaß ebenfalls ein Touchhandy, doch bei ihm konnte man dazu eine klassische Tastatur mit Zahlen und kleinen Buchstaben nach unten ziehen. Alex´ Mutter hatte für ihren Sohn einen Vertrag abgeschlossen. Unglaubliche 500 MB Datenvolumen, Ian konnte sich darunter überhaupt nichts vorstellen, so wie hundert Freiminuten und SMS. Schlagmann hatte einmal gehört, dass solche Verträge pure Abzocke wären, aber Alex war sich sicher, dass das eine gute Sache war.

      Unter der Brücke, zu der das Geländer gehörte, lag ein Rohr, welches Regenwasser in den Schwanenteich leitete. Gerade schwamm eine Ente hinein, als Alex Ian fragte, ob er denn nicht sein altes Handy haben wollte. Ian lehnte das zügig ab. Er war froh, als Lena und Vivien bei dem Weg auftauchten. Dieses Mal bekam Schlagmann von Vivien eine Umarmung. Er strahlte. Beim Gang zur Teutebergstraße musste er alle paar Meter einen Ausfallschritt machen. Wahrscheinlich klemmte sein Hosenstall.

      Die Teutebergstraße führte bis an den Rand des Jotta-Liebermann-Parks. Einen begehbaren Gehweg gab es nur auf einer Seite. Genau wie die Straße, bestand dieser aus einem Steinpflaster. Allerdings hatten sich Erdschichten über den Untergrund gelegt. Der Gehweg auf der anderen Seite, war mit Barken abgesperrt und im Erdreich versunken. Die neuen Rohre reflektierten die Sonnenstrahlen. Die harte Erde sah staubig aus. Ein Bauarbeiter mit einem Hopser verdichtete die Einfahrt zu einem Altersheim. Rechts und links standen Wohnhäuser mit grauen Wänden, an denen eine Menge Graffiti angebracht waren. Die Häuser besaßen alle drei Etagen und ein rotes Dach. Die meisten Briefkästen waren nur noch lose Halterungen an der Wand. Viele Fenster waren gardinenlos. Eine alte Telefonzelle mit zersprungener Tür, bildete einen der wenigen Farbtupfer.

      Eine alte Frau, die sich aus dem Fenster gelehnt hatte und sich auf einem Kissen mit derbem Stoff abstütze, beobachtete die Kinder, wie sie die Teutebergstraße hochgingen. Buchstäblich hoch, denn das Ende der Straße lag auf einem kleinen Hügel. Hinter dem Hügel befand sich ein Tierheim, zwei Behindertenwerkstätten und ein Ausschusswarenlager. Die Mehrfamilienhäuser nahmen ein Stockwerk ab. Auf der linken Seite gab es einen kleinen Weg. Am Ende stand ein altes Haus. Ian hob die langen Äste der Hecke hoch. Nacheinander schlüpften Vivien, Schlagmann, Alex und Lena durch das Gartentor. Das Schloss war verrostet. Es bröselte auseinander. Ein altes Fahrradschloss war über die Gitter gelegt, jedoch so, dass man eine Schlaufe hinüberschieben konnte. Das Gras im Vorgarten ging selbst Vivien bis zur Hüfte. Als die Halme ihr über die gebräunten Beine strichen, bereute sie, eine kurze Hose angezogen zu haben. Allerdings war es brüllend heiß und Zecken sprangen ihres Wissens eh nur von Bäumen. Der Hauseingang auf der anderen Seite war verschlossen. Schaute man auf die Front des Hauses, hätte man nicht gewusst, dass es leer stand. Zwischen den Paulmander Ringen, standen da ganz andere Unterkünfte.

      Von den Kindern war niemand ein professioneller Einbrecher, deshalb hätten sie niemals gewusst, wie sie die Tür öffnen könnten, doch zu ihrem Glück gab es da noch den Hintereingang. Er lag etwas unterhalb der Grasebene. Neben den nach vorn fallenden schmalen Treppenstufen standen Geländer, an denen einmal Schnüre zum Wäscheaufhängen befestigt waren. Jetzt bildeten sich an den Eisenstangen Blasen, die bettelten abgepuhlt zu werden. Das Schloss an der hinteren Holztür war von Schlagmann herausgeschraubt wurden. Er hatte das in einem Buch gelesen. Ein Geschenk seiner Eltern: 100 Dinge, die ein junger Mann wissen muss, oder so ähnlich. An dem Tag, als er der Gruppe diesen tollen Ort beschert hatte, war Matthias der Held und Vivien wollte unbedingt dieses Buch sehen, vielleicht standen da noch mehr nützliche Dinge drin. Doch Schlagmann lief tiefrot an und stammelte: „Ne, dis war a-aaa-alles. Sonst ist da nix drin.“

      Vivien gab es auf, ihn gegenüber nett sein zu wollen. Sie wusste nicht, weshalb Ian ihn immer mitschleppte. Aber bei so etwas konnte man nicht mit ihm reden. Nie. Immer das gleiche Gequatsche.

      „Er gehört halt dazu.“ So etwas sagte Ian und dachte, das würde irgendetwas erklären. Das konnte Vivien so aufregen. Das mit der Tür war das Coolste, was Schlagmann je gemacht hatte. Und wenn man mit ihm darüber reden wollte, stammelte er.

      „Er soll endlich erwachsen werden“, dachte sich Vivien, zumal er ja älter war. Sie schlug vor, dass sie Verstecken spielen sollten.

      „Sicherer Hafen“, nannte sie es. Der Hauseingang der neunten Wohnung, die einzige Abgeschlossene, wurde zum sicheren Hafen gekürt. Wenn man die Tür abklatschte, war man gerettet. „Wer ist Jäger?“, fragte Alex. Matthias war der Letzte, der merkte, dass sich alle an die Nasenspitze fassten.

      Matthias Schlagmann lehnte sich an den Hauseingang. Er schloss die Augen. Er zählte laut bis fünfzig. Er hatte gehört wie zwei nach oben gegangen waren. Er entschied sich zunächst ihnen zu folgen. Aber als er die erste Stufe erklomm, sausten hinter ihm schon Alex und Vivien an die Tür.

      Sie riefen laut: „Gerettet.“

      Dann mussten Lena und Ian oben sein. Es ging nicht anders. Schlagmann hatte die Schritte gehört. Er linste um die Ecke. Er sah, dass der Fußabtreter umgeknickt dalag. So leise, wie er konnte, lief er zu der leeren Wohnung. Sie hatte nur ein Zimmer und er ...

      Da kam schon wieder der Ruf: „Gerettet.“

      Das konnte doch nicht sein. Verdammt, dachte Matthias. Er hatte Lenas Stimme erkannt. Das hieß, Ian war noch hier. Ian musste hier in dieser Wohnung sein. Wenn er ausgerechnet den Klassenking erwischen würden, wäre das genauso gut wie ein voller Sieg. Da würden seine Mädels aber blöd gucken.

      „Ian!“, rief er, vor Anspannung und Anstrengung außer Atem, „Ich weiß das du hier bist.“

      Wie in Erwartung eines plötzlich auftauchenden Horrorfilmmonsters schlich Schlagmann achtsam nur auf den Zehenspitzen an dem Bad vorbei. Die komplette Keramik fehlte. Dann stand er in dem Zimmer. Es gab keine Küche, nur Anschlüsse. Das war das einzige Zimmer. Ian musste doch hier sein. Schlagmann ging zu den offenstehenden Fenstern und dann sauste er herum, rannte aus der Wohnung und stolperte über den Fußabtreter.

      Von Unten kam: „Gerettet.“

      Die Dachpappe fühlte sich klebrig an. Schlagmann pulte einen kleinen Stein von seinen haarlosen Beinen. Innerlich schüttelte er immer noch den Kopf. Es war 17:05 Uhr. Die Sonne meldete schon langsam an, dass sie die anderen wecken musste. Matthias konnte nicht glauben, dass Ian für so ein blödes Spiel aus dem Fenster geklettert war.

      „Deutsche sind tapfer“, hatte er gesagt.

      Nun saßen sie alle auf einem Vordach, rechts von ihnen erstreckte sich Nichts als weites Feld. Weites, stoppeliges Feld. Ganz da hinten lag irgendwo einen Graben, in dem die Bahnschienen lagen. Wenn sie nach vorn schauten, konnten sie den Aussichtsturm auf dem Bokettoberg sehen. Die Hochhäuser waren größtenteils von der Hauswand verborgen. Das war allerdings nicht schlimm. Nur Alex und Matthias ließen ihren Blick noch in die Ferne schweifen. Alex´ Füße baumelten von der Kante hinunter. Ihn konnte man von der Teutebergstraße aus sehen. Lena und Ian lehnten auf der anderen Seite an der Ziegelwand. Lena hatte ihm etwas auf ihrem Handy gezeigt. Nun kritzelte Ian mit einem Dachpappenfetzen etwas auf die weiße Schuhsohle von Lena.

      Vivien hatten sich lang gemacht und in die Sonne gelegt. Zunächst hatte sie in ihr T-Shirt einen Knoten gedreht und sich auf den Rücken gelegt, doch dann merkte sie schnell, dass der Zopf am Hinterkopf drückte und sich kleine Steinchen in den Haaren verhedderten. Deshalb lag sie nun auf dem Bauch. Den Kopf auf den Händen abgestützt und nach links gedreht, schaute sie auf das Feld. In ihrem gesamten Blickfeld gab es nicht eine einzige Landstraße. Kein einziges Auto fuhr über die Feldhügel, an deren Spitze eine Baumgruppe stand. Die Sonne kitzelte ihr an der Nase. Vivien genoss das Gefühl. Es war, als ob sie kurz davor war zu niesen. Nur kurz davor. Es kribbelte, aber nicht zu stark. Ein kleiner Schweißtropfen floss von ihrer Stirn. Sie schloss das Auge. Nur noch das Sonnenlicht sehend, verlor sie sich in Raum und Zeit und dachte an den Urlaub zurück. Für ihre Eltern war Kragujevac Heimat. Doch wie dachte sie darüber? Für Menschen wie Ian, für Menschen wie ihre Eltern, war Heimat ein so großer bedeutungsschwangerer Begriff.

      Sie