Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
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zweite Alex. Zu Alex´ Vorteil befand sich die Tafel nicht mittig, sondern im rechten Drittel der vorderen Wand. Links daneben stand der Lehrertisch mit dem blau gepolsterten Stuhl und der Polylux, für den auf der Wand eine weiße Projektionsfläche angebracht war. Links oben und unten hatte diese Fläche braungrüne Flecken, die von einer legendären Weintraubenschlacht herrührten. Da die Tafel nicht in der Mitte angebracht war, musste die Fensterreihe nicht wahnsinnig viel an ihrer Sitzposition ändern. Lena in der Wandreihe konnte allerdings nur etwas erkennen, da Ian den freien Platz in seinem Rücken ausnutze und wirklich, wirklich weit zurückrutschte. Er schaute durch die Lücke, die SS-Sveni und Tania bildeten. Lena beugte sich weit nach vorn und drehte ihren Kopf knapp über der Tischfläche. Franz war groß genug, der konnte über sie hinüberschauen. Jetzt in der ersten Stunde nach den Ferien waren die Schüler noch zu Verrenkungen bereit. Aber nach zwei Wochen war das vorbei.

      Die allerbesten Plätze hatten Jale und Alparen, die an den Spitzen der Reihen und damit mit dem Lehrertisch auf einer Höhe saßen. Sie konnten immer alles erkennen. Egal ob es die seit fünf Jahren beschädigte VHS-Kassette aus dem Biounterricht war, in der Markus erklärte, dass das Mitochondrium das Kraftwerk der Zelle sei oder die schiefe Schrift von Frau Szchemanek. Dazu wurden sie auch nie drangenommen. Lehrerunabhängig. Sie wurden einfach übersehen.

      Ian hatte da nicht so viel Glück. Dabei hätte er das gerade in diesem Fach gebraucht. Englisch war nicht so sein Ding. Wenn er am Platz drangenommen wurde, konnte er auf die Hilfe von Lena vertrauen, die in Englisch ein Ass war und sich für die viele Hilfe, die Ian ihr in den naturwissenschaftlichen Fächer gab, revanchieren wollte. Nun war es allerdings einfacher, das richtige Ergebnis einer Berechnung ins Ohr zu flüstern, als einen kompletten Satz. Lena gab aber trotzdem ihr Bestes. Sie hatte eine leise, hohe Stimme, die Frau Szchemanek nicht hörte und so konnte sie Ian ein paar Vokabeln in den Mund legen, auf die er selbst nicht gekommen wäre. Leider tendierte Frau Szchemanek immer mehr dazu, die Schüler aufstehen zu lassen. Da war das Vorsagen schon schwieriger und wenn sie vor zur Tafel geholt worden, war alles vorbei. Ian war froh, dass er keine Uhr hatte. Sonst hätte er aller paar Sekunden drauf geschaut. Die Zeit wäre dann noch langsamer verstrichen. Auch die Uhr, die über der Tafel hing und den Glockenturm mit dem Big Ben als Hintergrund hatte, zeigte schon lange nichts mehr an. Die Batterien waren wohl das letzte Mal an dem Tag ausgetauscht wurden, an dem Markus seine Biotipps aufgenommen hatte.

      Ian war niemand, der wahnsinnig viel mitschrieb. Das lag zum einem an seiner Hefterlimitierung, er musste sie nämlich zwei Jahre lang benutzen und zum anderen an seiner Art Notizen zu machen. Ein Satz wie: „Der Vorsitzende der Partei für soziale Gerechtigkeit Özer Sahin betonte auf dem Bundesparteitag am 20.April ein weiteres Mal, dass er das Grundeinkommen als das zentrale Thema seiner politischen Arbeit und als das entscheidende Ziel seiner potentiellen Regierungsverantwortung ansieht.“ wurde in Ians Notizen höchstens zu einem: „Vs PSG AH-Bday Grundeink. wichtig.“

      Damit und mit seiner Art, aus zwei Kästchen drei Zeilen zu machen, hatte er sich schon oft Ärger eingefangen. Er verstand ja, dass er bei Arbeiten ein Kästchen frei lassen sollte, aber weshalb es Lehrer interessierte, wie er in seinem eigenen Hefter schrieb, würde er nie verstehen. Es stimmte auch nicht, was sie sagten.

      „Mit diesen Notizen wirst du dir nie etwas merken.“

      „Wenn du nächste Woche in deinen Hefter schaust, verstehst du das nicht mehr.“

      „Mit so einer Arbeitseinstellung wirst du später Probleme bekommen.“

      „Wenn du nächstes Schuljahr in deinen Hefter schaust, verstehst du das nicht mehr.“

      Es stimmte alles nicht. Ian reicht das als Merkstütze. Er hatte schon ein paar Mal gesagt: „Wenn die sich andere Notizen machen, ist doch cool, soll´n mir nicht auf´m Sack gehen, mit ihren fucking Muschigehabe.“

      Sein Englischhefter war aber fast immer leer. Die Sätze an der Tafel schrieb er manchmal ab, ab er wusste nie, ob sie wichtig waren oder nicht. Meist griff er den Kugelschreiber, der würde ihm zumindest keinen Ärger mehr einbringen, denn ab der Siebten musste kein Füller mehr benutzt werden und kritzelte auch etwas auf sein Blatt.

      Für einen Jungen in seinem Alter hatte Ian eine recht schöne Handschrift.

      Die Größe allein ist ja nicht entscheidend.

      Die Kanten waren hart und klar, doch das passte zu der bemerkenswerten Eigenschaft die Linie halten zu können. Auch auf einem weißen Blatt würden alle Buchstaben auf einer Höhe sein. Und die Haken der „g“s und „f“s und „j“s würden alle auf einer Ebene liegen. Auch sahen Ians Buchstaben immer gleich aus, da gab es keinerlei Varianz. Die Findungsphase war Mitte der zweiten Klasse abgeschlossen. Es würde sich nichts mehr ändern. In all den noch kommenden Jahren, würde sich das Wesen der Buchstaben wandeln, ihr Innerstes sich färben, doch die Haut, die hart und stramm, wie eine Rüstung über die Formen gelegt war, änderte sich nie. Das „A“, welches am Anfang stand und mit dem die Einleitung des Deutschaufsatzes begann, würde genauso so aussehen, wie das „A“, mit dem das Schlusswort auf der achten Seite begann.

      Ians Schrift war so klein, dass der abgerissene Zettel, der von Vivien zu Ian zu Lena und wieder zurückwanderte, für die ganze Stunde ausreichen würde. Eigentlich brauchten die drei keinen Zettel, um sich im Unterricht zu unterhalten. Normalerweise war es so laut, dass sie auf Briefe nicht angewiesen waren. Doch bei Frau Szchemanek musste man aufpassen. Diese Frau wartete nur darauf ein Fish&Chips-Feuer ausspeien zu können.

      Vivien schrieb: „Kennt ihr den neuen Geolehrer?“

      Ihre Buchstaben hatten die, für Mädchen typischen, Verschnörkelungen. Ihr „K“ sah aus wie Roter Klee, der neben dem Handtuch, auf dem man sich gerade sonnte, hervorlugte und seine grünen Blätter in der leichten Brise wog. Wind, der die zarten Wassertropfen von der warmen, sonnengebräunten Haut kullern ließ. Wenn man sich zur Seite drehte, konnte man sehen, wie die Sonne Regenbögen unter den Wassertropfen erscheinen ließ und man konnte den roten Nektar des Klees riechen. Unter der Pflanze war Erde, die trotz der strahlenden Sonne feucht war und sich nicht wie Sand anfühlte.

      Das „K“ eines Ians sah aus wie der Backstein einer gepflasterten Fläche, bei der man sagte: „Jo, hier kann ich meinen Sonnenschirm aufstellen. Hier ist es stabil.“

      Ian hatte noch nicht von dem neuen Lehrer gehört, allerdings hatte er ja auch noch nicht gewusst, dass sie heute Geographie haben würden.

      Lena schrieb: „Ne, kenn ich auch nicht.“

      Jedes „N“ sah anders aus und es war der letzte Wortwechsel auf diesem Zettel, der für Außenstehende Sinn ergeben hätte. Es klingelte wieder. Frau Szchemanek rief in das Durcheinander die Hausaufgaben herein. Wieder auf Englisch. Ian nahm das gar nicht wahr. Er hielt es für eine Verabschiedung. Die Klasse versuchte schnellstmöglich in den Physikraum zu gelangen. Das war mit den vielen Büchern eine Herausforderung. Zwölfjährige sind in der Regel richtige Luftpumpen. Der Physikraum lag direkt unter ihnen und war ein Fachraum mit klassischer Anordnung, der aber nur mit einem Lehrer betreten werden durfte. Zügig wurden die Taschen hingestellt, Lena und Ian saßen hinter Tania und Vivien und dann wurden sie auf den Hof gescheucht. Ian schnappte sich noch schnell einen Stift.

      Neben dem Glaskasten lag der Eingang zum Pausenhof. Der Durchgang von draußen nach drinnen nach halbdraußen war unterbrochen von Plakatwänden aus Kork, an denen Schülerarbeiten hingen. Die ersten fünf Jahre waren für die Kunstobjekte die schwierigsten. Doch wenn sie fünf Jahre dort hingen, bekamen sie einen Altersschutz, der sie vor Schmierereien bewahrte. Zwischen den Plakatwänden, die am Morgen manchmal umfielen, da die Schrauben an den Füßen locker waren und die hereinströmenden Schüler wenig Rücksicht nahmen, war ein kleiner Ständer, dessen Legierung abblätterte. Dieser Ständer hatte einen Korb, in dem der „Spießer“ und kostenlose Hausaufgabenhefte lagen. Sie waren viel dicker als die Exemplare, die man im Laden kaufen konnte, da auf jeder zweiten Seite Werbung für und von Schaldstättener Betriebe gedruckt war. Ian nahm sich so ein Hausaufgabenheft, dann stellte er sich an den Glaskasten. Er suchte seinen Klassenstundenplan. Auf dem schwachgedruckten Papier konnte er erkennen, dass er heute noch Gemeinschaftskunde und eine Doppelstunde Geographie haben würde. Das hieß,