Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
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denn für´n Ton?“

      Pflatsch! machte es. Obwohl das nicht ganz stimmte, es machte viel mehr Pflaaaaaatttsssccchh?!

      Denn, obwohl der Ballon unter Herr Teutschwitz Kurzarmhemd nicht mit der Menge an heißer Luft aus den kommenden Jahren gefüllt war, hatte Ian es hier nicht mit einem athletischen Schläger zu tun. Das Blöde für den Siebtklässler war nur, dass der lange Mittelfingernagel an seinem Auge kratzte. Während ihm die Tränen kamen, wollte Freya türmen, doch ihr Gewissen hielt sie an der Tür zurück.

      „Ach, jetzt heult der Große wohl? Was sind wir? Ne dreckige Zigeunerin, die keine Rose verkaufen konnte? Jetzt kommt nichts mehr, du ...“

      Ian hörte sich die Tirade an. Eigentlich wollte er seine Eltern nach einem Handy fragen. Das konnte er sich jetzt wohl abschminken.

      Freya lag schon im Bett als Ian in das Zimmer kam. Auf ihre schüchterne Nachfrage hin, holte er liniertes Papier aus seinem Deutschhefter und legte es Freya in den Ranzen. Ian setzte sich an seine Hausaufgaben. Er machte alle, von denen er wusste. Freya spürte, wie das Bett wackelte, als er sich hineinlegte. Nach fünf Minuten flüsterte sie: „Ian?“

      Doch er schlief schon. Freya hatte die ganze Zeit Angst wieder ins Bett zu machen. Bis zum Weckerklingen, verlor sie sie nicht.

      Dementsprechend lange rieb sie sich am Dienstag den Schlaf aus den Augen. Während Frau Rhemberg die Sachkundedeckblätter kontrollierte, kämpfte Freya gegen ein Gähnen an. Sie dachte mit Mitleid an die Kinder mit viel weiteren Schulweg. Von den Civelekzwillingen, Dilan und Ridvan, die im August schon Neun geworden waren, wusste sie, dass sie einen ewig langen Schulweg hatten. Freya kannte den Stadtteil, den sie einmal erwähnten, gar nicht. Nach dem Klingeln war das Hausaufgabenheft schon wieder gut gefüllt. Auf dem Pausenhof entdeckten die Schüler zum Schreck aller, dass das Klettergerüst abgesperrt war. Freya verabredete sich deshalb zum Ausgleich mit Patrick. Am Nachmittag wollten sie Verstecken spielen. Doch bis dahin würde es noch seine Zeit dauern, selbst wenn man die Hausaufgaben nicht mitrechnete. Denn am Dienstag hatte Freyas 3a sechs Stunden, Unterricht bis 13:25 Uhr. Freya wollte sich gar nicht ausmalen, wann die Civelekzwillinge da zuhause sein würde.

      Um 12:15 Uhr, fünf Minuten vor Ende der Kunststunde, wollte sie Ridvan danach fragen. Sie brachten gerade ihre Graphiken vor an den Lehrertisch. Dort standen sie in einer Reihe, mussten sie, sollten sie. Es war eine bananige Reihe. Freya tippte Ridvan auf die Schulter, als Frau Kolter laut rief: „Was ist denn das?“

      Sie zeigte mit ihrem verhüllten Finger, Frau Kolter bestand, bis auf den Kopf, quasi nur aus Tüchern unterschiedlicher Farbe und Größe, man konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass etwas davon eine Hose war, auf das Blatt von Amalie.

      Freya fand, dass Amalie den schönsten Namen der ganzen Klasse hatte. Amalie La Pureté. Amalie konnte Französisch und Deutsch. Ihre Eltern kamen aus Frankreich, genauer Strasbourg. Ian hatte ihr das in dem alten Atlas gezeigt, den er aus dem Bücherraum geholt hatte. Ian kannte sehr viele Städte. Freya hatte sich dann auch den Atlas durchgelesen. Sie hatte nicht so viele Bücher Zuhause, da nahm sie einfach, was sie in die Hand bekam. Ian kannte die Städte vom Fußball. Letztes Jahr hatten sie die europäischen Hauptstädte durchgenommen. Das war für ihn am einfachsten gewesen. Schließlich hatte, mit Ausnahme von Deutschland, jedes Land ein großes Hauptstadtteam. In der siebten Klasse standen die Länder Süd- und Nordamerikas auf dem Lehrplan. Südamerika würde ganz leicht für Ian werden. Aber Frau Kolter schimpfte mit Amalie nicht wegen mangelnder Geographiekenntnisse, sondern weil sie auf ihrer Graphik einen Kugelschreiber verwendet hatte.

      Frau Kolter meinte: „Dass ich dir dafür eigentlich eine Sechs geben muss.“

      Eine Sechs; für so viele Jahre würden die kleinen Schüler Angst vor dieser Zahl haben. Eine Sechs reihte sich neben dem schwarzen Mann, Spinnen und Stromschläge durch das Drachensteigenlassen ein.

      Amalie wollte keine Sechs, sie weinte, stotterte, die Kinder hinter ihr wussten nicht so recht, was sie machen sollten. Marat meldete sich.

      „Ich bin der Meinung, dass ich das auch ganz klar gesagt habe. Klipp und klar. Bei einer Graphik benutzt man nur Bleistifte. Ich weiß nicht, wie ich das hier bewerten soll.“

      Marat meldete sich immer noch. Leider konnte Amalies Banknachbar nicht schnipsen.

      „Amalie, sagst du mir, wie ich das bewerten soll? Du hast ja offensichtlich die Aufgabe nicht erfüllt. Was meinst du dazu, Amalie?“

      Freya kannte das von ihrer Mutter. Sie fragte auch immer nach, obwohl man gar keine Antwort hatte. Weil die Fragen auch wie Perlen einer Kette aneinandergereiht wurden (eine ziemlich lange Kette), wusste man nie, was man antworten sollte, man hatte noch nicht einmal Zeit zum Nachdenken.

      Marat trat vor zum Lehrertisch.

      „Frau Kolter, das waren sie. Sie haben mit dem Kuli drauf gemalt.“

      ,,Also erstes Marat, man meldet sich, wenn man etwas sagen möchte, zweitens malen wir hier nicht, wir zeichnen und drittens, ist eine der Klassenregeln wie? Marat, wie ist eine der Klassenregeln? Kannst du das lesen? Schau mal zu den Regeln. Dort an der Pinnwand. Marat, was steht da? Genau, wir werden nicht lügen!“

      Dann drehte sich die Kunstlehrerin wieder zu Amalie, die mittlerweile die kleinen Tränen wegwischte. Sie sagte: „Ich nehme das mal mit und schaue, ob ich dir nicht doch noch irgendwie helfen kann.“

      Danach endete der Kunstunterricht. Doch bevor die Schüler ihre Ethiksachen aus den Ranzen holen konnten, mussten sie ihre Stifte wieder einsammeln. Frau Kolter ging nämlich von Tisch zu Tisch, nahm einen Bleistift von einem Kind und brachte ihn zu einem anderen. „Ist das deiner?“, fragte Neslihan. Freya war gerade zu ihrem Platz zurückgekommen. Neslihan hielt ihr einen gelben Kugelschreiber mit Drehkappe vor die Nase. Neslihan wusste von Freya, dass sie nicht immer die passenden Stifte hatte. Nicht immer die Stifte, die sie benutzen sollten. Sie durften keine Kugelschreiber verwenden, aber Freya hatte manchmal keine Patronen für ihren Füller. Dann blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem zerkratzte ihr Füller das Papier. Egal ob es kariert oder liniert war. Eine Feder war kaputt.

      Doch Freya schüttelte den Kopf, sie hatte einen Bleistift benutzt. Doch jetzt im Ethikunterricht bräuchte sie eigentlich einen Kugelschreiber. Obwohl er nicht ihr gehörte, war sie versucht ihn trotzdem zu nehmen. Doch ihr schlechtes Gewissen meldete sich, schließlich vermisste ein Schüler der 3a diesen Stift. Sie konnte ihn nicht einfach nehmen. Hoffentlich war er noch im Raum. Frau Kolter und ein paar andere hatten das Zimmer 205 schon verlassen. Manche gingen in den Religionsraum und andere auf den Hof. Alle mussten auf den Hof, doch manche hatten es eiliger als andere. Neslihan fragte laut, wessen Kuli das sei. Doch niemand rief: „Meiner!“ Deshalb legt Neslihan ihn in das Gummifach des Tisches. Dann gingen sie auf den Hof. Nur ein paar Jungs blieben drin.

      Freya, Neslihan und John liefen auf dem Pausenhof herum. Niemand von ihnen war Essenskind. Das hieß, alle drei nahmen Brotbüchsen mit und hatten keine Essensmarken für die Mensa. Patrick hingegen schon. Die Pause war sehr langweilig, schließlich war das Klettergerüst abgesperrt. Es gab einen Plastikball, aber den musste man sich beim Schulleiter abholen. Das traute sich niemand. Außerdem musste man dafür geradestehen, wenn der Ball weg war. Das wollte niemand. So ein Plastikball flog gerne mal weit und unkontrolliert weg, auch über den Zaun. Über den Zaun durfte niemand. Also verging die Hofpause ohne bemerkenswerte Ereignisse. Als es läutete schaute Freya durch die Gitter, sie versuchte Ian auf dem anderen Schulhof zu erspähen, doch da waren zu viele Schüler.

      Freya und Neslihan gingen wieder in das Klassenzimmer 205. John musste in einen anderen Raum. Er hatte Religion statt Ethik. Freya wusste nicht genau, wie das funktionierte. Sie hatte Ethik seit der ersten Klasse. Sie wusste noch nicht einmal, dass man sich das aussuchen durfte und wenn, dann hätte das auch nicht viel geändert. Ihre Eltern trafen die Entscheidungen. Es schien allerdings keine Entscheidung zu sein, die in einer Steintafel gemeißelt war, zumindest bei anderen Eltern nicht. Denn die Besetzung der Religionsklasse änderte sich wöchentlich.

      Freya sah, dass die anderen Jungs im Raum geblieben waren. Wie hatten sie das angestellt? Es wurde doch immer kontrolliert?

      Der