„Ey, du steckst mich ja noch an“, scherzte er, als Freya ihn umarmte.
Er ging schnell in Bad und aß danach mit Freya Toast. Getoastetes Toast. Das war ihr Geheimnis, das mussten die Eltern nicht erfahren.
Es war ein besonderer Tag und der Toaster blieb intakt. Alhamdulillah
Freya protestierte, doch Ian bestand darauf. Sie sollte sich eine Strickjacke anziehen und ein Halstuch. „Wenn es zu warm wird, kannst du das ja immer noch ausziehen.“
Vom Kleinhauerweg, bis zum Schwanenteich, bis zur Teutebergstraße, war es nicht weit. Die Teutschwitzkinder waren es gewohnt zu laufen. Aber ähnlich wie Ridvan und Dilan, verzögerte auch Freya das Vorankommen. Sie war sehr neugierig, sehr aufgeweckt. Sie ließ ihre Augen von einem Haus zum anderen, von einem Auto zu einem Passanten rasen. Sie stellte Ian viele Fragen. Nicht auf alle hatte er eine Antwort. Er hielt Freya für sehr schlau, schlauer als sich selbst. Sie hatte ihre Schulbücher, die Schulbücher von Ian und den Atlas zweimal gelesen. Sie las sehr gerne, das wusste Ian. Deshalb gingen sie auch in die Teutebergstraße. Dort hatte er nämlich etwas entdeckt.
In ein paar Wochen konnte Ian für Freya Bücher aus dem Bücherraum klauen. Er verstand nicht so ganz, weshalb es ihr Freude machte Goethe, Schiller und Willhelm-Hauff zu lesen, aber das war ja nicht sein Bier, nicht sein Brot, nicht sein Toast. Ihr sollte es Spaß machen. Wenn sie sich freute, freute er sich mit. Aber es würde eben noch ein paar Wochen dauern. Nach den Ferien wurde der Raum noch zu oft benutzt. Es wurden noch Bücher ausgetauscht, denn viele Eltern waren nicht damit einverstanden, dass ihr Kind Schimmel auf dem Mathebuch hatte. Außerdem wurden die ersten Pflichtlektüren verteilt. Ian würde in diesem Jahr nur ein Buch lesen. Lessings Nathan der Weise. Ansonsten würden sie nur Grammatik behandeln. Frau Lärmer-Nilmarch war in den Genitiv und in Partizippronomen verliebt.
Freya hatte Lessing schon gelesen. Sie erzählte Ian, um was es ging.
Als sie in der Teutebergstraße ankamen, zeigte Ian ihr, was er entdeckt hatte. Die Telefonzelle war umgestaltet worden. Holzbretter waren angeschraubt. Auf dem Boden standen Pappkisten. Die Tür zierte ein Schild mit der Aufschrift „Nimm ein Buch, gib ein Buch“.
Freya strahlte, bis sie realisierte, dass sie gar kein Buch dabeihatten. Aus einem der Fenster der Mehrfamilienhäuser schaute wieder die Oma. Ian zog ein Fußballheft aus seiner Hosentasche hervor. Es hatte nur A5-Format und lag mal irgendwo bei. 300.000 € hatte der Rechtsverteidiger gekostet. Wie viele Bücher man davon hätte kaufen können. Locker genug, um Freya für ein Jahr zu beschäftigen.
Ian hatte kein Gefühl für so viel Geld. 300.000 € waren für ihn so viel wie eine Million. Unerreichbar. Er hatte schon keine Ahnung, wie er Kalina die fünfzehn Euro für die Prepaidkarte zurückzahlen sollte. Die Jungs, die auf dem Schulhof das Gras und das andere Zeug vertickten, die hatten bestimmt genug für ein ganzes Handy. Das war ihm aber zu heikel. Außerdem gehörte alles was mit Drogen zu tun hatte den Türken.
Für Ian war das klar. Das waren alles Türken, egal was auf ihren Pass stand.
Und mit den Clans wollte er nichts zu tun haben. Mit Türken wollte er nichts zu tun haben. Mit Drogen wollte er erst recht nichts zu tun haben.
Denn Deutsche nehmen keine Drogen. Kralles Worte.
„Such dir ein Buch aus“, sagte Ian und Freya zog sofort eins heraus. Es handelte sich um ein Jugendbuch.
„Theodor Tatze reist an den Nordpol“ von Lars Dietjes.
Freya war noch ein Kind. Das sah Ian wieder. Er war froh, dass es so war. Er war froh, dass sie viel zuhause saß und Bücher las. Die Eltern waren ja eh nicht da. Ian wollte nicht, dass sie wie er draußen herumturnte. Nicht, weil er dachte, dass Mädchen nicht draußen sein sollten, sondern weil er wusste, wie sie draußen behandelt wurden. Er hatte die Blicke von Kralle gesehen. Er wusste, wie er über Mädchen sprach. Er hatte auch Lenas Blicke gesehen. Doch er hatte nicht aufs Sarahs Brüste geschaut. Und selbst wenn er das getan hätte, dann hätte er sie nicht wahrgenommen. Sie wären Luft für ihn gewesen, denn er war mit Lena zusammen. Auch wenn es niemand ausgesprochen hat. Und er war verknallt in sie.
Und Deutsch sein, heißt treu sein.
… Theodor Tatze schnurrte zustimmend. Was Willibert der Wal sagte, ergab Sinn. Er bräuchte eine Jacke und er bräuchte Handschuhe für seine Pfoten. Am Nordpol würde es bitterkalt werden. Theodor Tatze fror leicht. Er war kein Streuner. Deshalb wollte er an den Nordpol. Er wollte sich selbst etwas beweisen. Und er hatte es versprochen. Und Versprechen muss man halten. Versprochen ist versprochen und wird nie gebrochen. Theodor Tatze hatte es seiner Freundin Hanna versprochen. Hanna war eine Streunerin. Sie hatte ihm gezeigt, wie man fliegen lernt …
Freya mochte es, ihrem Bruder vorzulesen. Am Anfang war sie ganz aufgeregt. Schließlich brach man nicht aller Tage in ein Haus ein. Doch nachdem Ian ihr durch das Fenster geholfen hatte und ihr Versprechen abnahm, sich immer an ihm festzuhalten, während sie auf dem Dach hockten, entspannte sie sich. Das leerstehende Haus war verlassen. Adem und seine Cousins waren nicht da. Das Haus war aus der Zeit gefallen. Es würde noch stehen, wenn Glasbüros Felder zu Häuserschluchten machen. Herberge zweier, die vom ersten bis zum letzten Namenstag vergiftet waren. Als Freya die ersten Zeilen las, war sie voll in der Welt des Theodors. Sie vergaß auch ihre Enttäuschung. Ian und sie waren zu dem Tierheim über den Hügel gegangen. Sie hatten nicht damit gerechnet, einen Hund streicheln zu dürfen. Sie wollten nur schauen, doch trotzdem wurden sie verjagt. Freya vergaß, dass sie heute noch in die Wohnung zurückmussten. Hier oben auf dem Dach, mit dem Blick auf die Felder und die Baumgruppe schien Paulmander ein schöner Ort zu sein. Ian hörte ihr zu. Er vergaß nichts. Auch nicht, dass er 16:55 Uhr sein Handy rausholen musste. Er hatte es Lena schließlich versprochen.
Und Versprechen hält man ein. Es gehört sich so.
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