„Was machst du hier?“, fragte die Person neben Ian. Der schaute noch nicht hoch.
„Hallo, ich rede mit dir!“ Ian wurde auf die Schulter getippt.
Herr Schröder konnte froh sein, dass Ian kein verwöhnter Gymnasiumsbengel war, dessen Eltern wutentbrannt am nächsten Tag bei ihm anrufen würden, um etwas von „körperlicher Züchtigung“ zu faseln. Auf der Mycathie-Akihi-Realschule waren es vielleicht zehn Prozent der Schüler, die länger als fünf Minuten mit ihren Eltern über die Schule redeten. Ian und Freya Teutschwitz waren normal. Sie gehörten zu der Mehrheit.
„Ich schreib mir nur schnell den Stundenplan ab.“
„Dafür hattest du zuhause genug Zeit. Jetzt ist erst einmal Pause.“
„Ja gleich. Bin gleich fertig“, sagte Ian und trug ein, dass die erste Stunde am Freitag Deutsch im Raum 401 sein würde.
„Ich glaub, ich höre wohl nicht richtig.“
„Gleeeeich“, sagte Ian genervt. Er schaute dem jungen Lehrer ins Gesicht. Rechts hinterm Ohr baumelte ein Rattenschwanz, an dem komische bunte Kullern hingen. Bis auf seinen Sportlehrer verachtete Ian sie alle. Für ihn waren Lehrer in erster Linie Menschen, die sich einen draufabwichsten, Liebesbriefe von Jugendlichen laut vorzulesen. Aber vor den neuen Lehrern hatte er nicht das Mindestmaß an Respekt. Er verstand auch nicht, warum es eine Einstellungsvoraussetzung zu sein schien, komische Haare oder Freizeitaktivitäten zu haben. Letztes Jahr hatte er zwei Referendare gehabt. Die eine war weißer als Tania und trug Dreadlocks, war 1,50 Meter groß, trank ihren Tee aus einem braunen Gefäß, in welches sie immer wieder heißes Wasser aus einer Thermoskanne goss und sie bestand darauf, zu Stundenbeginn den Zeigefinger auf die Lippen zu legen, während sie mit der freien Hand Hitler grüßte und von fünf runter zählte. Der andere Referendar hatte aus irgendeinem, nicht erkenntlichen Grund zwei Zöpfe und jeden Tag ein schwarzes Hemd mit verkehrt herum angebrachten Hufeisen an, bei dem der Knopf sich am Bauch schon lange verabschiedet hatte. Er hatte den Schülern der 6a damals erzählt, dass sein Hobby Stockkampf war und er an Wettbewerben teilnahm.
Ian kannte Leute, die auf dem Schulhof mit Gras dealten, er hatte Freunde, die in der Partei waren und jeden Monat vor der U-Bahnstation Rechtsrock-CDs verteilten. Wie zur Hölle kamen Lehrer auf die Idee, dass sie mit Rattenschwänzen, Kräutertee und nach unten offenen Hufeisenhemden Autorität ausstrahlen könnten? Herr Schröder war ja noch nicht einmal größer als Ian. Na gut, vielleicht einen halben Kopf, aber das war es auch schon.
„Du verrätst mir jetzt bitte deinen Namen“, sagte Herr Schröder. Man merkte, wie er in seinem Kopf nach den Lektionen suchte, die es für den Umgang mit Störenfrieden und Rabauken gab.
Ian klappt sein neues Hausaufgabenheft zu und ging mit den Worten „Jetzt ist erstmal Pause“ auf den Hof. Er horchte, ob Herr Schröder ihn folgte, doch der junge Lehrer ahnte, dass er sich lächerlich machen würde.
Die Bauweise des Schulgebäudes ließ keine andere als eine rechteckige Form des Pausenhofes zu. An den zwei länglichen Seiten waren ebene Eingänge. An den Stirnseiten gab es kleine Podeste, auf denen jeweils ein Lehrer die Aufsicht hatte. Ein dritter Lehrer ging über die asphaltierte Fläche. Wenn die Schüler zu derb Fangen spielten, schritt er ein. Denn lange Leinen können sich um Beine wickeln. Und da die meisten Lehrer alt waren und Wasserknöchel hatten, wollte das niemand. Auf dem gesamten Schulhof gab es keinen Basketballkorb, keine Springfelder aus Kreide und keine Tischtennisplatte. Nicht ein einziger Baum wuchs auf der Fläche. Der einzige Blickfang waren die aufgemalten weißen Linien, gedacht für die Fahrradführerscheinstunden. Die wurden allerdings nur von den Grundschülern genutzt. An der einen Ecke, unter der die Mensa lag, war der innere Gang unterbrochen und ein Metalltor, das schwer den Eindruck von Knast und Gitterstäben machte, versperrte den Weg zur Grundschule und deren Schulhof. Manchmal kamen die Kinder rüber und fuhren eine Viertelstunde mit dem Rad. Wenn man aus den Fenstern schaute, konnte man manchmal einen kleinen Jungen sehen, der, da er immer wieder über den Lenker seines Fahrrades flog, einen Fußgänger spielen musste.
In den großen Pausen der Akihi-Realschule, die nach der zweiten, der vierten und der fünften Stunde stattfanden, wurden die Linien nur von den Kindern genutzt, die keine Freunde hatten und ihre Zeit alleine verbringen mussten. Es war unglaublich demütigend. Auf diesem Pausenhof gab es keinerlei Versteckmöglichkeiten und ihr Außenseitersein wurde zur Schau gestellt. Die, die nicht allein waren, standen in Kreisen und warteten. Ian lief an ein paar Gruppen seiner Klassenkameraden vorbei und stellte sich nahe des Tores zu SS-Sveni. Im Kreis standen noch Kralle aus der Achten, Riccardas Schwester, die der Atombusigen in Nichts nachstand, sowie Manuel Hunsieg und Carlo Schikowski, die beide in die neunte Klasse gingen und dieses Jahr ihren Hauptschulabschluss machen würden. Riccardas Schwester hatte sie gefragt, was sie nach dem Ende des Schuljahres machen wollten. Manuel plante in einer Gärtnerei anzufangen. Seine Eltern wohnten ganz im Süden von Paulmander. Sie teilten sich mit einer anderen Familie einen bunt bepflanzten Garten, den Manuel liebte. Carlos Ziel hatte im weitesten Sinne etwas mit Ausländer verprügeln zu tun. Carlo war einer von den gefährlichen Hunden, die bellen und beißen. Kralle gefiel das. Er konnte jedes Lied der ausgeteilten CD´s auswendig. Auch die Parteireden zwischendurch hatte er sich angehört. Kralle laberte etwas von einer Umvolkung. Riccardas Schwester nickte, während sie sich umdrehte und auf den Schulhof schaute. Tatsächlich waren nur wenige weiß. Die meisten waren braun. Viele von außen und ein paar von innen. Das konnte allerdings auch an der Sonne liegen, die den ganzen Sommer schon gebrannt hatte und auch jetzt den Schulhof erhellte. Kurz bevor es klingelte, setzten sich die Schülergruppen schon in Bewegung. Als es tatsächlich klingelte, schaute Ian durch die Gitterstäbe.
Auf dem Schulhof der Grundschule durfte noch Hasche gespielt werden. Es wurde nicht unterteilt.
Freya war zwar bewusst, dass ihr Papa Neslihan und John undufte finden würde, doch sie mochte sie. Zusammen mit Patrick waren sie ihre besten Freunde. Die Tuhlmspatz-Grundschule-Schaldstätten besaß nur einen Eingang. Dieser führte in einen bogenförmigen Flur. Wenn man nach rechts ging, kam man in das große Treppenhaus. In der Mitte gab es einen Fahrstuhl. Die Treppen schlängelte sich in vier breiten Abschnitten um den Schacht herum nach oben in die zweite Etage. Wenn man die Stufen hinunterstieg, konnte man in die Mensa gelangen. Auf der anderen Seite des Bogens fand man die Werkenräume. Zwischen den Enden waren Klassenzimmer für derzeit neun Klassen. Außerdem gab es noch einen Raum für den Hort.
Freyas Klassenzimmer war im zweiten Stock. An der Tür hing ein kleiner Zettel mit dem Aufdruck einer Sonne, die verriet, dass es sich um den Raum 205 handelte. Aus einem Regenbogenbogen war eine „3“ und ein kleines „A“ herausgeschnitten und neben die Sonne geklebt worden. Freya ließ Neslihan den Vortritt. Sie setzte sich dann in die Mitte der Fensterreihe. Vor ihr waren zwei Tische, dahinter auch. Neben ihr saß der kleine Patrick, der seit der ersten Klasse nicht mehr zu wachsen schien. Der Metallkorb unter seinem Tisch war voll mit Blättern. An der Spitze des braunen Tisches lag eine kleine Einkerbung, die mit Gummi ausgelegt war. In ihr lagen zwei angefangene Klebestifte und ein abgebrochener Füller. Die Drittklässler hatten heute die ersten beiden Stunden Deutsch mit Frau Rhemberg gehabt. Sie unterrichtete sie auch in Sachkunde, das stand jetzt auf dem Stundenplan. Sie war zugleich ihre Klassenlehrerin. Die Schulglocke ertönte. Alle Schüler schlugen ihre gelben Hefter auf. Die meisten schafften das alleine. Nur Sefa in der letzten Reihe brauchte etwas Hilfe. Hinter ihm saß ein Mann. Freya wusste, dass er kein Lehrer war, sie aber trotzdem auf ihn hören sollten, wenn er etwas sagte. Dieser Mann passte auf Sefa auf. Auch dass er seine Hausaufgaben und so was machte. Dafür gab es eigentlich die Hausaufgabenhilfe. Nach der Schule war die. Im Hort. Doch Sefa braucht noch mehr Hilfe. Denn wenn er etwas nicht konnte, wurde er schnell sauer. Dann stand er auf und schrie. Einmal hatte er die Kunstbox seiner Sitznachbarin Selen durch den Raum geworfen und dabei den Wasserbecher von Lotte schräg gegenüber getroffen. Ein anderes Mal, erinnerte sich Freya, hatte er im Sportunterricht seine Hose ausgezogen und gegen die Holzbank gepinkelt, weil seine Mannschaft beim „Ball unters Netz“-spielen verloren hatten. Am Anfang hatten ein paar gekichert, dann fanden