Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
Скачать книгу
das Spiel dann auch fast vorbei. Sie spielten noch gegen Karims Team und gewannen dieses Spiel. Sie belegten den ersten Platz. In der Umkleide beeilte sich Erol. Er war sich nicht sicher, ob es Ärger geben würde und wenn, dann wollte er damit nichts zu tun haben. Adem redete zwar laut, aber er ging nicht zu Ian rüber. Erol wusste gar nicht mehr, weshalb die beiden sich so sehr hassten. Es war nicht so, dass es sich um einen Machtkampf handelte. Bei Ian konnte man schon von einem Klassenking reden. Das lag auch daran, dass er bei den Mädchen sehr beliebt war. So etwas brachte immer Pluspunkte. Außerdem machten Alex, Schlagmann, Franz und Sveni alles was er sagte. Aber Adem? Der hatte nun wirklich nicht den großen Rückhalt. Wenn Erol Adems Stellung mit seinem Fußballmanagerspiel vergleichen sollte, würde er sagen, dass Adem ein einflussreicher Schüler war. Ian war ein Anführer. Nicht direkt für ihn, nicht für die Nichtdeutschen, wie Ian selbst sagen würde. Doch die Mädchen mochten ihn wirklich sehr, Erol wusste, dass das allein schon Ansehen bedeutete. Adem und Ian konnten sich also wirklich nicht um einen imaginären Thron streiten. Vielleicht lag es an Lena. Erol wusste, dass Adem Lena hübsch fand. Aber wer tat das nicht? Trotzdem dachte Erol nicht, dass das ein Grund wäre. Für Jungs wie Erol und Adem war Lena unerreichbar. Lena war eines der Mädchen, die ein eigenes Zimmer hatten, sogar mit eigenem Schlüssel. Wenn ihr Vater erfahren würde, dass Lena etwas mit einem Ausländer anfangen würde, dann wäre er auf hundertachtzig. Selbst für Erol, der bis auf die schwarzen Haare und dem Bart, nichts mit dem stereotypischen „Kanak“ zu tun hatte, war klar, dass sich Lena in einer ganz anderen Liga befand. Wenn er seinen Fußballmanager als Maßstab nahm, würde er sagen Europapokalfinale und Vorausscheid Toto-Cup. Das waren einfach zwei Welten, die nur im Klassenraum aneinander kratzten. Als Erol sah, wie Adem wartete, dass Ian aus der Umkleide ging, musste er sich ein Grinsen verkneifen. Denn erst danach beleidigte er ihn. Adem war vor Kurzem aus dem „Schneiders MMA-Gym“ geflogen. Dass war ein Paulmanderer Kampfsportverein, der ein sehr hohes Ansehen genoss, da er sich für die Flüchtlingshilfe, für Obdachlose und andere soziale Projekte einsetzte. Dem Besitzer war ein soziales Miteinander extrem wichtig. Lange vor Erols Zeit, da gehörte Paulmander noch gar nicht zu Schaldstätten, war der Besitzer ein überregional bekannter Boxer gewesen. Seine verstorbene Frau hatte mit ihm das Gym aufgemacht. Adem behauptete er sei freiwillig gegangen, da das alles Nieten seien. Erol wusste allerdings, dass Adem rausgeflogen war, weil er immer nur auf Kopfjagd ging und das, obwohl Dreizehnjährige natürlich nur mit Schutzausrüstung sparren, wenn sie überhaupt Sparring machten. Außerdem hatte er sich an keinerlei Regeln gehalten. In dem Dorf, in dem Erol wohnte, arbeitete jemand in dem Gym, daher wusste er das.

      Und obwohl Adem dieses Aggressionspotenzial besaß, legte er sich nicht mit Ian an. Zwar hatte in dieser Umkleide beinahe jeder mindestens zehn Cousins und Brüder, doch von Ian wusste man, dass er ein paar ominöse Gestalten kannte. In dem albernen Mikrokosmos eines Siebtklässlers, war Ian jemand, mit dem man sich nicht anlegen sollte. Zumal Paulmander auch einer der Stadtteile war, in denen Deutsche in der Mehrheit waren. Erol wollte damit wirklich nichts zu tun haben.

      Vor der Tür der Turnhalle wartete Elen Civelek auf Erol. Die beiden Zwillinge standen neben ihr. Sie waren Nachbarn. Ridvan und Dilan hatten zwar schon vor einer Stunde Schluss gehabt, doch der Zug fuhr nur aller zwei Stunden. Zu viert gingen sie runter in die U-Bahnstation „Paulmander Ring“.

      „Frau Gumny hat heute schon wieder die Balkongeschichte erzählt“, berichtete Elen, als sie die lange Rolltreppe runterfuhren. Obwohl Paulmander so weit draußen lag, war die U-Bahnlinie so weit unten, dass einem beim Hinabschauen fast schwindelig wurde.

      Die Zwillinge fragten nach der Geschichte und Elen erzählte sie erneut, genauso, wie Frau Gumny Geschichten mehrere Male erzählte. Frau Gumnys Art Sport zu Lehren war Elen ganz recht. So wie den meisten anderen Mädchen auch. Elen mochte keinen Sport und viele Mädchen ersparten sich so die Diskussionen mit ihren Eltern, da sie keinen Sport machen durften.

      In der U-Bahn saßen die Zwillinge nebeneinander. Elen saß neben Erol. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie kontrolliert wurden. Es war nicht so, dass sie mittlerweile daran gewöhnt waren. Es war schon immer so gewesen. Sie kannten es nicht anders.

      Du bist Ausländer? Na, dann zeig mal deine Fahrkarte. Keine Bitte. Ist die Karte gefälscht? Bist du das wirklich auf dem Bild? Ihr seht doch alle gleich aus. Hier Manfred, komm mal her. Zügig, zack, zack.

      Mit Deutsch, Englisch und Geschichte hatten Elen und Erol wenig Schulzeug in ihren Ranzen. Elen nahm ihn an ihre Brust, verdeckte damit ein bisschen den Bauch. In letzter Zeit war sie unsicherer geworden. Erol fand nicht, dass sie dick war. Sie war nett, das war das Problem. Es gab in der Klasse dickere Mädchen, doch die waren nicht so nett, sie hatten Selbstvertrauen und stachen lieber zu als auszuweichen. Erol war auch nett, aber schlank. Er wurde nicht geärgert. Es gab nur einen Nachteil für ihn; die Mädchen mochten keine netten Kerle.

      Erol mochte Lena und die mochte Ian, welcher bekanntermaßen ein Arschloch aller erster Güte war. Bei Ian nervte ihn am meisten die Tatsache, dass er trotz seiner beschissenen Art so gute Noten schrieb. Erol lernte viel, deshalb fand er es im Moment auch nicht so schlimm, dass er für die meisten Mädchen nur ein sehr guter Freund war, denn er hätte gar keine Zeit für eine Beziehung gehabt. Seine Worte. Und obwohl Erol viel lernte, waren seine Noten nur marginal besser als Ians. Zum Kotzen war das alles.

      Daran dachte er, während er für eine ältere Dame Platz machte, die gerade einstieg. Am „Bokettoberg“ stiegen viele Menschen aus und ein. Aber nicht um diese Uhrzeit. Es war auch noch genug Platz in der Bahn. Aber Erol hatte gelernt, dass deutsche Omas nur darauf warteten kleine Ausländer anzuschnauzen. Er wollte ihr keine Gelegenheit dazu geben. Die Oma bedankte sich nur mit einem ganz kurzen Nicken. Wahrscheinlich wähnte sie sich im Recht und hielt es für eine generöse Geste ihrerseits.

      Erol regte sich nicht darüber auf. Nicht mehr. Nett sein ersparte viel Ärger. Er stand an der Tür und schaute raus. Die Haltestelle löste sich auf. Die Bahn fuhr in den Tunnel. Die Fliesen, Bänke, Informationstafeln und der Kiosk verschwanden. „Bokettoberg“ war eine Baustelle. Die silberne Isolierfolie ließ den Bahnsteig spacig und futuristisch aussehen. Erol fand es toll, sah gut aus, hätte man so lassen können. Doch er wusste, dass eine Künstlerin den Bahnhof umgestaltete. Seiner Meinung nach würden es nur grüne Striche werden. Er kannte den Entwurf. An den kleinen Bildschirmen in der U-Bahn wurde er schon oft gezeigt. Die grünen Striche bildeten ein Kunstwerk, das hier in Schaldstätten ausgezeichnet wurde. Der Bürgermeister hatte es von der Künstlerin ersteigert. Der weibliche Künstler hatte den Erlös einem gemeinnützigen Verein gespendet, der Fixerräume am Hauptbahnhof organisierte. Das fand Erol nett von der Künstlerin.

      Die U6 hielt gerade in „Paulmander Nord“, Endstation, lag nicht so tief wie der „Paulmander Ring“. Die Sonne schien durch die Treppenschächte auf den Bahnsteig. Beim Hochlaufen rutschte Ridvan der Ranzen von der linken Schulter. Erol zog die Schlaufe wieder fest. Sie mussten nun noch fünf Minuten bis zum Nordbahnhof laufen. Dort fuhr ihr Zug.

      Was Erol blöd fand, war, dass der Bürgermeister Sahin für 300.000 € ein Gemälde ersteigert hatte, um es in seinem Büro aufzuhängen. Weil die Künstlerin in Schaldstätten unbeliebt war, hatten ihm das viele Wähler übelgenommen. Westlich des großen Flusses, noch hinter Weselsheim und dem Stadtzentrum, irgendwo an einer Haltestelle der U1 In Kleinsbeck, hatte die Künstlerin schon einmal eine U-Bahnstation designt. Zusammen mit dem örtlichen Fußballverein, der nur in der Regionalliga spielte, was für eine Millionenstadt wie Schaldstätten eine Blamage sondergleichen war, gab es eine große Eröffnungszeremonie. Der Verein veröffentlichte sein neues Trikot, welches er zur nächsten Saison tragen wollte. Über die Brust zog sich jenes Muster, welches die Künstlerin entworfen hatte und auch an den Wänden der U1-Station zu sehen war. Allerdings hatte sie nur bedingt die Nutzung erlaubt. Es gab einen Rechtsstreit, den die Künstlerin gewann. Der Verein musste ihr 300.000 € zahlen. Deshalb waren sie gezwungen ihren Rechtsverteidiger zu verkaufen. Damals 21 Jahre alt, beidfüßig und kam aus der eigenen Jugend. Er spielte später in der 2. Liga. Sehr variabel einsetzbar. Klassisch in der Viererkette oder als Schienenspieler in einem 3-5-2-System. Bei einer Dreierkette konnte er zur Not auch den rechten Innenverteidiger mimen. Der Verkauf des letzten echten Schaldstätteners hatte ziemlich weh getan.

      Seit dem Verkauf des Stadions spielt der Verein noch