Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
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ein Fahrradständer, an dem eine Gruppe Zehntklässler stand und rauchte. Der Platz vor dem Haupteingang war klein und wurde durch den Bauzaun begrenzt. An der anderen Ecke des Zaunes, führte eine Straße auf den kleinen Platz. Fahrräder und Elterntaxen fuhren dort. Es war schon oft zu kleinen Unfällen gekommen. Die Masse der Wartenden wurde größer und sah von oben aus wie ein Pfeil. Um die Fassade der Schule stand auch ein Bauzaun. In abwechselnden Entfernungen, von fünfzig Zentimetern bis zu zwei Metern. Aus der Plattenfassade der Mycathie-Akihi-Realschule fielen Steine heraus. Es klingelte und die Türen wurden geöffnet. Die Schüler drangen hinein. Die Schule erstreckte sich über vier Etagen und hatte die Bauform eines Rechtecks, in dessen Mitte der Schulhof lag. Treppenaufgänge gab es an den Stirnseiten.

      „Hast du den Stundenplan?“, fragte Ian.

      „Klar, der ist gestern online gegangen“, sagte Alex.

      Weder Ian noch Freya besaßen einen Laptop oder ein Handy.

      „Wo haben wir? Was haben wir?“

      „Deutsch, 401“, antwortete Alex.

      Ian wäre ohne Alex von den ausgehängten Zetteln im Glaskasten abhängig gewesen und vor dem sammelten sich gerade eine Menge Schüler.

      Die Schule hatte Räume auf beiden Seiten, dadurch sahen die Gänge sehr dunkel und eng aus. Eine senfgelbe Farbe sollte das vertuschen. Alex und Ian quetschen sich durch die Ranzenmassen. Matthias, der von den deutschen Jungen nur bei seinen Nachnamen Schlagmann gerufen wurde, traf beim Treppenabsatz zu ihnen. Dass er ein Jahr älter war als die beiden, konnte man nicht erkennen. Die Jungs klatschen ein, rutschen dann mit der Handfläche zu einer Faust und ließen die Finger kurz gegeneinander fallen. Ian ging als erster die Treppe hoch. Oben warteten seine Klassenkameradinnen Vivien und Tania. Die beiden waren seit den Sommerferien beste Freundinnen und erzählten das, als sie Ian zur Begrüßung umarmten. Ian war größer als Schlagmann und Alex. Vor den Sommerferien war auch größer als Vivien gewesen. Sie war mit ihren Eltern in die serbische Heimat gefahren. Dort war sie größer und brauner geworden. Tania war weiterhin klein und weiß wie ein Toastbrot. Dafür schminkte sie sich schon stark. Der rote Lippenstift hob sich deutlich von der hellen, leicht pickligen Haut ab. Tania Jentzsch trug ihre schwarzgefärbten Haare kurz. Nette Menschen würden von einer feschen Kurzhaarfriseur sprechen, die 7a war da deutlich primitiver und sagte „Lesbenfrise“. Vivien trug ihre braunen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz. Die Babyhaare fielen ins lächelnde Gesicht.

      Alex und Schlagmann standen hinter Ian und warteten darauf, ob sie von Vivien und Tania auch umarmt werden würden. Die beiden Mädchen machten aber dahingehend keinerlei Anstalten, sondern gingen die zweite Treppe hoch. Viviens Hose war kurz. Viviens Eltern hatten sie abgenickt. Viviens Eltern liefen allerdings auch nicht hinter ihrer Tochter eine Treppe hoch. Ian hingegen schon. Er versuchte nicht auf die herausfallenden Pobacken zu schauen.

      Letztes Jahr gab es einen großen Streit unter den Mädchen, der sogar im Stuhlkreis diskutiert wurde. Vivien Radokc hatte einen Freund, aus der damaligen achten Klasse und wurde von der Mädelsgruppe um Elen Civelek als Schlampe bezeichnet. Dann gab es eine Phase, in der die deutschen Mädchen, Vivien gehörte als Serbin scheinbar auch dazu, die türkischen Mädchen provozieren wollten, in dem sie sich freizügiger anzogen. Angeblich zumindest. Während Ian an der Tür des Raumes 401 stand und auf den Sitzplan schaute, dachte er an diese Wochen zurück und erinnerte sich, dass er erst etwas davon mitbekommen hatte, als sie im Stuhlkreis saßen.

      Der Sitzplan war gleichgeblieben. In den meisten Räumen waren die Tische zu einem „U“ geformt. Es gab auf beiden Seiten jeweils zwei weitere Tische, die in der Mitte standen. Ian saß in der Wandreihe und Vivien direkt vor ihm, auf einem der mittigen Plätze. Alex saß einen Platz versetzt hinter Vivien in der letzten Reihe und Matthias rechts daneben. Neben Schlagmann saß der schlaksige Franz Timbherg. Sein Adamsapfel tanzte auf Höhe des Kinns. Er saß schon da und begrüßte seine Freunde. Franz hatte den letzten Platz, der einen geraden Blick auf die Tafel zuließ. Ian musste seinen Kopf immer nach rechts drehen, doch er war noch besser dran als seine linke Banknachbarin.

      Das war Lena Kraft. Eingeengt zwischen Ian und Franz saß Lena, die, nach einhelliger Meinung, eines der hübschesten Mädchen aus der Klassenstufe war. Dabei war sie noch eine der Jüngsten und würde erst im Mai dreizehn Jahre alt werden. In der 7a gab es einige Schüler, die sitzen geblieben waren oder schon im Sommer Geburtstag hatten. In den letzten Wochen des vorangegangenen Schuljahres hatte sich eine Beziehung zwischen Ian und Lena angedeutet. Am letzten Schultag hatten sich die beiden geküsst. Für Ian und Lena war es der erste Kuss auf dem Mund des anderen Geschlechts seit dem Kindergarten gewesen. Dementsprechend freudig schaute Ian auf, als die Klassenschönheit durch die Tür trat und sich mit vielen Umarmungen einen Weg durch die Wandreihe freischaufelte. Die blonden Haare hatte sie eng an die Kopfhaut geflochten und zwei Zöpfe hingen in ihrem Nacken. Das weiße Top hatte an den Ärmeln, am Hals und am unteren Rand Elemente aus Spitze. Dazu trug Lena eine braune Stoffhose, die weit über ihren Knöcheln endete.

      Ian wollte seine Coolmanrolle einnehmen, doch er grinste, wie ein Hund, der, nachdem ihm das Halsband abgenommen wurde, schwanzwedelnd im Flur saß und wusste, dass es gleich aus der schwarz-roten Verpackung in der Speisekammer einen Hundekeks geben würde. Entsprechend enttäuscht schaute Ian drein, als Lena an ihm vorbeilief und Franz, Matthias und Alex umarmte.

      Das konnte er nun überhaupt nicht verstehen. Klar, Franz war okay. Franz konnte sie umarmen, die kannten sich auch schon lange und waren auch Sitznachbarn. Aber Schlagmann und Alex? Die wurden nie umarmt und erst recht nicht vor Ian. Doch Lena ignorierte ihn weiter und quetschte sich auf ihren Platz. Die Nähe, die Stuhlbeine berührten sich, nahm der Geste etwas die Wirkung, doch Ian fühlte sich trotzdem schlecht.

      „Is´ was?“, fragte Ian, während er den knarzenden Stuhl zurückzog, um sich auf die zerkratzte und ausgediente Sitzfläche zu fläzen.

      „Nö“, sagte Lena und holte aus ihrer Tasche die Stiftebox und einen Collegeblock heraus. Ihren Ranzen aus dem letzten Jahr hatte sie gegen eine große Umhängetasche mit Reißverschluss eingetauscht. Ian bezweifelte, dass da alle Bücher reinpassen würden und er zweifelte auch an Lenas Antwort.

      „Wir war´n deine Ferien?“

      „Gut.“

      Lena beließ es dabei. Dann kam Frau Lärmer-Nilmarch, die immer nur Frau Lärmer genannt wurde, in den Raum 401, schmiss ihre Ledertasche auf den einzigen gepolsterten Stuhl und legte zeitgleich mit dem Klingeln ihre beringte Hand auf den Lehrertisch.

      Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde trugen die Lehrer an der Akihi-Realschule Namensschilder. Als wäre es nicht schon schwer genug in einer lauten, mit dreißig Schülern übervollen siebten Klasse Autorität auszustrahlen. Das Namensschild ließ die Deutschlehrerin wirklich lächerlich aussehen. Zumal dort auch nur „Frau Lärmer“ stand. Ein Kollege hatte das verbockt. Dabei war es ihr wichtig bei ihrem vollen Namen genannt zu werden. Das erwartete sie auch von ihren Schülern, das Namensschild war da keine große Hilfe. Sie hatte leider auch keine große Stimme, wenn sie lauter werden wollte, überschlug sie sich und das hörte sich sehr albern an. Deshalb hatte Frau Lärmer-Nilmarch sich für eine sehr leise Sprechweise entschieden. Fast flüsternd erklärte sie die ganzen organisatorischen Dinge, die zu Beginn eines neuen Schuljahres geklärt werden mussten. Sie wurde dabei immer wieder vom Klopfen an der Tür unterbrochen. Nach dem dritten Schüler, der zu spät kam und gegen die Tür hämmerte, ließ sie sie einfach offenstehen. Im Raum 401 gab es keine freien Stühle mehr und deshalb wurde der Kartenständer zum Türstopper umfunktioniert. Es waren schon fünfzehn Minuten der Unterrichtszeit verstrichen, als mit Adem der letzte Schüler, durch die nun offene Tür, kam. Letztes Jahr war sein Platz noch in der letzten Reihe gewesen, doch er wurde von Frau Lärmer, die auch gleichzeitig die Klassenlehrerin der 7a war, nach vorne in die Mädchengruppe gesetzt. Wie ein Gockel saß er da, umgeben von Elen, Gülsah, und Aiyln in der Fensterreihe. Jetzt kam Frau Lärmer zum Thema Bücher. Die Klasse wurde in drei Gruppen aufgeteilt und sollte sich die Schulbücher aus dem Bücherraum holen. Die erste Gruppe war die komplette Wandreihe, mit den dazugehörigen mittleren Plätzen. Lena stand schnell auf. Sie wollte vor zur Tür, konnte aber zwischen sich und Ian nur SS-Sveni bringen. SS-Sveni hieß mit Vornamen