In der Küche hing zwar eine Wanduhr, doch Freya half das nicht. Klar es war 7:00 Uhr, das konnte sie schon lesen, doch sie wusste nicht, wie sie es einordnen sollte. Ohne Ian würde sie bestimmt zu spät zur Schule kommen. Er passte auf sie auf. Ian wartete, bis seine kleine Schwester aufgegessen hatte. Nahm dann die Schüsseln und spülte sie ab. Während er mit dem gemusterten Tuch über die Plastik fuhr, schickte er die widerwillige Freya schon ins Bad. Sie wollte sich kein zweites Mal die Zähne putzen. Die Bürste tat weh und die Zahnpasta schmeckte fürchterlich.
In Freyas Grundschule war einmal eine Frau gewesen, die hatte ihnen gezeigt, wie man richtig Zähne putzte. Die Kinder sollten eine farbige Flüssigkeit trinken und erst, wenn alles weg war, hatten sie gut genug geputzt. Die Zahnpasta hatte nach Waldmeister geschmeckt. So eine Tube hätte Freya gern. Sie überlegte schon, ob sie nur so tun sollte, als ob, doch da stand Ian bereits neben ihr.
Wachsam schaute er ihr zu. Dann gingen sie aus dem Bad raus. Ian sprühte noch etwas Parfüm auf sein T-Shirt. Es war das Parfüm des Vaters und Freya rümpfte die Nase. Mittlerweile war es 7:10 Uhr. Ian und Freya zogen sich ihre Schuhe an. Freya brauchte keine Hilfe beim Schleifenbinden. Die Schuhe waren neu, sie hatte sie diese Sommerferien bekommen. Ian hob ihr den Ranzen hoch, dabei war er gar nicht schwer und Freya schlüpfte mit den dünnen Ärmchen durch die Tragelaschen. Die Protektoren am Rücken waren schon leicht zerrissen und faserten so wie der Schwamm aus, doch sie lagen eng an Freyas Oberteil an. Ians Ranzen war ein Rucksack und baumelte weit unten. Zwischen Rucksack und Rücken klaffte eine große Lücke.
„Hast du dein´ Schlüssel?“, fragte Ian. Freya nickte fleißig. Der Schlüssel war an einem langen schwarzen Band mit dem Aufdruck „4. Paulmander Stadtteilfest“ befestigt.
Paulmander war eines der neusten Viertel von Schaldstätten. Es lag ziemlich weit draußen. Um den Bokettoberg mit dem Aussichtsturm und dem Rosengarten, standen Altbauhäuser mit Geschäften. Das alles war vor der Eingemeindung eine eigene Stadt. Um den Berg herum herrschte viel Trubel und es gab zwei große Einkaufscenter. Die Nebenstraßen bestanden zunächst aus größeren Gebäuden und nördlich entstanden Einfamilienhaussiedlungen. Südlich des Bokettoberges erhoben sich Wohnblöcke. Ian konnte sich noch erinnern, wie es zwischen den großen Häusern Felder gegeben hatte. Für Freya war das zu lange her. Mittlerweile wurden auch immer mehr Häuser gebaut, die viel schicker aussahen, als das in dem die Familie Teutschwitz wohnte. Zwei großen Straßen zogen sich wie Halbringe durch Paulmander. An den Seiten des zweiten Ringes standen hauptsächlich Industriebetriebe, die von außen alle gleich weiß aussahen.
Das Haus, aus dessen Glastür Freya und Ian gingen, war grau und bis zur zweiten Etage mit Tags überzogen. Die Steinplatten, die den Gehweg bildeten, waren teilweise lose und Löwenzahn zeigte sich in den Lücken. Die meisten Blüten sahen schon lange nicht mehr gelb aus. Auf einer dieser Steinplatten stand ein Junge, der im selben Haus wohnte und mit Ian in eine Klasse ging. Alex war in diesem August dreizehn Jahre alt geworden. Beide Hände von Alex steckten in einer knallgelben Trainingsjacke. Kleine Fliegen sammelten sich daran. Eigentlich war es so warm, dass man keine Jacken benötigte. Alexanders Haare waren an den Seiten mit Mustern rasiert und oben stachelig nach oben gegelt. Er wartete auf Ians Befehl und die drei marschierten an zwei Hauseingängen vorbei. Vor der 38 blieben sie stehen. Die beiden Jungs schauten fragend zu Freya hinunter.
„Ich habe Patrick in den Sommerferien nicht gesehen. Wir haben uns nichts ausgemacht. Wir müssen nicht warten.“
Patrick Schmidt wohnte im Kleinhauerweg 38 und war Freyas Sitznachbar. Seit der ersten Klasse. In den letzten Sommerferien hatten sie noch viel unternommen. Dieses Jahr nicht. Patrick war am Anfang zwei Wochen nach Kroatien gefahren. Dann war er nicht mehr rübergekommen. Alex nickte mit seinem kantigen Schädel. Alexander hatte ein Gesicht, dass schon sagte: „Wenn du mich haust, tut es eher dir weh als mir.“ Freyas Vater würde von einem Russenschädel sprechen.
Am Ende des Kleinhauerweges bogen die Schüler nach links ab. Für Fahrzeuge war die Straße eine Sackgasse, doch hinter dem letzten Wohnhaus gab es einen kleinen Trampelpfand. Die Stadt hatte die Büsche an den Seiten im Sommer geschnitten und so passten mit Ian und Alex zwei Siebtklässler nebeneinander durch die Schlippe. Freya trottete hinterher. Sie hielt sich an ihrem Ranzen fest. Sie kamen auf den Fußweg des zweiten Ringes raus. Busse und LKW fuhren über den neuen Flüsterasphalt, der die Geräuschkulisse reduzierte. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um auf den Gehweg zu scheinen. Die Industriegebäude auf der rechten Seite warfen ihre Schatten auf die Fußgänger, unter denen sich auch einige andere Schüler befanden. Sie passierten die U-Bahnstation „Paulmander Ring“. Hier fuhr die U6. Es handelte sich um eine der letzten Stationen. Danach kam nur noch der „Bokettoberg“ und „Paulmander Nord“. Die Station hatte zwei Treppen. Eine, die direkt auf den Ring führte und eine andere, die sich hinter der umzäunten Freifläche befand. Die Freifläche war eine der letzten im Viertel. Früher wurde sie als Abenteuerspielplatz genutzt. Es gab zwei große Bäume, die früh in ihrer Wachstumsphase gebrochen worden. Deshalb führte kein gerader Stamm nach oben, sondern viele Kleine. Ein wahres Kletterparadies. Jetzt waren die Bäume gefällt, dafür hatten die Disteln eine ähnliche Höhe, sie boten allerdings erheblich weniger Kletterspaß. Gegenüber der Fläche stand die Mycathie-Akihi-Realschule. Direkt dahinter, die Tuhlmspatz-Grundschule-Schaldstätten.
Der Tuhlmspatz war eine Sagengestalt, schon bekannt, als Paulmander noch ein Dorf war. Den Geschichten nach wohnte er im Fluss Tuhlm, der nördlich des Bokettoberges verlief und im Hafen von Schaldstätten, kurz vor dem monumentalen Glaskino in den großen Fluss floss. Im Winter grub sich der Tuhlmspatz in das Flussbett ein und sorgte so dafür, dass kleine Erdbrocken in das Wasser fielen, deshalb mäanderte der Tuhlm so stark. Die Dorfbewohner wollten das nicht und fragten den Tuhlmspatz, ob er das nicht lassen könnte. Der Tuhlmspatz schlug einen Handel vor. Jedes Jahr zum Erntedankfest sollten ihm jeweils das klügste, das kräftigste und das schönste Kind von Paulmander eine Gabe an sein Heim bringen. Wenn die Kinder das täten, würde er den Tuhlm wieder begradigen. Und so setzten sich die Bewohner jedes Jahr, kurz vor dem Erntedankfest, zusammen und suchten das klügste Kind, sie suchten das schönste Kind und sie suchten das stärkste Kind. Das ging so lange gut, bis eine Familie der Meinung war, ihr Kind sei nicht nur das Schönste, sondern auch das Klügste. Und sie stritten und sagten, schimpften und fluchten. Die anderen Dorfbewohner waren sich nicht sicher, ob der Tuhlmspatz das erlauben würde. Die Älteren waren vehement dagegen. Sie konnten sich noch an die Überschwemmungen und an die mühsame Arbeit an den Uferverläufen erinnern. Jetzt war es viel leichter mit den Flößen in den großen Fluss zu fahren und die Felder waren klar abgegrenzt. Sie wollten es sich nicht mit dem Tuhlmspatz verscherzen und so versuchten sie die Jüngeren zu überzeugen. Doch es gab nicht mehr so viele Alte, die sich noch an die schlingrigen Zeiten erinnern konnten. Die Jungen waren in der Überzahl und die Jungen hielten es für normal, dass alles gerade lief. Die Meisten von ihnen glaubten noch nicht einmal, dass es den Tuhlmspatz wirklich gab, deshalb ließen sie es zu, dass ein Kind zugleich das Schönste und das Klügste genannt wurde. In diesem Jahr wurden nur zwei Gaben an den Fluss gelegt und im Winter trat der Tuhlm wieder über die Ufer. Die Paulmanderer waren erbost. Die Familie, die ihr Kind zwei Plätze hat einnehmen lassen, wurde geächtet. Im nächsten Jahr wurden wieder drei Kinder ausgewählt und jedes von ihnen trug zwei Körbe mit Ernteerzeugnissen.
Ian, Freya und Alex schritten die Treppe zu der U-Bahnstation hinunter. Sie hätten auch um die umzäunte Freifläche herum gehen können, doch das hätte länger gedauert. Der Tunnel war lang und Freya, obwohl sie ihn gut kannte, recht unheimlich. Sie beeilte sich, um den Abstand zu ihrem Bruder nicht zu groß werden zu lassen. Als sie wieder an das Tageslicht kamen, trennten sich die Wege der Geschwister. Freya musste, wenn sie zu der Grundschule wollte, entlang einer Mauer hinter das große Schulgebäude laufen. Sie wollte ihren Bruder umarmen, doch unterdrückte den Impuls und ging winkend hinter den anderen Grundschülern her. Sie sah Neslihan und John, die sie beide sehr mochte und die hinter ihr saßen. Als sie sie einholte, waren Ian und Alex schon außer Sicht. Alex hatte eine Armbanduhr mit einem grüngelben Stoffband und sagte Ian, dass es 7:25 Uhr