Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
Скачать книгу
echten Kampf noch mal was anderes als im Sparring.

      Nadine Sömmerda:

      Wie würdest du die Runde werten?

      Ludovic Jabrovnik:

      Ganz klar 10-9 für Jakub. Er hat einen Takedown, vorausgesetzt, der zählt, Rocco war ziemlich schnell wieder oben, außerdem hat er viel mehr Treffer gelandet und ordentlich Schaden angerichtet. Auch wenn wir gerade sehen, dass der Cut unterm Auge ist. Das ist gut. Da ist die Sicht nicht beeinträchtigt. Ich bin sehr gespannt auf die zweite Runde.

      Buch 1 -1-

      Freyas linke Wange glühte rot. Es fühlte sich so an, als wäre sie mit Schnee eingeseift worden oder als würde sie, ohne Schal an einem kalten Wintertag, durch Schaldstättens Straßen laufen. Die Ohrfeige kam überraschend, der Schmerz meldete sich noch nicht zu Wort, als ihr Vater sie am Handgelenk packte und aus dem Kinderzimmer, über den Flur, hinein in das Bad zog. Freya schlüpfte aus ihrer durchnässten Schlafanzughose, mit den blauen und roten Rennautos und legte sie in das Waschbecken. Eine Wanne hatte die Familie Teutschwitz nicht und die Dusche würde Herr Teutschwitz für Freya benötigen. Das kleine Mädchen stand zitternd vor der Dusche mit der hohen Stufe. Der Vorhang mit Leopardenmuster war an die Wand gezogen, der dritte Halterungsring war zerbrochen und der Stoff hing etwas durch. Das Bad hatte keine Fenster und nur eine Glühbirne an der Decke erhellte den Raum. Um die Glühbirne herum gab es einmal eine cremefarbene Umhüllung aus Glas, die aber abfiel und zerbrach, als Freya und ihr Bruder Ian mit einem Ball in der Wohnung spielten. Jetzt schien eine einsame Glühbirne an der Decke zu schweben. Eine Mücke gesellte sich zu ihr, es war eine dieser Großen. Größer als Freyas Handfläche. Freya nahm sich vor, ihre Sachkundelehrerin nach der Art zu fragen. Morgen würde sie ihren Stundenplan für die dritte Klasse bekommen und sie nahm doch an, dass sie wieder Sachkunde haben würde. Ihr Vater hatte sich in die Dusche gelehnt und beugte sich nun wieder vor. Das Wasser hatte seiner Meinung nach, eine angemessene Temperatur. Er zog Freya über die Kante und hielt sie in der Dusche mit einer Armbeuge fest. Mit diesem Arm hielt er die Brause. In der freien Hand hielt er einen Schwamm, der beinahe auseinanderfiel und bei jedem Waschvorgang braungelbe Einzelteile im Abfluss zurückließ. Freyas Vater wusch recht grob den Urin von Freyas Beinen. Dann hob er das Mädchen aus der Dusche und trocknete sie mit einem Handtuch ab.

      „Bleib“, sagte er zu ihr, wie zu einem Hund.

      Herr Teutschwitz ging in das Schlafzimmer der Eltern, in dem sich seine Frau gerade umzog und holte ein Nachthemd von ihr. Es war mal weiß gewesen. Vor grauen Tagen. Der Vater zog es aus der unteren Schublade des Holzkleiderschrankes. Dann gab er es seiner Tochter.

      „Zieh das an, leg dich auf die Couch“, befahl er.

      Freya hielt das Nachthemd mit beiden Ärmchen umklammert und stapfte durch den Flur in das Wohnzimmer. Dabei ging sie an ihrem Zimmer vorbei, welches sie sich mit ihrem Bruder teilte. Ian stand in der Tür und hielt das Bettzeug und die Bettwäsche ähnlich wie Freya das Nachthemd. Freya wollte sich bei ihrem großen Bruder entschuldigen, doch sie traute sich nicht. Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch und schlüpfte in das Nachthemd ihrer Mutter, welches ihr natürlich viel zu groß war. Ihre Beine waren von dem Stoff komplett verdeckt und sie hätte es nach oben ziehen müssen, wenn sie durch die Wohnung hätte laufen wollen. Doch ihr Vater hatte ihr ja gesagt, dass sie sich hier hinlegen sollte und so tat sie das auch. In der hinterletzten Ecke verkrümelte sie sich. Sie fror an den Füßen und klappte das Nachthemd herum. Wie in einem Kokon gehüllt, lag sie da und wartete auf ihren Vater. Der kam mit einer Decke und legte sie auf Freya.

      „Du schläfst heute Nacht hier.“

      Freya war traurig, aber konnte es verstehen. Auf dem Bildschirm des kleinen Fernsehers liefen die Zusammenfassungen der Sonntagsspiele. Es dauerte nicht lange, bis ihr Vater einschlief. Das Schnarchen und die unbequeme Liegeposition hielten sie wach. Wie Kanonenschläge knallte es aus Herr Teutschwitz´ roter Nase. Dazu war sie noch sehr aufgeregt, da sie morgen in die dritte Klasse kommen würde. Hoffentlich würde Frau Rhemberg noch ihre Klassenlehrerin sein. Freya tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Und wenn doch, dann war sie sich immer selbst bewusst. Sie beneidete Ian.

      Ian legte sich ins Bett und es dauerte keine zehn Minuten, bis er einschlief. Ian lag auch immer mit dem Kopf zur Tür.

      Irgendwann wurde in der kleinen Wohnung das Licht angemacht. Im Wohnzimmer hing keine Uhr und deshalb wusste Freya nicht, wie lange sie Zeit zum Schlafen gehabt hätte. Sie hörte, wie sich ihre Eltern in der Küche Frühstück machten. Die Filterkaffeemaschine blubberte und der kräftige Geruch drang durch die Küchentür, über den Flur, in das Wohnzimmer. Dazu knallten die Weißbrotscheiben aus dem Toaster. Freyas Mutter befürchtete, dass das Gerät bald den Geist aufgeben würde, deshalb sollten Freya und ihr Bruder es nicht benutzen. Die Neudrittklässlerin versuchte sich wieder in die Decke einzumummeln und wartete.

      Sie wartete auf ihre Mutter. Wartete auf den Abschiedskuss. Doch das Licht in der Küche ging aus und die beiden Erwachsenen traten in den Flur des Mehrfamilienhauses. Sie stiegen die eine Treppe hinab. Vater Teutschwitz parkte weiter weg. Gemeinsam fuhren Freyas Eltern zur Arbeit. Dann überkam Freya die Müdigkeit und in dem Moment, in dem sie die Augen fest schloss, ging das Licht schon wieder an.

      Ihr Bruder Ian hatte die Jalousie der Wohnzimmerglastür hochgezogen. Familie Teutschwitz besaß einen Balkon, der etwa einen Meter über dem Unkraut hing.

      Ian rüttelte sie leicht und sagte ihr, sie solle sich anziehen. Freya tippelte in das Kinderzimmer. Sie sah, dass Ian die obere Hälfte des Hochbettes noch nicht neu bezogen hatte. Die Matratze lehnte am gekippten Fenster. Draußen sangen Vögel, obwohl in den umliegenden Straßen kaum Bäume standen. Gegenüber dem Hochbett stand ein Schrank, dessen untere Hälfte die Sachen von Freya beherbergte. Sie holte Unterwäsche und Socken heraus. Als sie auf einem Bein balancierte, um die linke Socke anzuziehen, stolperte sie beinahe über den gepackten Schulranzen. Das Zimmer war klein. Aber da sie noch keine Schulbücher bekommen hatten, war der Ranzen nicht sehr stabil oder schwer. Er gab zuerst nach und Freya durfte stehen bleiben. Dann zog das Mädchen sich eine alte Jeans von Ian an. Viele Sachen, die ihr gehörten, hatten früher Ian gehört. Der Ranzen auch. Freya hätte lieber einen violetten Schulranzen gehabt. So wie ihre Freundinnen. Doch ihrer war blau und mit Rennautos versehen, deren Scheinwerfer kleine Reflektoren waren. Sie wollte sich gerade ihr T-Shirt anziehen, als Ian in das Zimmer kam.

      „Warte mal“, sagte er, „geh dich erstmal waschen.“

      Gemeinsam gingen die Geschwister in das Bad. Ian zeigte ihr wie Katzenwäsche funktionierte. Dann ließ er sie noch Zähneputzen. Abwechselnd spuckten sie ins Waschbecken. Die Borsten von Freyas Zahnbürste standen wilder ab, als Ians blonde Haare und stachen leicht in das Zahnfleisch.

      Ian und Freya hatten beide die gleiche Haarfarbe. Im Frühling war es ein helles Straßenköterblond. Wenn die Sonne normal schien, würden die Köpfe der Geschwister Mitte Oktober am Hellsten aussehen. Wenn der Winter kam, wurden sie dann wieder dunkler. Freya beobachtete, wie Ian Wasser an seine Haare klatschte. Dann setzte er sich die schwarze Mütze auf. Er trug sie fast immer im Haus und Draußen sowieso.

      Die ramponierte Zahnbürste wackelte noch in dem ausrangierten Senfglas, als Freya und Ian sich an den Küchentisch setzten. Ian holte aus dem ausziehbaren Fach unter der Arbeitsfläche zwei Cornflakesschüsseln aus ehemals roter Plastik heraus. Man sah, dass sie ihre besten Jahre in der Mikrowelle hinter sich gelassen hatten. Die beiden Schüsseln stellte er auf die Arbeitsfläche, durch die ein langer Kratzer, hervorgerufen durch einen Stein unter einem Brettchen, lief. Aus dem Schrank darüber holte er eine Packung, oder wie Freya sagen würde „Pappung“, Nougatkissen hervor und eine rot-schwarze Dose, durch deren zerschrammten, durchsichtigen Deckel man Haferflocken sehen konnte. Erst füllte er die Schüssel zur Hälfte mit Haferflocken auf, um dann Nougatkissen hinzuzufügen. Ian stellte die Cornflakes zurück an ihren Platz. Danach öffnete er die Kühlschranktür.

      Der Kühlschrank war kaputt und deshalb waren die Einlassungen an der Tür leer. Ian holte eine „Pappung“ Milch heraus, drehte an dem weißen Verschluss und roch daran. Sie schien in Ordnung zu sein. Als er