Vierecke fallen nicht zur Seite. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175941
Скачать книгу
ihm wahrgenommen hatte. Sie hatte so eine Art. So eine kalte Art über Menschen hinwegzuschauen, als wären sie Luft.

      „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Lehrer eure Briefe nicht lesen darf“, sagte Nuri.

      „Ja, und genau das ist der Punkt. In der nächsten Geostunde hat sich ein Klassenkamerad, Ian, von ihm mit Absicht erwischen lassen. Ian hatte gebeten, den Brief nicht laut vorzulesen, doch der Lehrer hörte nicht auf ihn.“

      „Hätte er es mal lieber gemacht“, schob Erol lachend ein.

      „Wieso?“, fragte Gabi.

      „Ian hat auf den Zettel geschrieben, dass das was der Lehrer macht, gegen das Briefgeheimnis verstößt und gegen Persönlichkeitsrechte. Mit Paragrafen und dem ganzen Quatsch.“

      „Das ist ja ein starkes Stück“, Opa Horst lachte.

      Gabi nahm ihre Tochter und ließ sich etwas fallen, sie fragte: „Wie heißt´n dieser Ian mit Nachnamen?“

      „Teutschwitz. Wieso?“

      „Ich möchte bitte, dass du dich ab sofort von diesem Jungen fernhältst. Ich kenne seinen Vater. Weißt du noch, was ich dir von dem Flüchtlingsheim und den Feuerwochen erzählt habe?“

      Was für eine Frage, jeder Nichtbiodeutscher in Paulmander wusste von den Feuerwochen.

      „Ja Mama, das habe ich natürlich nicht vergessen. Ich habe auch gar nichts mit ihm zu tun. Der geht nur in meine Klasse. Der kann ja aber auch nichts für seinen Vater.“

      Alex gab Ian das Feuer zurück. Er pustete den Qualm seiner Zigarette in die Gesichter der Kinder, die gerade in den U-Bahntunnel hineingingen. Lena rauchte auch. Ian nahm das Feuerzeug und steckte es vorsichtig in seine Hosentasche. Man merkte, dass er sich bedacht bewegte, als würde ihm etwas weh tun oder als rechnete er damit, dass eine falsche Bewegung ihm Schmerzen zufügen könnte. Am Sportunterricht konnte es nicht liegen. Heute hatten sie nicht Fußball gespielt.

      Lena hatte die Kippe von Alex bekommen. Alex hatte die Schachtel in einem Supermarkt geklaut. Damals waren noch nicht alle Schachtel hinter den runden Gittern. Das, was Lena und Alex da rauchten, hatte keine Filter. Ein Feuerzeug hatte Alex nicht erbeutet, seine Mutter hatte auch keins zuhause. Nur eine Streichholzschachtel für die Kerzen und es würde ihr auffallen, wenn diese fehlen würde. Ian rauchte zwar nicht, doch er hatte immer ein Feuerzeug dabei.

      „Telefonieren wir heute wieder?“, fragte Lena zwischen zwei Backenzügen.

      „Wann?“, fragte Ian. Er hatte das Angebot von Alex doch angenommen. Dessen altes Handy lag nun in seiner Hosentasche. Es war Ians erstes Handy. Frau Okowenko, Kalina, hatte für Ian eine Prepaidkarte gekauft und ihm gezeigt, wie man das Guthaben auflädt. Ian hatte versprochen das Geld zurückzuzahlen, aber Kalina hatte das abgewunken. Es sollte nur ein Geheimnis bleiben. Ians Eltern mussten es nicht erfahren.

      Lena rief Ian an, so musste er nichts bezahlen, Lena hatte ja eine Flatrate. So richtig wusste Ian immer noch nicht, was das bedeutete. Aber es war auch nur gerecht, dass es Lena war, die bezahlte. Schließlich bestanden Telefonate zwischen den beiden Siebtklässlern zu neunzig Prozent aus Lenas Geschichten und zu zehn Prozent aus Ians zustimmenden, knappen Worten.

      Anscheinend waren sie jetzt zusammen. Ausgesprochen hatte es niemand. Die Sommerferien waren wohl nur eine überlange Pause gewesen. Es war Freitag. Zwei Wochen, zehn Schultage und achtundfünfzig Unterrichtsstunden waren vergangen. Der Zauber eines neuen Schuljahres war komplett verflogen. Ian genoss die Telefonate mit Lena, auch wenn sie von dem Wind und dem Straßenlärm auf seiner Seite der Leitung genervt war. Lena nervte ihn nicht. Sie fragte nicht, wie es ihm ging oder was er erlebte. Sie erzählte, wie ihr es ging und was sie erlebte. Dazu wollte sie Ians Meinung hören. Sie erzählte, was ihre Eltern ihr gekauft hatten, sie erzählte, wie langweilig Tanias neues Oberteil war und wie toll sie den Kuss fand. In dieser so kleinen Welt eines Siebtklässlers waren sie ineinander verknallt. Am Mittwoch hatten sie sich das zweite Mal geküsst. Am Spielplatz neben dem Schwanenteich. Das war der Tag, an dem Ian zu spät nachhause kam.

      Er wusste nie genau, wann er zuhause sein sollte. Vor seinem Vater, das war klar. Aber der kam manchmal um sieben und manchmal um acht. Da sollte das Essen auf dem Tisch stehen und Ian und Freya in ihrem Zimmer sein.

      Herr Teutschwitz war ziemlich sauer, als Ian die Haustür aufschloss. Da es schon spät war und Herr Teutschwitz keine Zeit mehr verplempern wollte, schlug er Ian gleich im Flur zusammen. Ian merkte, dass er noch kein Bier getrunken hatte. Nüchtern war sein Vater aktiver. Die Schläge waren okay, klar er hätte auch darauf verzichten können, aber er war daran gewöhnt. Außerdem schlug sein Vater nur mit den Fäusten zu. Die Mutter nahm den Schuhanzieher oder die nassen Wischtücher zu Hilfe. Und danach redete sie immer mit ihm.

      „Warum machst du es denn so schwer? Möchtest du dich nicht deiner Schwester zuliebe besser benehmen?“

      Die Worte taten meist mehr weh. Dazu kam noch, dass er stärker war als seine Mutter. Der Stärke verprügelt den Schwachen, die Regel konnte Ian akzeptieren. Aber wenn ihn seine Mutter schlug, war das anders. Die Schläge seines Vaters hielt Ian ganz gut aus. Doch an diesem Tag war es sehr schlimm. Ians Vater schlug ihn eigentlich immer gegen den Körper, manchmal gab es zwar Ohrfeigen, aber meist ging es gegen den Körper. Brust, Bauch, Rücken, Schulter. Herr Teutschwitz hielt sich an das, was der Papst gesagt hatte. An diesem Tag traf Herr Teutschwitz Ian an der Leber. Erst merkte Ian nichts. Zwei Sekunden später klappte er wie ein Campingstuhl zusammen, er rutschte an der Haustür runter. So etwas hatte er noch nie gespürt. Da war kein Kampfgeist, keine Widerstandskraft. Sein Körper hatte einfach gesagt „Nup“ und das war´s.

      „17:00 Uhr?“, fragte Lena.

      Ian überlegte, er wollte heute noch etwas mit Freya machen, dann sagte er: „17:00 Uhr ist okay. Ich kann aber nur eine Viertelstunde.“

      Lena merkte zu spät, dass die Gruppe hinter ihnen sich auflöste und ein paar der Leute zu Ian gingen.

      „Na, Russe“, sagte Kralle. Alex wurde gleich einen ganzen Kopf kleiner. Auch Lena fühlte sich unwohl. Das lag auch daran, dass Riccardas Schwester Sarah neben Kralle stand. Lena lästerte immer über diese großen Brüste, aber irgendwie machten sie ihr ... ja ... sogar ein bisschen Angst. Sie kratzen an ihrem Selbstbewusstsein und das machte ihr Angst, Sorge wohl eher. Dass sie selbst kleine Brüste hatte, hinderte Kralle nicht daran, voll drauf zu starren. Lena schaute zu Ian. Sie erwartetet alles von ihm. Er sollte machen, dass die Blicke aufhören, er sollte selbst nicht auf Sarahs Brüste schauen und er sollte mit ihnen jetzt gehen. Kralle und Sarah machten ihr Angst. Die beiden waren böse, da war sich Lena sicher. Schlechte Menschen. Jetzt stellte sich auch noch Carlo Schikowski dazu. Doch, bevor der etwas sagen konnte, meinte Ian, dass Alex dazu gehörte und einer von „uns“ sei. Carlo grinste, als Ian das sagte. Kralles Augen blitzen. Ian gab meist einen Fick darauf, ob jemand größer oder älter war. Er hatte ein gutes Gespür, er wusste, wem er widersprechen konnte und wann er sein Maul halten sollte. SS-Sveni war da ganz anders, er war sehr impulsiv. Das handelte ihm eine Menge Ärger mit den Lehrern ein. Das fand Ian nicht so schlimm, Ärger mit Lehren nahm er auch gerne mal mit, das nahm er in Kauf. Aber nur, wenn er im Recht war. Nur wenn das, was der Lehrer machte diesen diffusen deutschen Ehrenkodex mit den überschriebenen Wörtern „Treue, Ehre und Stolz“ widersprach. Nicht um jeden Preis zankte er sich mit den Lehrern. Auch, weil sie meistens zuhause anriefen und seine Eltern das so semigut fanden. Aber SS-Sveni war da anders, er regte sich wegen jedem Scheiß auf, auch wenn er absolut im Unrecht war. Auch deshalb lag er sich mit Kralle oft in den Haaren. Und Kralle war niemand, mit dem man Streit haben wollte.

      Was Erol über Ian dachte, traf auf Kralle zu hundert Prozent zu. Aber Ian konnte Alex nicht beleidigen lassen. Alex war einer seiner Freunde. Seine Freunde ließ er nie im Stich.

      Deutsch sein, heißt treu sein.

      Lena und Alex verabschiedeten sich so schnell wie es ging. Kralle wollte dem „Russen“ noch einen Spruch drücken, doch Ian fiel ihm ins Wort. Das tat er nicht leichtfertig. Kralle könnte ihn ziemlich zu Klump hauen. Dazu war sein großer Bruder auch noch in der Partei. Kralle war in allem extremer. Wenn es