Die Hacke zischte durch die Luft in den Boden. Ja, schöner Mist. Das dicke Ende war danach erst gekommen. Natürlich hatte sich diese Schnepfe bei ihrem Chef beschwert, der sie fristlos entlassen hatte. Zack. Wieder war ein Unkraut entwurzelt und begann sofort zu welken. Die Kundin ist Königin. Haha! Und? Durfte die sich deshalb alles erlauben? Nein. Jedenfalls nicht mit ihr. Was zu viel ist, ist zu viel. Sie hätte die Kuh gar nicht erst bedienen sollen. Nelken, Irisse und Schleierkraut! Viel Schleierkraut! Voller Wucht schlug sie die Hacke in die Erde. Ping.
“Au!” Claudia warf die Hacke weit von sich und rieb sich den Unterschenkel. Sie hatte einen Stein getroffen, der ihr ans Bein geflogen war.
“Mensch. Tut das weh.” Claudia stöhnte vor sich hin und beschloss, bevor sie sich noch selbst verstümmelte, zu duschen und auf einen Whiskey ins Klöntje zu fahren. Da fand sich immer jemand, an dem sie sich abreagieren konnte. Hauptsache, Maria war nicht dort. Ihr wollte sie nicht gerne begegnen.
3
Astrid klopfte das Lineal in die Hand, ohne es zu registrieren. Der alte Mann würde sterben. Seine Zeit lief ab, denn sonst hätte die Heimleitung sie nicht benachrichtigt. Eine Frage von Stunden oder Tagen? Höchstens zwei Tagen. Sie warf das Lineal auf den Schreibtisch, erhob sich vom Stuhl und blickte hinüber zum Bauplan, an dem sie die Arbeit immer wieder unterbrochen hatte.
Mr. Nervensäge war ein Kunde, der nicht wusste, was er wollte, genauer gesag,t immer wieder Neues wollte. Jetzt verlangte er ein Atrium für sein Stadthaus. Vielleicht wäre es ratsam, einem ihrer Mitarbeiter die weitere Änderung zu überlassen.
Astrid betrachtete den Stein, der vor ihr lag und den sie heute Morgen aus dem Karton genommen hatte. Nicht ein einziges Mal hatte Astrid, seit sie in New York lebte, nach ihm gesehen. Sie nahm den Stein, umschloss ihn, spürte seine Kälte. Ein Stein wie hundert anderer an irgendeinem Strand. Glatt und oval. Keine Auffälligkeiten. Sie hätte ihn damals wegwerfen können. Ein Souvenir. Jetzt könnte sie ihn in der alten Heimat zurücklassen, denn es war Zeit für einen Schlussstrich. Jetzt, wo der alte Mann um seine letzten Atemzüge rang. Den Flug hatte sie bereits gebucht, noch heute Abend würde sie aufbrechen. Astrids Gesicht hellte sich auf. Ein Gutes hatte die Sache. Sie würde einen Abstecher ins Dorf machen und Claudia treffen. Der einzige Mensch auf der Welt, den sie als Freund betrachtete.
Astrid sah wieder auf den Bauplan. Manche Menschen konnten sich einfach nicht entscheiden, konnten nicht zu den Entscheidungen stehen, die sie einmal getroffen hatten. Sie war dazu in der Lage und akzeptierte die Konsequenzen. Mit dem Tod des alten Mannes hatte sie nichts zu tun. Trug keine Verantwortung. Aber zu Lopez hatte sie eine Entscheidung getroffen. Ein Anflug von Bedauern streifte sie. Doch es half nichts.
4
Als Beatrice vor dem prall gefüllten Spirituosenregal im Supermarkt stand, wurde ihr zum ersten Mal seit langem bewusst, dass wenn sie nicht zugreifen würde, ihr heute Abend, nach dem Konzert, etwas fehlen würde. Sie war sich nicht im Klaren darüber, warum sie ausgerechnet heute Gedanken an ihren Alkoholkonsum verschwendete. Es gab keinen ersichtlichen Grund für diesen Gedankeneinschub, das machte sie stutzig. Für gewöhnlich spulte sie ihren Tag ab wie ein Uhrwerk. Morgens, mittags, abends, nachts, alles war wie immer. Tagsüber und später am Abend Alltag und Beruf, danach trinken, um zu vergessen. Sie hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Beatrice wusste, dass das nicht die Rolle war, die ihr das Leben schenken sollte. Doch sie gefiel sich darin. Oder machte die Sucht es, dass ihr keine andere Lösung einfiel?
Als sie die drei Wodkaflaschen in ihren Einkaufskorb legte, verwischte sie ihre Gedanken und freute sich insgeheim auf das Öffnen ihrer Schätze. Schätze, dachte Beatrice abfällig, sich selber doch irgendwie verurteilend: ”Du kannst ihnen ja gleich Namen geben”.
In ihrer Wohnung angekommen, stellte sie den Alkohol in die hinterste Ecke unter die Spüle in der Küche, verstaute die weniger wichtigen Lebensmittel in den Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Es war noch etwas Zeit bis zum Konzert. Der Blick auf den Rhein, den sie durch ihr Stubenfenster jedes Mal aufs neue genoss, animierte sie, sich auf den Cellohocker direkt vor dem Fenster zu setzen.
Die rastlose Stille des Flusses war es, die sie immer wieder an diesem Ausblick so faszinierte. Beatrice dachte noch mal darüber nach, während sie mit ihren Augen einen Punkt in der Ferne zu fixieren versuchte, warum sie beim Einkaufen über sich und ihr Verhältnis zum Alkohol kurz beratschlagt hatte. Meistens, wenn sie über diese Situation einen Gedanken verlor, trat irgendetwas Unvorhergesehenes in ihr Leben, wie ein ungeschriebenes Gesetz in einem Rhythmus, der nicht zu erklären war. Gleichwohl diese Lage immer misslich war, hatte sie es stets geschafft, nicht gänzlich zu glauben, sie wäre Alkoholikerin, sondern in erster Linie Musikerin. Beatrice wusste, dass es der einzige Traum ihres Lebens sein sollte, dass sie immer nur Cello spielen wollte, schon seit Kindesbeinen. Doch auch seit Kindesbeinen war sie gefangen in ihrem Ich, welches durch ein tiefes Ereignis in ihrer Kindheit aus dem Gleichgewicht geraten war. Sie war gespannt, wie sie die nächste Runde meistern würde.
5
Johanna wickelte die Zahnseide um die Finger und säuberte ihre Zähne mit geübter Hand. Immerhin machte sie das jeden Tag seit ihrer Jugendzeit. In diesem Alter hatte sie einen wiederkehrenden Traum gehabt, nicht häufig, aber doch über mehrere Jahre in leicht abgewandelten Versionen. Die Zähne verlor sie dabei stets. So wie bei einem Maiskolben, über den ein Daumen fährt und die Körner abreibt. Futter für die Hühner auf dem Hof ihres Großvaters. Im Traum fielen ihr die Zähne ohne Vorwarnung aus, fielen aus ihrem Mund in die Hände, als würde sie ungenießbare Bonbons ausspucken. Jedes Mal war das Entsetzen groß. Plötzlich war sie ohne Zähne in der Welt. Dass auch die Symbolik nichts Gutes verhieß, dazu brauchte es keine Fantasie. Seitdem reinigte sie ihre Zähne mit Zahnseide. Sie wollte kein Risiko eingehen.
Johannas Zähne waren gesund und stark. Nie musste sie sich vor dem Zahnarzt fürchten. Ihre Zähne, die gefielen ihr, was für den Rest ihres Körpers bedingt zutraf. Früher hatte sie unter ihrem Äußeren gelitten. Jetzt dachte sie nicht mehr darüber nach, es störte sie nicht. Aus dem Hadern war sie herausgewachsen. Wie aus zu kleinen Schuhen oder dem Aberglauben, dort oben im Himmel sähe einer alles, was sie hier unten auf der Welt täte.
Nur letzte Nacht hatte ein Zahntraum sie wieder überfallen. Diesmal hatte sie sich keine Sorgen gemacht, gedacht, dass sei nur ein Traum, den kenne sie, da müsse sie sich keine Gedanken machen. Aber dann überkam sie im Traum die Gewissheit, dass sie nicht träumte. Böses Spiel.
Johanna blickte ihr Spiegelbild an, strich mit der Zunge über die Schneidezähne. Alles gut. Plötzlich stieg ihr Übelkeit vom Magen in die Kehle. Sie drückte ihren Handballen gegen die Brust und schluckte. Morgen früh hatte sie ihre Sendung im Radio zu moderieren, da musste sie auf der Höhe sein, Profi sein, so wie sie es von sich gewohnt war, wie sie es auch diesmal wieder erwartete.
Johanna ging zum Lichtschalter, berührte ihn, doch sie zögerte einen Moment. Licht fiel vom Bad ins Schlafzimmer. Die Decke des Doppelbetts war nur auf einer Seite aufgeschlagen, die andere würde leer bleiben. War da ein Geräusch von unten, von Sammy? Sie schritt in den Flur, horchte, doch nichts regte sich. Ihr Blick ging weg von der Treppe, hin zum anderen Ende des Flurs. David hockte sicherlich vor seinem Computer. Sara schlief, sie hatte morgen eine Chemieklausur vor sich. Johanna seufzte auf. Alles zu seiner Zeit. Jetzt erst mal ins Bett. Schlaf finden. Und morgen eine gute Sendung. Sie würde schon alles in den Griff bekommen. Eins nach dem anderen.
6
Astrid stand an der Fensterfront ihres Penthouses und schaute über den Hudson River auf die Lichter der Stadt. Ihr gefiel die Aussicht. New York war ihre Stadt, in der ihr Art Déco Gebäude wie das Chrysler Building, aber auch der Beaux-Arts-Stil der Public Library gefielen. Als Architektin spielte sie häufig in Gedanken durch, wo und wie sie Gebäude nach ihren Entwürfen erbauen lassen würde, doch vorher musste abgerissen werden, damit Neues entstehen konnte.
Wenn mit der Kraft des Sprengstoffes Riesen einstürzten und nur ein Haufen Schutt übrig blieb, barg dies eine Schönheit in sich. Nicht weniger mochte sie die Abrissbirne. Wie die Stahlkugel