Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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Alter entsprach. An dem Eingriff starben etwa 5.500 Frauen und 600 Männer. Außerdem wurden mehr als zehntausend Kinder in Gaskammern getötet. Doch bevor man sie als „unwert“ brandmarkte und sonach der Vernichtung preisgab, wurden nicht wenige der jungen Todeskandidaten „zu Forschungszwecken“ von Ärzten, Psychiatern und deren Helfern gezielt infiziert und teils auch mörderisch gequält.

      Welch eine Barbarei! Gleichwohl darf das soeben Dargelegte nur als ein kleiner Einblick in jene Verhältnisse gewertet werden!

      Sicher, niemand ist gezwungen, sich mit historischen Fakten und Zusammenhängen besonders intensiv zu beschäftigen. Es wäre ohnehin nicht jedermanns Sache. Das muss man akzeptieren, keine Frage. Aber wer sich mit der Vergangenheit nicht gründlich auseinandersetzt, sollte sie auch nicht als Kronzeugen für eigennützige Vorhaben missbrauchen, wie es hierzulande noch viel zu oft praktiziert wird. Das ist schlichtweg unredlich, selbst wenn man sich dabei noch so heftig auf die Freiheit des Geistes beruft.

      Doch blicken wir nochmals kurz auf 1936 zurück!

      Zweifellos gab es auch zu jener Zeit viele ehrbare Persönlichkeiten, darunter den pazifistischen Publizisten Carl von Ossietzky (1889 bis 1938), der im selben Jahr den Friedensnobelpreis nachträglich für 1935 zugesprochen bekam. Er konnte die hohe Auszeichnung als typischer KZ-Häftling „wegen Landesverrats“ freilich nicht eigenhändig entgegennehmen. Das haben ihm die regierenden Nationalsozialisten strikt verwehrt. Wohin ihre Wahnsinnsideologie letztlich führte, dürfte jedem ausreichend bekannt sein, der sich halbwegs dafür interessiert.

      Sonach könnte die Erkenntnis reifen, dass ausnahmslos jedes gesellschaftliche System die ihm genehmen Herrscher, Befürworter, Mitläufer und Speichellecker, doch auch fortwährend seine Widersacher hervorbringt.

      Das Land der Magyaren, unsere einstige Heimat, ward hingegen bereits seit 1920 vom Horthy-Regime beherrscht. Die Bezeichnung verweist auf jenen rechtsradikalen Reichsverweser, welcher sich 1941 beim Überfall auf die Sowjetunion der verheerenden Torheit Hitlers anschloss und schließlich mit seiner diktatorischen Regierungsform endete, wie es gerechterweise früher oder später allen militärisch gedrillten, auf Aggression gerichteten und obendrein vom Größenwahn befallenen Staatsgebilden widerfahren sollte, nämlich mit einer bedingungslosen Kapitulation.

      Damit war auch ein beträchtlicher Abschnitt unseres künftigen Lebens weitgehend besiegelt, denn wir mussten Ungarn verlassen, wurden als Bürger mit ursprünglich deutscher Herkunft gewaltsam ausgewiesen.

      Unsere Vorfahren kamen einst aus Schwaben und machten sich wohl schon zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Balkan sesshaft (was ich allerdings für meine konkrete Ahnenreihe vorerst nur bis zum Jahre 1795 nachweisen könnte).

      Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen erfolgte indessen bereits im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Sie wurde amtlich besonders gefördert, nachdem die eroberungs- und zerstörungssüchtigen Reiterheere der kriegslüsternen Mongolen während ihrer Raubzüge ganze Landstriche verwüsteten, indem sie zahlreiche Städte und Dörfer buchstäblich dem Erdboden gleichmachten. Zugleich löschten sie deren Bewohner fast vollständig aus, sofern es sich nicht um auffallend schöne Frauen, begabte Handwerker oder namhafte Künstler und Gelehrte handelte, die sie zwanghaft mitnahmen, damit sie ihnen fortan uneingeschränkt dienen konnten: die Evastöchter als begehrte Sexualobjekte und die anderen mit ihren speziellen Fertigkeiten und Kenntnissen. So geschehen im Gefilde der Magyaren anno 1241.

      Bemerkung: Das obige Wort „Sachsen“ ist kein Verweis auf die Herkunft der einstigen Kolonisten, sondern eine südosteuropäische Bezeichnung für deutsche Bergleute in Transsilvanien (jetzt rumänisch, ehedem Teil Ungarns). Jene Volksgruppe stammte höchstwahrscheinlich überwiegend aus Moselfranken.

      Unsere Zwangsverschickung ereignete sich Anfang Mai 1948. Sie war eine der vielen Deportationen. Warum gerade meine elterliche Familie überhaupt vertrieben worden ist und alle unsere Verwandten bleiben durften, vermag ich bis heute nicht eindeutig zu erklären, denn wir waren weder reich noch faschistoid. Und mit waghalsigen Vermutungen will ich gar nicht erst aufwarten. Offensichtlich herrschte auch in dieser Frage ziemliche Willkür.

      Aber Schwamm darüber! Ungarn ist ein herrliches Land mit ebenso tüchtigen wie freundlichen Menschen und darum garantiert jederzeit meines persönlichen Wohlwollens sicher. Ich verspüre zumindest keinerlei Missbehagen oder gar nachträgliche Rachegelüste für jene Schmach, welche dereinst meinen Eltern zugefügt wurde.

      Die für mich äußerst merkwürdige Beförderung in Richtung „Ostzone“ der besiegten Teutonen dauerte annähernd sechs Tage und endete in Pirna, einem interessanten Städtchen an der Elbe, etwas größer als Meißen und in entgegengesetzter Richtung von Dresden. Dort hatte man uns für drei Wochen gemeinsam mit vielen anderen Leuten, die vom gleichen Schicksal betroffen waren, in einem großen Sammellager untergebracht beziehungsweise kurzerhand eingepfercht.

      Schon während der ersten Stunden unserer seltsamen Beförderung in einem fest verschlossenen und daher furchtbar stinkenden Viehwaggon, zumal er mit „Umsiedlern“ berstend gefüllt war, bemerkte ich eine leise Sympathie gegenüber Abel, den ich vordem nicht kannte.

      Trotz der widerwärtigen Bedingungen führten wir vielerlei Gespräche miteinander. Und so wuchs zwischen uns allmählich das zarte Pflänzchen echter Zuneigung, welches wir im anschließenden Wartelager sorgsam pflegten, damit es prächtig gedeihe, denn in uns keimte bereits zusehends die vage Hoffnung, es könne sich vielleicht allmählich zum kräftigen Baum als Symbol tiefer Freundschaft entwickeln.

      Genau so kam es dann auch, wenngleich eine schier unglaubliche Tragödie, die wir damals im Alter von elfeinhalb Jahren gemeinsam in Pirna erlebten, unseren nachfolgenden Werdegang ebenso sprunghaft wie einschneidend beeinflusste.

      Jener grauenvolle Zwischenfall war besonders für Abel ein derart harter Schicksalsschlag, dass er sich buchstäblich für immer in seiner arg verletzten Seele einbrannte. Seither plagen ihn unentwegt dahingehend Gewissensqualen, ob denn das schreckliche Ereignis gegebenenfalls durch mehr Besonnenheit und beherzterem Auftreten seinerseits hätte verhindert werden können. Diesen nervenaufreibenden Bazillus wird er zeitlebens nicht mehr los.

      Obendrein wurde in ihm durch dieselbe verhängnisvolle Episode urplötzlich etwas ausgelöst, das nicht nur ihn, sondern auch mich wie vom Blitz getroffen auf der Stelle erstarren ließ, eine mysteriöse Kraft, die ich nach wie vor kaum zu beschreiben wage, geschweige denn umfassend erklären könnte.

      Der Mensch ist ja so eine Art biochemische Fabrik, freilich eine hochmoderne, weil mit Gefühl und Verstand ausgestattet. Sobald ein Teil nicht mehr richtig funktioniert, gerät bisweilen das ganze System durcheinander. Handelt es sich dabei ausschließlich um einen körperlichen Defekt, sind die jeweils zuständigen Fachleute oftmals in der Lage, die genaue Ursache herauszufinden, um sie gezielt zu beheben oder hinsichtlich ihrer negativen Folgen wenigstens zu lindern. Wenn jedoch die gesamte Psyche erfasst wird, etwa durch ein unangenehmes Schockerlebnis, welches jählings eine hochgradige seelische (mitunter auch physische) Erschütterung in uns auszulösen vermag, kann es für die Lebensperspektive des Betroffenen sehr problematisch werden, sofern nicht rechtzeitig eine geeignete Therapie erfolgt. An eine solch medizinische Hilfe für Abel war damals überhaupt nicht zu denken. Er hatte weit und breit nicht die geringste Chance, entsprechend betreut zu werden.

      Doch ehe ich detaillierter auf die grenzenlos fatale Begebenheit eingehe, um eine bedeutsame Grundlage für das Verständnis all dessen zu schaffen, was uns an nahezu Unfassbarem noch bevorsteht, will ich meinen verehrten Lesern zunächst eine Reihe persönlicher Erlebnisse und Gedanken anvertrauen, die in bestimmter Weise zum Thema gehören. Es fällt mir ohnehin schwer genug, das Kernproblem der Geschichte treffend und vor allem glaubwürdig zu übermitteln, weil es im europäischen Raum und anscheinend sogar weltweit bisher tatsächlich nichts Gleichartiges gibt, wie sämtliche Recherchen erneut bestätigt haben, die ich eigens wegen dieser autobiografisch untersetzten (Kriminal-)Erzählung in jüngster Zeit außerordentlich intensiv geführt habe.

      Apropos Internet: Dank mehrmaliger und gleichermaßen drängender Aufforderungen durch meine liebe Frau habe ich mir nun endlich einen Personalcomputer angeschafft.