Die beiden Unbekannten, offensichtlich Mutter und Sohn, verharrten ziemlich lange an der Stelle, wo sie nach freien Sitzplätzen Ausschau hielten. Einheimische konnten es wohl nicht sein, denn das hätte sich in unserer Kleinstadt längst herumgesprochen. Weil ich jedoch nach Veronikas Bittgesuch die Todesanzeige selbst verfasste und einer überregionalen Tageszeitung übertrug, war das vermutlich der maßgebliche Ausgangspunkt für das Erscheinen der Überraschungsgäste.
Beide waren dem Anlass entsprechend adrett gekleidet, von schlanker Gestalt und auffallend nobler Eleganz. Sie wirkten durch ihr stattliches Auftreten sehr attraktiv. Der junge Mann überragte seine Begleiterin um gut eine Kopflänge. Die Frau trug ihr dunkles Haar straff nach hinten gekämmt und dort zu einem Dutt zusammengefügt.
Das ungleiche Paar erregte auf Anhieb sensationelle Aufmerksamkeit und rumorendes Staunen im Saal. Möglicherweise versetzte es einzelne Teilnehmer sogar in Angst und Schrecken, zumindest in sprachlose Fassungslosigkeit. Kein Wunder, denn der Jüngling glich dem Verstorbenen buchstäblich wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch alle wussten, dass Peter keinen Sohn hatte. Oder man glaubte es wenigstens bis dahin. Selbst ich hätte darauf Brief und Siegel geben können. Und ich kannte ihn, außer seiner Gattin, mit Sicherheit besser als jeder andere. Zudem war nicht zu übersehen, dass der junge Mann bei Weitem nicht so viele Jahre hinter sich hatte, wie die Ehe meines Freundes mit seiner wunderbaren Veronika, die vermutlich eigens deshalb in Ohnmacht fiel.
„Auweia, da muss also dereinst etwas höchst Merkwürdiges passiert sein“, schoss es mir durch den Kopf. „Peter, du Schlawiner, wie hast du es nur fertiggebracht, deine bezaubernde Frau derart zu hintergehen und auch mich im Dunkeln zu lassen? War es ein leichtfertiger Seitensprung oder eine andauernde Liebschaft? Und welch düstere, markerschütternde Gedanken mögen angesichts einer solch tiefgreifenden Überraschung jetzt in Veronikas Haupt spuken? Ob sie den Verlust ihres geliebten Partners im Moment oder künftig überhaupt noch leidvoller empfindet als seine verheimlichte Untreue?“ Diese und andere Fragen surrten unaufhörlich durch mein Oberstübchen. Die Antwort darauf konnte ich allenfalls erahnen.
Zweifelsfrei hatte unsere herzensgute Freundin von da an mit neuen, außerordentlich schmerzhaften Seelenqualen zu kämpfen. Indessen war mir blitzartig klar geworden, welches Geheimnis ihr Mann am Ende unserer Abschiedsstunde durch seine zögerliche Formulierung „Sohn“ mir noch anvertrauen wollte.
Seit jenem denkwürdigen Ereignis vom Oktober 2008 treibt mich fortlaufend eine heftig anstachelnde Wissbegierde, der Sache auf den Grund zu gehen, herauszufinden, wie es dazu kam und was dahinter steckt.
Doch wie sich Peters einstiger Fehltritt auch immer offenbaren mag, im Vergleich zum Schicksal seines um fast sechs Jahre älteren Bruders wird den meisten Interessenten eine derartige Sünde nach einschlägiger Sachkenntnis gewiss als reinste Bagatelle vorkommen. Abel war nämlich für lange Zeit der Dritte in unserem Bunde, zudem stets ein fester Anker, gewissermaßen der Fels in der Brandung. Ihm war es jedoch nicht vergönnt, an der Trauerfeier teilzunehmen, weil er infolge widriger Umstände nichts davon erfahren konnte. Er befand sich damals auf einer längeren Studienreise in afrikanischen Ländern und blieb für uns, trotz vielfältiger Bemühungen, einfach unerreichbar.
Endlos schlimmer hingegen ist der jetzige Tatbestand: Abel wird seit geraumer Zeit von beauftragten Häschern des Rechts über alle Kontinente gejagt. Interpol ist ihm hart auf den Fersen, wenngleich bislang vergeblich.
Da ich mit ihm über weit mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg nicht minder herzlich verbunden war als mit Peter, teilweise sogar noch inniger, beschäftigt mich inzwischen seine überaus konfliktreiche, zuweilen abgründig dramatische Lebensreise viel stärker als der besagte Ehebruch.
Der Not gehorchend, will und muss ich unbedingt auch dem nachgehen, was mir der verstorbene Intimus durch den Verweis auf das vermeintliche Elbmonster in Verbindung mit dem Namen seines Bruders noch preisgeben wollte.
Die aufgeblasene und weitverbreitete Story vom menschenfressenden Ungeheuer in Deutschlands zweitgrößtem Fluss ist ja sicherlich dem meisten Zeitgenossen sattsam vertraut, spukte sie doch oft genug durch den Medienwald (ich werde sie später vorsichtshalber nochmals darbieten). Was jedoch die wundersame Geschichte mit Abel zu tun haben könnte, bleibt mir vollkommen schleierhaft. Gleichwohl bin ich davon überzeugt, dass irgendetwas dran sein muss. Ansonsten hätte Peter während seiner letzten Atemzüge bestimmt Wichtigeres zu sagen gehabt.
Das und vieles mehr aufzuspüren, wird zweifelsohne ein sehr langwieriges und gleichermaßen dornenreiches Unterfangen, gleichsam eine Bürde, die ich mir beileibe nicht unbekümmert auflade.
Insofern sind meine bisherigen Ausführungen tatsächlich nur die Vorgeschichte, der eigentliche Beweggrund für die herannahende Erzählung, quasi eine Art schriftstellerische Ouvertüre, auch wenn es sich dabei ebenso um wahre Begebenheiten handelt wie bei den noch zu verfassenden Geschehnissen.
Diese besonders gewissenhaft und ausführlich zu schildern, empfinde ich derweil schon beinahe als geziemende Pflicht. Sie wird zwangsläufig ungleich härter sein als das bisher Gebotene.
Namentlich deshalb kämpfe ich immer noch ernsthaft mit mir, ob es nicht arg vermessen ist, mich mit dem ausgesprochen schwierigen, weil extrem mysteriösen Stoff auseinanderzusetzen, um ihn öffentlich kundzutun. Ich will ich es trotzdem wagen, zumal mir irgendeine geheime Kraft ständig im Nacken sitzt und mich eigens dazu gehörig ermuntert. Am Ende sollen meine verehrten Leser urteilen!
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Mit dem Alter ist es wie in höheren Ämtern: Kaum jemand will freiwillig abtreten. Die einen hängen am Leben, die anderen an ihrer Funktion und meist noch viel stärker am Geld, dem nahezu sämtliche Bereiche unserer oftmals recht merkwürdigen Zivilisation knechtenden Abgott.
Weil ich mittlerweile selbst bereits sechsundsiebzig Lenze überschreiten durfte, also dank Fortunas Gunst schon mancherlei irdische Prüfungen halbwegs bestanden habe, sind mir derartige Behauptungen sicherlich unbesehen gestattet. Sie beruhen im erheblichen Maße auf eigener Erfahrung.
Mithin frage ich gezielt: Wer möchte nicht seinen diesseitigen Aufenthalt möglichst bis zum letzten Atemzug genießen, anstatt fortwährend auf das mutmaßliche Paradies im ungewissen Himmelreich zu hoffen?
Und die Liebe, das mit Sicherheit betörendste aller Phänomene? Ich gestehe: So manche Wogen jugendlicher Leidenschaft haben sich bei mir allmählich geglättet. Dergestalt bezirzende Schmetterlinge suchen und finden woanders ein ersprießlicheres Domizil als bei spürbar betagten Adressaten. Doch an ihrer Stelle wachsen neue Werte, die selbstredend auch ihren speziellen Reiz entfachen, wenn man sie entdeckt, bewusst nutzt und achtsam pflegt. Immerhin darf ich hierzu mit gewissem Stolz verkünden, dass ich beispielshalber meine goldene Hochzeit im vertrauten Familien- und Freundeskreis längst ausgiebig feiern konnte. Ein wahrhaft erhebendes Gefühl! Obendrein veredelt eine famose Schar von Kindern und Enkeln mein Dasein. Glück oder Verdienst? Wohl eher beides.
Zugegeben: Manchmal wundere ich mich auch schon ein wenig darüber, wie es eigentlich kommt, dass meine Gemahlin und ich es so lange miteinander aushielten. Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich ein besonders geduldiger Knabe bin, ohne hörig zu sein (glaube ich zumindest). Keinesfalls möchte ich nämlich als Weichling durch die Gegend schleichen. Das wäre mir höchst fatal, denn mir liegt sehr daran, erhobenen Hauptes meiner Bestimmung so nachzukommen, wie sie mir von Natur aus zuteilwurde, eben als Mann, auch wenn einige überdrehte Emanzen in Gestalt ziemlich merkwürdiger Nebelkrähen das heutzutage allenfalls infrage stellen.
Ich mag zwar Gleichberechtigung und weiß auch, dass Vertreter des schöneren Geschlechts in mancher Hinsicht selbst bei uns in Deutschland noch echt benachteiligt sind. Das ist schlimm genug! Aber für untertänige Typen, die man vor allem in häuslichen Bereichen antrifft, habe ich wenig übrig, obwohl sie mir