Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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      Ihren Freundeskreis pflegten sie wie zarte Pflanzen, mit denen man behutsam umgeht, damit sie prächtig gedeihen.

      Kein Wunder also, dass die Entwicklungsgeschichte meines Freundes Peter fast durchgängig so verlief, als hätte man sie einem hinreißenden Bilderbuch entnommen, deren Krönung freilich erst durch die ausnehmende Partnerschaft mit Veronika erfolgte. Beiden war die hilfreiche Gabe eigen, stets füreinander da zu sein. Ihr gegenseitiges Vertrauen war unerschütterlich. Es hatte sich mannigfach bewährt. Keinerlei Alltagsprobleme oder sonstige Konflikte vermochten ihre berückende Zweisamkeit zu gefährden oder sie gar aus der gewohnten Lebensbahn zu werfen.

      Ich gestehe, dass mich angesichts ihrer fabelhaften Gepflogenheiten vereinzelt sogar ein leichter Neid beschlich, denn ich muss zugeben, dass sie die Lenkung des eigenen Schicksals oftmals viel cleverer meisterten, als ich es vermochte. Sie verfügten über die eher seltene Veranlagung, vielerlei positive Seiten des Lebens gezielt herauszufinden und klug zu nutzen. So hatten sie beizeiten auch folgenden Leitspruch verinnerlicht: „Erfreue dich möglichst täglich an dem, was du hast und kannst, statt unentwegt nach irgendwelchen Luftschlössern zu trachten!“

      Insbesondere ihre praktizierte Toleranz gegenüber anderen Denk- und Verhaltensweisen beeindruckte mich nachhaltig. Ihr Umgangsmotto lautete: „Es sei alles erlaubt, was keinem schadet.“ Wer schafft das schon?

      In ihrer Nähe musste man sich einfach wohlfühlen, denn bessere Freunde kann man sich gar nicht wünschen. Kurzum, sie wirkten in fast jeder Hinsicht als Vorbild für das Tun und Lassen ihrer Mitmenschen.

      Namentlich ihr Ehebund übertraf fast alles an liebevoller Zuneigung. Das habe ich immer bewundert. Sie veranschaulichten quasi die ideale Partnerschaft, indem sie gegenseitig zuließen, dass jedem genügend Freiräume blieben, um sich zu entwickeln und auch eigene Interessen wahrzunehmen. Ebenso respektierten sie die individuellen Grenzen des anderen. Ihr Verhältnis zueinander war großmütig und von unerschütterlichem Vertrauen geprägt. Ich hätte jederzeit bereitwillig schwören können, dass sie sich gegenseitig auch immer treu waren.

      So entrannen mehrere Jahrzehnte voller Glückseligkeit, bis das Unheil jählings wie aus heiterem Himmel mit brutalster Gewalt und obendrein gleich im Doppelpack über sie hereinbrach.

      Genau zwölf Monate nach Eintritt ins Rentenalter befiel meinen selbstlosen Gefährten das allseits gefürchtete, weil unberechenbare, hinterlistige und immerwährend böse Haustier namens Krebs. Es nistete sich unversehens fest in seinen Körper ein und trieb fortab sein mörderisches Spiel. Bevor man erkannte, um welch ein zerstörerisches Biest es sich handelte, hatte es bereits in Windeseile zuhauf Metastasen hervorgebracht. Obgleich die Hoffnung meist zuletzt stirbt, blieb Peter keinerlei Chance mehr, dem grausamen Würgeengel zu entrinnen.

      Wenigstens gewährten ihm die Mächte der Finsternis ein bisschen Zeit, die er eifrig nutzte, um wichtige Angelegenheiten zu erledigen. Auf den nahenden Tod war er ja überhaupt nicht vorbereitet. Eher glaubte er, der allmächtige Sensenmann befände sich noch in weiter Ferne, was sich freilich als schwerwiegender Irrtum herausstellte.

      Indessen boten sich mir wiederholt Gelegenheiten, mit ihm aufschlussreiche Gespräche zu führen, so auch kurz bevor er unwiderruflich von uns ging. Die abermalige Begegnung war sein eindringlicher Wunsch, obwohl er bereits auf dem Sterbebett lag und sich zusehends anschickte, dem Irdischen endgültig Adieu zu sagen.

      Unser Gedankenaustausch wandelte sich allerdings beizeiten zum Monolog, indem ich aufmerksam zuhörte, was der auserlesen gütige, jedoch todkranke Kamerad während seiner letzten Stunden noch unbedingt kundtun wollte.

      Er sprach zwar leise, trotzdem klar und verständlich, auch nicht im Geringsten wehklagend. Dabei betonte Peter, dass er gerne noch einige Jahre mitgemacht hätte, schon allein deshalb, um die redlich verdiente Seniorenzeit mit seiner lieben Veronika weiterhin zu genießen. Aber es sollte eben nicht sein. Dennoch wäre er nicht unzufrieden mit seiner Lebensgestaltung, weil ihm und seinen Angehörigen der Grundsatz „Nutze den Tag, er kehrt nicht wieder!“ stets ein wichtiger Begleiter war. Mit besonderer Genugtuung erfülle ihn die feste Zuversicht, dass seine Frau auch als Witwe in fast allen Belangen bestens zurechtkäme, da sie gottlob im hohen Maße eigenständig sei. Dessen ungeachtet hätte er nichts dagegen, fügte er zaghaft hinzu, wenn sie sich später einen anderen Mann suchte, mit dem sie glücklich wäre. Ergo könne er auch hierauf einigermaßen beruhigt bei Petrus anklopfen. Es bliebe ihm ja sowieso nichts weiter übrig, als die Segel für immer zu streichen. Demgemäß gehe er in Frieden mit sich und der Welt, lauteten seine warmherzigen Worte.

      Obwohl ich von ihm nichts anderes erwartet hatte, war ich doch aufs Angenehmste berührt. Danach beobachtete ich jedoch gespannt, wie sich auf seiner Stirn auffallend Sorgenfalten bildeten, die mir aus früheren Zeiten durchaus vertraut waren. Mithin hatte ich den Eindruck, als wollte Peter noch etwas Außergewöhnliches, vielleicht sogar ein anhaltend streng behütetes Geheimnis meiner Obhut übertragen, um sein Herz zu erleichtern. Und tatsächlich flüsterte er nach längerem Zögern mit größter Anstrengung drei Worte in mein Ohr. Sie lauteten: „Sohn…Abel…Elbmonster“. Deren Sinn habe ich allerdings nicht begriffen.

      Umso mehr hoffte ich beschwörend, er könne einiges hinzufügen, damit ein Zusammenhang entstünde, der mir zumindest eine gewisse Deutung ermöglicht hätte. Aber dazu kam es nicht mehr, denn seine Kräfte waren erschöpft. Schließlich vernahm ich auf seinem Antlitz, das bereits den nahenden Tod spüren ließ, eine besonders ausdrucksstarke Veränderung, die sich auf seinen Lippen unverkennbar zu einem dankbaren Abschiedslächeln formte. Und mir war klar, darin offenbarte sich zugleich der letzte Gruß eines wahrhaft edlen Freundes.

      Ich zog leise davon. Doch etwas Rätselhaftes, vorerst noch stark nebulös, blieb in meinem Inneren haften, denn ich konnte mir trotz ernsthaften Grübelns keinen passenden Reim darauf machen, was er mir noch anvertrauen wollte.

      Tags darauf war es mit Peter vorbei. Geist und Seele glitten ins Jenseits. Nur seine leibliche Hülle befand sich weiterhin in unserer Nähe, und die sollte uns bald geheimnisumwittert aufhorchen lassen, ein Ereignis, das ich garantiert niemals vergessen werde.

      Ungeachtet seines erwarteten Ablebens und der Erlösung vom grauenhaften Leiden wurde seine Witwe, unsere großartige Gefährtin Veronika, mehr denn je von zermürbender Trauer geplagt. Gewiss, ihr blieben die fürsorglichen Kinder und deren ebenso tüchtigen Partner, dazu eine wohltuende Schar von liebenswürdigen Enkeln und nicht zuletzt der vielfach bewährte Freundeskreis. Doch all das zusammen ersetzte nicht jene beflügelnde Energie einer harmonischen Lebensgemeinschaft, die sich fortwährend aus innigster Zuneigung und respektvollem Umgang miteinander nährte.

      Zu allem Unglück sollte sich der erste Teil des Abschiedsrätsels, ein unvermutet bizarres Geheimnis meines Freundes Peter, welches er notgedrungen auch mir gegenüber bis zu seinem Tod hinaus bewahrte, schon nach einer Woche lüften. Die wundersame Szene war nicht nur für mich eine handfeste Überraschung. Auf seine Frau und die anderen Familienangehörigen wirkte sie regelrecht schockierend und niederschmetternd.

      Was war geschehen?

      Die Trauerfeier für den Dahingeschiedenen fand in einem relativ großen Raum statt, der sich zusehends füllte. Unmittelbar vor Beginn der Zeremonie, als die Anwesenden schon Platz genommen hatten, öffnete sich nochmals die Eingangstür. In Begleitung eines jungen Mannes trat eine sichtlich ältere Dame herein. Wir trauten unseren Augen nicht. Die Verwunderung steigerte sich mit jedem Schritt, den die beiden Fremden in Richtung des Verstorbenen machten, weil sie dadurch noch klarer ins Blickfeld rückten. Sie verneigten sich gleichsam im Zeitlupentempo ehrfurchtsvoll vor dem Bildnis und Sarkophag des Entschlafenen. Danach wendeten sie sich ebenso bedächtig zum Publikum, blieben vorne stehen und suchten gezielt nach freien Plätzen. Jetzt befanden sie sich vollends im Sichtbereich aller Teilnehmer. Ein deutliches Raunen belebte den Saal, ausgelöst durch eine gespenstische Szene. Sie hatte den Anschein, als wäre der Tote wieder zum Leben erwacht, heimlich dem Sarg entstiegen und stünde nun um Jahrzehnte verjüngt vor all den Menschen, die um ihn trauern. Ein unsäglich rätselhaftes und daher abgründig beklemmendes Bild, das sämtliche Anwesende sofort in seinen Bann zog, denn es war kein Gespenst, sondern eine reale Person.